BERLIN. (hpd) Anlässlich des „Welttierschutztages“ veranstaltete das Bündnis Tierschutzpolitik einen Abend für seine Forderung nach einer Forschung ohne Tierversuche. Eine Neurobiologin wagte sich in die Höhle des Löwen, formuliert eine detaillierte Selbstbesinnung und fordert eine begriffliche Neuordnung. Es ist mehr Nachdenklichkeit angesagt. Auf beiden Seiten.
Zum „Welttierschutztag", der erstmals am 24. April 1979 in Großbritannien begangen wurde und auf den Geburtstag von Lord Hugh Dowding zurückgeht, der sich im Britischen Oberhaus für den Tierschutz einsetzte, veranstaltete das Bündnis Tierschutzpolitik Berlin in Kooperation mit der Urania Berlin am vergangenen Mittwoch eine unterhaltsame Mischung aus Kochshow und Podiumsdiskussion zum Thema: „Forschung Ja - Tierversuche Nein! Einblicke und Ausblicke in eine Forschung ohne Tierversuche.“
Gleich zu Anfang möchte ich bekennen, dass ich Tiere töte, um ihr Nervensystem zu erforschen. In meinem Fall sind das meine Modellorganismen Fruchtfliege und Honigbiene. Ich tue dies nicht, weil ich mich für die Krone der Schöpfung halte (Gen 1, 27-28) oder schon als kleines Mädchen gerne Frösche aufgeblasen habe. Ich mache das, weil es für meine wissenschaftliche Fragestellung notwendig ist und mir wissenschaftliche Fakten über Schmerzbewusstsein und psychische Leidensfähigkeit bei Insekten nicht bekannt sind (1). Sollte eines Tages erkannt werden, dass auch Fruchtfliegen meine Behandlungen ganz bewusst als quälend empfinden können, werde ich nicht nur den Modellorganismus wechseln, sondern mich persönlich gegen die bekanntesten Fruchtfliegentötungsgeräte einsetzen: klebrige Fliegenfänger und Windschutzscheiben.
Vivisektion?
Vor dem Einsteinsaal der Urania Berlin wurde ich gleich um eine Unterschrift gegen Vivisektion gebeten. Vivisektion? Das kenne ich aus dem Bereich „Wissenschaftsgeschichte“ und assoziiere damit längst verbotene Operationen an unbetäubten Fröschen, um deren lebenden Organen bei der Arbeit zuzusehen. Das unterschreibe ich sofort, aber in welchen wissenschaftlichen Instituten wird so etwas denn noch praktiziert, mal ganz abgesehen von der religiösen Schächtung? „Überall in Europa und in Deutschland!“ erfahre ich von der engagierten Unterschriftensammlerin. „Ach was, echt? Aber was und vor allem wo denn genau?“, will ich wissen. „Da werden Kaninchen ätzende Säuren in die Augen geträufelt, z. B.“ Aber dieser Zulassungstest für Chemikalien ist doch schon längst ein Auslaufmodell und außerdem keine Vivisektion. Oder doch?
Ich will wissen, ob ALLE Tierversuche, also auch verhaltensbiologische, in denen den Tieren vielleicht eine Blutprobe abgenommen wird, unter „Vivisektion“ zusammengefasst werden und erhalte als Antwort ein ganz klares „Ja!“, dazu verblüffte, weit geöffnete Augen. Ich entschuldige mich, aber so eine polemisierende Begrifflichkeit kann ich beim besten Willen nicht unterschreiben, obwohl ich gegen das Aufschneiden von unbetäubten Wirbeltieren bin, wie es in der modernen Schlachtung z. B. passiert, ob gewünscht (Schächtung) oder versehentlich (verrutschter Bolzenschuss). Aus diesem Grund habe ich mich auch vor zwei Jahren für eine (bis auf wenige Ausnahmen) vegane Lebensweise entschieden, deswegen muss ich aber noch lange keine Begriffe überstrapazieren.
Im Publikum sind auffällig viele junge Leute (was in der Urania als Bildungseinrichtung schon irgendwie auffällt). Hinter mir tauscht man sich über empfehlenswerte vegane Restaurants aus und manche T-Shirts sind mit Aufschriften gegen Milchkuhhaltung bedruckt. In der Einkaufstüte meiner Sitznachbarin erspähe ich aber auch den Heringssalat von „Gut und Günstig“. Auf der Bühne ist eine Art Mini-Labor mit Pipetten und Spritzflaschen aufgebaut. Das verspricht spannend zu werden und erinnert an diese neuen Wissenschaftsshows im Fernsehen mit Ranga Yogeschwar oder Jean Pütz.
Dr. Ingolf Ebel, Urania-Fachbereichsleiter für Grenzfragen aus Wissenschaft und Forschung leitet die Veranstaltung ein. Er betont dabei das gemeinsame grundlegende Interesse der Urania und des Bündnis Tierschutzpolitik Berlin, weist aber auch darauf hin, dass die Urania eine breite Palette an wissenschaftlichen Erkenntnissen anbietet (also auch aus medizinischen Feldern, in denen Tierversuche durchgeführt werden … muss man sich die Aussage zu Ende denken). Auf dem Podium finden sich die drei Gesprächsgäste ein und die Moderatorin Ines Krüger, deren Gesicht ich aus dem Fernsehen kannte. Sie ist Vorstandsmitglied im Tierschutzverein für Berlin und Umgebung und Berlins erste Tierschutzbotschafterin. Unter den Gästen sind Dr. Manfred Liebsch, der an alternativen Testmethoden für Chemikalien arbeitet, Dipl. Biol. Kristina Wagner, Fachreferentin für Alternativmethoden zu Tierversuchen von der Tierschutzakademie und Rolf Kemper, Rechtsanwalt für Fragen des Tierschutzes. In der ersten Reihe sind ebenfalls bekannte Gesichter der Tierschutzszene vertreten, wie z. B. die Tierschutzpolitische Sprecherin der Berliner Grünen Claudia Hämmerling.
Arten der Tierversuche
Im Laufe des Abends werden fünf Arten von Tierversuchen besprochen oder erwähnt (in Klammern der jeweilige Anteil an der Gesamtmenge an Versuchstieren (2)): Diagnose von Krankheiten (0,6 %), toxikologische Untersuchung bei Zulassungsbehörden (1,8 %), Lehre (1,9 %), und das mit Abstand größte Feld: Grundlagenforschung (67,6 %). In der Kosmetik sind Tierversuche seit 2004 EU-weit verboten.
Zuerst also die Frage nach den transgenen Mäusen, die mit gezielt verändertem Erbgut gezüchtet werden um den Einfluss bestimmter Gene auf Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer zu untersuchen. Die Diplom-Biologin Kristina Wagner erklärt, dass für die Zucht einer solchen Maus viele Elterntiere und Geschwister benötigt werden, wobei diese aber selber für die Forschung irrelevant sind und daher als „Kollateralschaden“, wie Claudia Hämmerling zitiert wird, getötet werden. In der Statistik tauchen diese züchtungsbedingten Mäuse aber nicht auf, da sie gar nicht im Zielversuch landen. Frau Hämmerling schätzt, dass es sich also nicht um die offiziell bezifferten 375.000 sondern 1,2 Mio. Versuchstiere (also vor allem Mäuse) im Jahr 2011 handelte. Die genmanipulierten Tiere entwickeln z. B. schwerwiegende Missbildungen der Augenhornhaut und dienen damit als Tiermodell, um Ursache und Verlauf der jeweiligen Krankheit zu untersuchen. (3)
In der Lehre würde man mehr und mehr auf z. B. digitale Alternativen setzen und auf Wirbeltiere größtenteils verzichten. In der Toxikologie hätten sich Alternativen zu den klassischen Tierversuchen größtenteils durchgesetzt, so dass der sogenannte LD50- sowie der Draize-Test mehr und mehr verzichtbar werden.
„Bühne frei!“ für Dr. Liebsch und sein mobiles Labor
Dr. Manfred Liebsch arbeitete selber einige Jahre am Laboratorium für Pharmakologie und Toxikologie, Hamburg, wo er den Draize-Test durchführte, für den Kaninchen Chemikalien in die Augen getröpfelt werden und die Reaktion des Gewebes auf ihre Toxikologie bewertet wird. Dann wechselte er aber die Seiten und forscht seit 1990 am ZEBET („Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch“). Seit 2002 ist der in den 80er Jahren entwickelte „HET-CAM“ Test (Hühner-Ei-Test-(an der) Chorion Allantois Membran) in Europa zur Vorhersage starker Augenschäden anerkannt.
In einer sehr unterhaltsamen und dabei kompetenten Art führte der sympathische Wissenschaftler nun mit Kamera und Laptop vor, wie einfach es ist, am Hühnereiembryo einen Toxikologietest durchzuführen. Mit an den Zahnarzt erinnernden Bohrergeräuschen öffnete er ein bebrütetes Hühnerei, legte die feine Aderhaut frei und beträufelte sie mit einer 10prozentigen Salmiaklösung. Jeder im Saal konnte dank der Mikroskopiekamera auf der Leinwand verfolgen, wie die feinen Äderchen langsam platzen und das Blut heraus quoll. Für einige im Saal allerdings schon eine Zumutung, wie sich bei dem aufkommenden Raunen im Auditorium und den Publikumsfragen am Ende der Veranstaltung herausstellte. Immerhin würde da ganz grundlos ein Embryo geopfert. Dr. Liebsch nahm diese Kritik sehr bereitwillig an (er hörte sie bestimmt nicht zum ersten Mal), wies aber auf das frühe Embryonalstadium und damit auf das noch unentwickelte Schmerzempfinden hin und betonte, wie eindrucksvoll seine Vorführungen auf die Menschen bisher immer waren.
Gehalten werden die Bio-Hühner übrigens in Kleingruppen mit der Möglichkeit zum Scharren. Neben dem HET-CAM gibt es auch den Augentest, für den man Rinderaugen aus Schlachthöfen verwendet (hier raunt es auch aus dem Saal, weil man dafür ja Schlachthäuser braucht), Tests an Hautzellkulturen, von denen es vier verschiedene anerkannte Hautmodelle gibt und Tests an der Hämolymphe des Pfeilschwanzkrebses (LAL-Test). Der Draize-Test würde also nur noch genommen, um wirklich zu zeigen, dass keine toxikologische Gefahr mehr besteht.
Warum setzen sich diese Alternativmethoden nun aber EU-weit so langsam durch (beim HET-CAM immerhin 17 Jahre)? Laut Dr. Liebsch ist das prinzipielle Problem, dass die Protokolle EU-weit erst anerkannt werden, nachdem sie in alle 27 EU-Sprachen übersetzen worden sind. Und das, obwohl die jeweiligen Institute dann vorzugsweise doch auf den englischen Text zurückgreifen.
Grundlagenforschung
Den größten Verbrauch an Tieren für Forschungszwecke (offiziell spricht man also nicht von Vivisektion) weist aber die Grundlagenforschung auf. Hier wird alles an naturwissenschaftlicher Forschung zusammengefasst, was nicht zwingend in einer klinischen Therapie münden soll.
Der Rechtsanwalt der Runde, Rolf Kemper, wird hier zur Rolle des Tierschutzes im Grundgesetz befragt. Seit 2002 steht der Tierschutz nämlich im Grundgesetz und ist damit ein Staatsziel. Dort kämpft es nun nicht mehr auf einer Ebene mit Sachbeschädigung sondern mit der wissenschaftlichen Freiheit. Diese wiederum ist aber auch ein Grundrecht, so wie die Presse-, Religions- oder Kunstfreiheit. Obwohl der Tierschutz letzten Endes zu Recht doch höher bewertet wird als die Kunstfreiheit. Schwierig ist auch die Übertragungsrate vom Tiermodell auf den Menschen zu bewerten. Auf acht Prozent wird sie von einer OECD-Studie geschätzt, aber wie sie berechnet wird, ist keinem so richtig klar.
Podiumsgäste einig, dass kein Tierversuch ethisch vertretbar sei
Sowieso hätte uns die gesamte Grundlagenforschung der letzten Jahrzehnte kein Stück voran gebracht: Es gäbe immer noch kein Mittel gegen die großen Geißeln der Menschheit: Krebs, AIDS oder psychische Krankheiten. Unerwähnt bleibt aber der große wissenschaftliche Erkenntnisgewinn aus der Forschung zur Genregulierung und damit der Ursache und dem Verlauf vieler Krankheiten. Auch, wenn wir immer noch keine „magic bullets“ haben, verfügen wir mittlerweile über die Möglichkeit, den Krebs früh zu erkennen und ihn dann auch erfolgreich zu bekämpfen. Zudem erkennen wir mehr und mehr, wie komplex die Genregulation eigentlich ist. Es ist doch phänomenal zu begreifen, wie aus einer Zelle ein kompletter Organismus wächst und sich im Laufe seines Lebens anpasst und verändert. Bei aller rechtmäßigen Kritik an der modernen Forschung: Niemand kann uns heute noch weismachen, dass es sich bei Krankheiten um einen göttlichen Fluch handelt oder eine Verschiebung des Säftehaushaltes. Wissenschaft ist auch gesellschaftliche Aufklärung.
Auflagen für Tierhaltung
Ich vermute mal, dass ein Großteil der Uraniabesucher vor der Veranstaltung noch einen Kaffee mit Milch getrunken hat oder danach in seinen Lederschuhen nach Hause gegangen ist, vielleicht noch eine Currywurst oder ein Käsebrot am Wittenbergplatz gegessen hat. Nirgends sind die Auflagen für Tierhaltung strenger als in der Forschung. Jeder kann seinen Hund zu Hause quälen, ohne dass dies ein Beamter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin (LAGeSo) regelmäßig überprüft. Für Leder aus artgerechter Tierhaltung gibt es nicht mal ein Gütesiegel und bei den miserablen Bedingungen in der Milchviehhaltung wird von den zuständigen Veterinärämtern immer wieder gern ein Auge zugedrückt. Kein Tier darf in der Forschung ohne eine geprüfte Betäubung, wie sie auch bei Operationen am Menschen zum Einsatz kommen, getötet werden, da gibt es keine Bolzenschüsse oder Elektroschockmethoden. Selbst der Genickbruch bei Mäusen ist ethisch doch wohl eher vertretbar als das Verfüttern lebendiger Mäuse an Schlangen, was überhaupt nicht kontrolliert wird (naja, wie auch …). Um einer Nachtigall eine Blutprobe zu entnehmen, bedarf es einer langen Bewilligungsprozedur, für das Coupieren von Ferkelschwänzen nicht.
Tierschützer reden immer von den „Tieren“. Biologen rechnen zum Tierreich eigentlich alles, was einen Zellkern hat, sich aber nicht durch Photosynthese ernährt und kein Pilz ist. Welche dieser Lebewesen sind nun aber in einer Art leidensfähig, die für einen Schutz hinreichend wäre, ja, ihn einfordert?
Vergleichender Ansatz der Verhaltensbiologie
Gerade als Verhaltens- und Neurobiologin interessiere ich mich doch für die evolutionäre Herkunft und die Funktion von Verhalten im Tierreich. Mit dem vergleichenden Ansatz der Verhaltensbiologie sucht man aber nicht nur nach Gemeinsamkeiten, sondern auch nach Unterschieden, mit denen die Lebewesen den jeweiligen ökologischen Nischen angepasst wurden.
Im (mehrzelligen) Tierreich sind die einzigen mehr oder weniger distinkten Einheiten die verschiedenen Arten, die untereinander kein Erbgut austauschen und somit keine fruchtbaren Nachfahren zeugen. Abgesehen davon haben wir es immer mit einem Kontinuum zu tun und verdanken die Kategorien „Mensch“ und „nichtmenschliches Tier“ nur der Tatsache, dass unsere Vorfahren bis hin zu dem gemeinsamen Ahnen aller Menschenaffen (meines Wissens) ausgestorben sind. Aus erkenntnistheoretischer Sicht weiß (oder fühle) ich nur, dass ich selbst subjektiv Schmerzbewusstsein habe. Aus dem Verhalten meiner Mitmenschen folgere ich per Analogieschluss, dass sie ebenso wie ich empfinden (obwohl sie auch perfekte Automaten sein könnten, die sich nur so verhalten als ob sie ein Schmerzbewusstsein hätten). Unsere nächsten Verwandten, die großen Menschenaffen, sind uns in ihrem sozialen Verhalten so sehr ähnlich, dass wir schlussfolgern sollten, dass auch sie über ein ethisch relevantes Schmerzbewusstsein verfügen. Vielleicht nicht das gleiche, wie die Menschen, aber eines, das ihnen bestimmte Grundrechte garantieren sollte. Daher unterstütze ich auch das von Peter Singer und Paola Cavalieri ins Leben gerufene und von der Giordano-Bruno-Stiftung wiederbelebte „Great Ape Project“.
Leidensfähigkeit
Leidensfähig sind Lebewesen, wenn sie über ein bestimmten (ontologischen und evolutionären) Entwicklungsstand des Nervensystems und eine biologische Lebenserwartung verfügen, für die ein Schmerzgedächtnis relevant ist. Polypen haben ein einfaches Nervennetz, bei Insekten hingegen gibt es Konzentrationen von Nervenzellen, die Ganglien, und Wirbeltiere haben ein zentrales Nervensystem, das Gehirn. Menschliche Embryos in der achten Schwangerschaftswoche stehen damit übrigens ethisch noch unter einem Polypen.
Es gibt sehr gute Evidenzen, dass Säugetiere eine Form von Schmerzbewusstsein haben, die einen speziellen Umgang mit ihnen nötig macht. (4) Von Fruchtfliegen wissen wir, dass sie lernen, unangenehme Reize zu vermeiden (5), aber haben sie ein Bewusstsein dafür oder reagieren sie einfach nur, wie bei einem Reflex? Und, wenn man die dafür nötige Reizweiterleitung mit Analgetika ausschaltet, also betäubt und einen schmerzfreien Tod herbeiführen kann? Hat das Tier dennoch ein Recht zu leben?
Schmerzfreie Tiertötung
Der Inhaber des deutschlandweit einzigen Lehrstuhls für Tierethik, Prof. Jörg Luy von der Freien Universität Berlin hat dem Thema der schmerzfreien Tiertötung seine Dissertation gewidmet, in der er alle relevanten moralphilosophischen Texte in einem Streifzug durch die Philosophiegeschichte zur Tiertötung beleuchtet. Am Ende kommt er zu dem Schluss, „dass das dem Menschen zur Verfügung stehende moralische Bewertungsverfahren nicht auf die Tötungsfrage anwendbar ist. Die angst− und schmerzlose Tiertötung (ohne Einbeziehung Dritter), als konkretes Beispiel für das abstrakte Problem der Tötungsfrage, ist aus diesem Grund weder wünschenswert noch unmoralisch sondern unerwarteterweise ohne moralischen Status.“
Mit der „Einbeziehung Dritter“ sind hier die Interesses eines tierischen oder menschlichen Angehörigen, den das Töten einen Tieres quälen könnte, gemeint. Ist das der Fall bei Mäusen? Trauern sie so sehr um einen gequälten oder verstorbenen Artgenossen, dass es sich um einen psychischen Schmerz handelt? Einigen Mausfans zufolge schon. Wenn Mäuse aber so einfühlsam sind, so leidensfähig, so intelligent und aufopfernd, warum habe ich dann (außerhalb der bekannten Trickfilmfiguren) noch nie etwas von einem Mäuseaufstand in einem Labor gehört? Wie fühlt es sich an, ein trauerndes Nagetier zu sein? (6) Wir werden, ja, können es nicht wissen. Wer ist nun aber in der Beweisschuld – der Mensch oder die Maus?
Prof. Luy beendet seine Dissertation mit den Worten: „Infolgedessen sollte sie [die schmerzfreie! Tiertötung] eigentlich weder gefördert noch verboten werden. Es scheint indirekt jedoch trotzdem geboten zu sein, die Legalität der Tiertötung vom Vorhandensein eines ‘vernünftigen Grundes’ abhängig zu machen.“
Warum können uns die Mäuse nicht einfach mitteilen, wie sie behandelt werden möchten! Oder anders: Warum haben wir es immer noch nicht geschafft, ihnen zuzuhören? Im Falle der großen Menschenaffen gab es ja schon ein paar erstaunliche Fortschritte auf dem Gebiet der Mensch-Tier-Kommunikation. (So kann sich der Bonobo-Schimpanse Kanzi mittels einer Symboltastatur sinnvoll mitteilen und englische Sprache begrenzt verstehen. Die Schimpansin Washoe† und der Gorilla Koko können einige Gebärdensprachensymbole verstehen und selber formulieren.)
Interessanterweise galten in der Kulturgeschichte der Menschheit taube Menschen auch lange als minderbemittelt, bis man endlich eine Form der Kommunikation über Zeichensprache gefunden hatte.(7) Aber kann man Schmerzbewusstsein überhaupt direkt nachweisen? Wir können ja nur indirekte Schlussfolgerungen aus dem Verhalten und der Physiologie schließen …
Fazit
Wie man es dreht und wendet: Am Ende bleibe ich eine abschließende und konkrete Meinung wohl doch schuldig. Das Thema wird mich weiterhin wurmen.
Um aber in einer Gesellschaft von Forschern und Tierschützern mit gemeinsamen und gegenteiligen Interessen Beschlüsse zu entscheiden, was „vernünftige Gründe“ sind, muss die Debatte unbedingt auf der Basis relevanter Argumente sachlich, fair und mit klar definierten Begriffen geführt werden. Forscher sollten sich nicht allein auf ihr uneingeschränktes Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit berufen, denn das steht immer noch unter ethischen Richtlinien. Sie sollten bei der Planung von Tierversuchen auch weniger ihre persönliche Karriere, als vielmehr dessen wissenschaftlichen Wert utilitaristisch gegen das womöglich entstehende Leid abwägen. Dazu sollten sie auch in Ethikkursen ausgebildet werden, die leider immer noch kein Pflichtfach in den Biowissenschaften sind.
Tierschützer sollten konkreter benennen, was sie meinen, wenn sie von „Vivisektion“ oder dem „sinnlosen Töten eines Hühnerembryos“ dem „Recht auf Leben“ reden oder dem viel zitierten Lebensmotto von Albert Schweizer über „Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will“. Leben tun nämlich auch Weizen und Bakterien und die schützt auch keiner (außer vor Genmanipulation). Auch wenig hilfreiche religiöse Begriffe wie die oft proklamierte „Bewahrung der Schöpfung“ sollten endlich aus der Debatte verschwinden. Die Meinung der verschiedenen vermeintlichen „Schöpfer“ gehen beim Thema Tierschutz nämlich auch sehr auseinander. Das Thema sollte daher auch kein Gebiet der Moraltheologie sein, es sollten stattdessen weitere Lehrstühle für Tierethik eingerichtet werden.
Außerdem müssten Tierversuchsgegner verstehen, dass man nicht alle Versuche, die der Erforschung des Lebens dienen, mit Zellkulturen oder Rinderaugen ersetzen kann.
Adriana Schatton
Fotos:
Dr. Liebsch / Tierschutzverein für Berlin
Great Ape Project / Jutta Hof
Anmerkungen
(1) Eisemann et al. 1984 „Do insects feel pain?”, Cellular and Molecular Life Sciences 40: 1420-1423.
(2) Die Zahlen stammen aus dem Tätigkeitsbericht 2012 des Tierschutzbeauftragten
(3) Als Beispiel: MP Lenhardt „cDNA-microarrayanalyse zur Genregulation in der Kornea von TGF -β1 transgenen Mäusen“ (2011)
(4) Pierre Le Neindre, Raphaël Guatteo, Daniel Guémené, Jean-Luc Guichet, Karine Latouche, Christine Leterrier, Olivier Levionnois, Pierre Mormède, Armelle Prunier, Alain Serrie, Jacques Servière (editors), 2009.
AnimalPain: identifying, understanding and minimising pain in farm animals. Multidisciplinary scientific assessment, Summary of the expert report, INRA (France), 98 Seiten
(5) Björn Brembs „Operant conditioning in invertebrates“ (2003)
(6) In Analogie zu Thomas Nagels berühmten epistemologischen Aufsatz „What Is it Like to Be a Bat?“ in: The Philosophical Review 1974.
(7) “Since deaf were not able to speak intelligibly, they were not seen as humans that received Gods spirit, rather than people closer to animals or machines as Bernard Le Bovier de Fontenelle wrote in 1703." (p.414)
Presneau, J.-R. (1993). The Scholars, the Deaf and the Language of Signs in France in the 18th Century. In R. Fischer & L. Harlan (Eds.), Looking Back. A Reader on the History of Deaf Communities and their Sign Languages (Vol. 1703, pp. 413 – 421). Hamburg: Signum Verlag.