Wählen unter dem Kruzifix

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Deutschland hat gewählt. Zehntausende Bürgerinnen und Bürger, die am Sonntag ein Wahllokal aufsuchten, um über die Sitzverteilung im neuen Bundestag abzustimmen, mussten ihren Stimmzettel in Räumen mit christlicher Symbolik ausfüllen. Selbst Kirchen werden zu Wahllokalen umfunktioniert.

Fotos in den Medien zeigen die Spitzenkandidaten der Parteien bei der Stimmabgabe – so auch Hubert Aiwanger in seinem Wahllokal im oberbayerischen Inkofen. Am Sonntagmorgen, noch guter Dinge, wirft er seinen Stimmzettel in die Wahlurne. Wer das Foto genauer betrachtet, sieht nicht nur sein weißes Hemd und die akkurat gebundene Krawatte des Chefs der Freien Wähler, sondern auch ein geschnitztes Holzkreuz mit dem gekreuzigten Jesus, das über seiner rechten Schulter an der Wand hängt.

Vor allem in Bayern, aber auch in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen gibt es zahlreiche Wahllokale, an deren Wänden Kreuze befestigt sind, mal als schlichte Variante, mal als "Balkensepp" mit der Darstellung des Gekreuzigten, um einen berüchtigten taz-Sprachduktus zu zitieren. Doch nicht nur die Kreuze sorgen mancherorts für Irritationen: In manchen Fällen dienen Kirchen sogar als Wahllokale, wie etwa die Stuttgarter Frauenkopfkirche oder ein Gemeindehaus im Stuttgarter Süden. Die Begeisterung von Pfarrerin Vinh-An Vu wird allerdings nicht von allen geteilt: "Ich finde es gut und wichtig, dass die Frauenkopfkirche als Wahllokal dient. Damit zeigt sie sich als offene Gastgeberin und Dialogpartnerin in einer politischen Entscheidungsfindung, wie es mit unserem Land weitergeht."

Religiöse Neutralität und rechtliche Grauzonen

Wie lässt sich diese Praxis mit der im Grundgesetz verankerten religiösen Neutralität des Staates vereinbaren? Und was bedeutet sie für die Trennung von Staat und Kirche im Kontext einer Bundestagswahl? Paragraf 32 des Bundeswahlgesetzes formuliert hierzu unmissverständlich: "Während der Wahlzeit sind in und an dem Gebäude, in dem sich der Wahlraum befindet, sowie unmittelbar vor dem Zugang zu dem Gebäude jede Beeinflussung der Wähler durch Wort, Ton, Schrift oder Bild sowie jede Unterschriftensammlung verboten."

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Kirchen und Klassenzimmer mit Kreuzen oder Kruzifixen als Wahllokale geeignet sind. Laut Paragraf 46 der Bundeswahlordnung liegt es im Ermessen der Gemeinden und Städte, geeignete Wahlräume auszuwählen: "Die Wahlräume sollen nach den örtlichen Verhältnissen so ausgewählt und eingerichtet werden, dass allen Wahlberechtigten, insbesondere Menschen mit Behinderungen und anderen Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung, die Teilnahme an der Wahl möglichst erleichtert wird." Darüber, ob sich auch Kirchen als Wahllokal eignen, schweigt die Bundeswahlordnung. Fest steht: Sakrale Wahlräume sind keine Seltenheit: So wurden im Stadtstaat Bremen bei der Bundestagswahl in diesem Februar in 17 Kirchen und Gemeindehäusern Stimmen abgegeben.

Religiöse Symbole als "Zimmerschmuck"?

Darf man sich über religiöse Symbole im Wahllokal beschweren oder deren Abnahme fordern? Die Stadt Dortmund hat dazu eindeutig Stellung bezogen: "Einige Wahlräume sind in Kirchen oder anderen Gemeinden eingerichtet. Es ist durchaus möglich, dass dort religiöse Symbole (wie z.B. Kreuze) aufgehängt sind. Diese dürfen jedoch keinesfalls entfernt werden. Sollten Wähler sich dadurch gestört fühlen und sich bei Ihnen beschweren, so können Sie ohne Bedenken mitteilen, dass die Symbole als 'Zimmerschmuck' keine Wählerbeeinflussung darstellen und nicht entfernt werden müssen."

Es soll dahingestellt bleiben, ob sich Markus Söder und viele Gläubige darüber freuen, dass christliche Kreuze als "Zimmerschmuck" und "Gebäudedekoration" zum Inventar gehören. Die hessische Landeswahlleitung sieht aus genau diesen Dekorationsgründen keine unzulässige Beeinflussung, und die saarländische Landeswahlleitung verweist darauf, dass eine Wählerin oder ein Wähler nur wenige Minuten in einem Wahllokal verbringt, so dass von keiner nachhaltigen Beeinträchtigung ausgegangen wird.

Die Frage der Neutralität

Kirchen mischen sich regelmäßig in politische Debatten ein, kritisieren Parteien oder prangern Missstände an – was ihr gutes Recht ist. Doch bleibt unter diesen Voraussetzungen fraglich, ob Kirchen und Gemeinderäume wirklich als neutrale Wahllokale geeignet sind. Könnte die Bundestagswahl durch einen Verweis auf Paragraf 32 des Bundeswahlgesetzes aufgrund dieser Symbolik sogar anfechtbar sein? Hierzu müsste beim Bundestag eine Wahlprüfung beantragt werden. "Bleibt das Wahlprüfungsverfahren ohne Erfolg, kann Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden", so die Bundeswahlleiterin.

Um derartige Kontroversen zu vermeiden, wäre – den nötigen politischen Willen vorausgesetzt – eine Lösung denkbar einfach: Städte und Gemeinden könnten darauf verzichten, christliche Gebäude als Wahllokale zu nutzen. Schließlich wird auch kein Bundesbürger gezwungen, seine Stimme in einer Moschee, Synagoge oder einem muslimischen beziehungsweise jüdischen Gemeindezentrum abzugeben. Bei Wahllokalen in Schulen wäre es zudem ein Leichtes, vorhandene Kreuze und andere religiöse Symbole abzuhängen und so eine religionsneutrale Atmosphäre zu schaffen. Damit wäre gewährleistet, dass alle Wahlberechtigten ihre Stimme frei von konfessionellem Einfluss abgeben können – auch Hubert Aiwanger.„"

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