Eine Neurobiologin trifft auf Tierschützer

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Podiumsdiskussion / Foto: TVG Berlin

BERLIN. (hpd) Anlässlich des „Welttierschutztages“ veranstaltete das Bündnis Tierschutzpolitik einen Abend für seine Forderung nach einer Forschung ohne Tierversuche. Eine Neurobiologin wagte sich in die Höhle des Löwen, formuliert eine detaillierte Selbst­besinnung und fordert eine begriffliche Neu­ordnung. Es ist mehr Nach­denk­lichkeit angesagt. Auf beiden Seiten.

Zum „Welttierschutztag", der erstmals am 24. April 1979 in Großbritannien begangen wurde und auf den Geburtstag von Lord Hugh Dowding zurückgeht, der sich im Britischen Oberhaus für den Tier­schutz einsetzte, veranstaltete das Bündnis Tier­schutz­politik Berlin in Kooperation mit der Urania Berlin am vergangenen Mittwoch eine unterhalt­same Mischung aus Kochshow und Podiums­diskussion zum Thema: „Forschung Ja - Tier­versuche Nein! Einblicke und Ausblicke in eine Forschung ohne Tier­versuche.“

Gleich zu Anfang möchte ich bekennen, dass ich Tiere töte, um ihr Nerven­system zu erforschen. In meinem Fall sind das meine Modell­organismen Frucht­fliege und Honig­biene. Ich tue dies nicht, weil ich mich für die Krone der Schöpfung halte (Gen 1, 27-28) oder schon als kleines Mädchen gerne Frösche aufge­blasen habe. Ich mache das, weil es für meine wissen­schaftliche Frage­stellung notwendig ist und mir wissen­schaftliche Fakten über Schmerz­bewusst­sein und psychische Leidens­fähigkeit bei Insekten nicht bekannt sind (1). Sollte eines Tages erkannt werden, dass auch Frucht­fliegen meine Behand­lungen ganz bewusst als quälend empfinden können, werde ich nicht nur den Modell­organismus wechseln, sondern mich persönlich gegen die bekanntesten Frucht­fliegen­tötungs­geräte einsetzen: klebrige Fliegen­fänger und Wind­schutz­scheiben.

Vivisektion?

Vor dem Einsteinsaal der Urania Berlin wurde ich gleich um eine Unterschrift gegen Vivisektion gebeten. Vivisektion? Das kenne ich aus dem Bereich „Wissen­schafts­geschichte“ und assoziiere damit längst verbotene Operationen an unbetäubten Fröschen, um deren lebenden Organen bei der Arbeit zuzusehen. Das unterschreibe ich sofort, aber in welchen wissen­schaftlichen Instituten wird so etwas denn noch praktiziert, mal ganz abgesehen von der religiösen Schächtung? „Überall in Europa und in Deutschland!“ erfahre ich von der engagierten Unter­schriften­sammlerin. „Ach was, echt? Aber was und vor allem wo denn genau?“, will ich wissen. „Da werden Kaninchen ätzende Säuren in die Augen geträufelt, z. B.“ Aber dieser Zulassungs­test für Chemikalien ist doch schon längst ein Auslauf­modell und außerdem keine Vivisektion. Oder doch?

Ich will wissen, ob ALLE Tierversuche, also auch verhaltens­biologische, in denen den Tieren vielleicht eine Blut­probe abge­nommen wird, unter „Vivisektion“ zusammen­gefasst werden und erhalte als Antwort ein ganz klares „Ja!“, dazu verblüffte, weit geöffnete Augen. Ich entschuldige mich, aber so eine polemisierende Begriff­lichkeit kann ich beim besten Willen nicht unter­schreiben, obwohl ich gegen das Auf­schneiden von unbetäubten Wirbel­tieren bin, wie es in der modernen Schlachtung z. B. passiert, ob gewünscht (Schächtung) oder versehentlich (verrutschter Bolzen­schuss). Aus diesem Grund habe ich mich auch vor zwei Jahren für eine (bis auf wenige Ausnahmen) vegane Lebensweise entschieden, deswegen muss ich aber noch lange keine Begriffe über­strapazieren.

Im Publikum sind auffällig viele junge Leute (was in der Urania als Bildungs­einrichtung schon irgendwie auf­fällt). Hinter mir tauscht man sich über empfehlens­werte vegane Restaurants aus und manche T-Shirts sind mit Auf­schriften gegen Milch­kuh­haltung bedruckt. In der Einkaufs­tüte meiner Sitz­nachbarin erspähe ich aber auch den Herings­salat von „Gut und Günstig“. Auf der Bühne ist eine Art Mini-Labor mit Pipetten und Spritz­flaschen aufgebaut. Das verspricht spannend zu werden und erinnert an diese neuen Wissen­schafts­shows im Fernsehen mit Ranga Yogeschwar oder Jean Pütz.

Dr. Ingolf Ebel, Urania-Fach­bereichs­leiter für Grenz­fragen aus Wissenschaft und Forschung leitet die Veranstaltung ein. Er betont dabei das gemeinsame grundlegende Interesse der Urania und des Bündnis Tier­schutz­politik Berlin, weist aber auch darauf hin, dass die Urania eine breite Palette an wissen­schaftlichen Erkennt­nissen anbietet (also auch aus medizinischen Feldern, in denen Tier­versuche durch­geführt werden … muss man sich die Aussage zu Ende denken). Auf dem Podium finden sich die drei Gesprächsgäste ein und die Moderatorin Ines Krüger, deren Gesicht ich aus dem Fernsehen kannte. Sie ist Vorstandsmitglied im Tierschutzverein für Berlin und Umgebung und Berlins erste Tier­schutz­botschafterin. Unter den Gästen sind Dr. Manfred Liebsch, der an alternativen Test­methoden für Chemikalien arbeitet, Dipl. Biol. Kristina Wagner, Fach­referentin für Alternativ­methoden zu Tier­versuchen von der Tier­schutz­akademie und Rolf Kemper, Rechts­anwalt für Fragen des Tier­schutzes. In der ersten Reihe sind ebenfalls bekannte Gesichter der Tier­schutz­szene vertreten, wie z. B. die Tierschutz­politische Sprecherin der Berliner Grünen Claudia Hämmerling.

Arten der Tierversuche

Im Laufe des Abends werden fünf Arten von Tier­versuchen besprochen oder erwähnt (in Klammern der jeweilige Anteil an der Gesamtmenge an Versuchs­tieren (2)): Diagnose von Krankheiten (0,6 %), toxikologische Unter­suchung bei Zulassungs­behörden (1,8 %), Lehre (1,9 %), und das mit Abstand größte Feld: Grund­lagen­forschung (67,6 %). In der Kosmetik sind Tier­versuche seit 2004 EU-weit verboten.

Zuerst also die Frage nach den transgenen Mäusen, die mit gezielt verändertem Erbgut gezüchtet werden um den Einfluss bestimmter Gene auf Krank­heiten wie Krebs oder Alzheimer zu untersuchen. Die Diplom-Biologin Kristina Wagner erklärt, dass für die Zucht einer solchen Maus viele Eltern­tiere und Geschwister benötigt werden, wobei diese aber selber für die Forschung irrelevant sind und daher als „Kollateral­schaden“, wie Claudia Hämmerling zitiert wird, getötet werden. In der Statistik tauchen diese züchtungs­bedingten Mäuse aber nicht auf, da sie gar nicht im Ziel­versuch landen. Frau Hämmerling schätzt, dass es sich also nicht um die offiziell bezifferten 375.000 sondern 1,2 Mio. Versuchs­tiere (also vor allem Mäuse) im Jahr 2011 handelte. Die gen­manipulierten Tiere entwickeln z. B. schwerwiegende Miss­bildungen der Augen­hornhaut und dienen damit als Tier­modell, um Ursache und Verlauf der jeweiligen Krank­heit zu unter­suchen. (3)

In der Lehre würde man mehr und mehr auf z. B. digitale Alternativen setzen und auf Wirbel­tiere größten­teils verzichten. In der Toxi­kologie hätten sich Alter­nativen zu den klassischen Tier­versuchen größten­teils durch­gesetzt, so dass der sogenannte LD50- sowie der Draize-Test mehr und mehr verzichtbar werden.

„Bühne frei!“ für Dr. Liebsch und sein mobiles Labor

Dr. Manfred Liebsch arbeitete selber einige Jahre am Laboratorium für Pharma­kologie und Toxikologie, Hamburg, wo er den Draize-Test durchführte, für den Kaninchen Chemikalien in die Augen getröpfelt werden und die Reaktion des Gewebes auf ihre Toxi­kologie bewertet wird. Dann wechselte er aber die Seiten und forscht seit 1990 am ZEBET („Zentral­stelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungs­methoden zum Tier­versuch“). Seit 2002 ist der in den 80er Jahren entwickelte „HET-CAM“ Test (Hühner-Ei-Test-(an der) Chorion Allantois Membran) in Europa zur Vorher­sage starker Augen­schäden anerkannt.

In einer sehr unterhalt­samen und dabei kompetenten Art führte der sympathische Wissenschaftler nun mit Kamera und Laptop vor, wie einfach es ist, am Hühnerei­embryo einen Toxi­kologie­test durch­zu­führen. Mit an den Zahnarzt erinnernden Bohrer­geräuschen öffnete er ein bebrütetes Hühnerei, legte die feine Aderhaut frei und beträufelte sie mit einer 10prozentigen Salmiak­lösung. Jeder im Saal konnte dank der Mikroskopie­kamera auf der Leinwand verfolgen, wie die feinen Äderchen langsam platzen und das Blut heraus quoll. Für einige im Saal allerdings schon eine Zumutung, wie sich bei dem aufkommenden Raunen im Auditorium und den Publikums­fragen am Ende der Veranstaltung heraus­stellte. Immerhin würde da ganz grundlos ein Embryo geopfert. Dr. Liebsch nahm diese Kritik sehr bereitwillig an (er hörte sie bestimmt nicht zum ersten Mal), wies aber auf das frühe Embryonal­stadium und damit auf das noch unentwickelte Schmerz­empfinden hin und betonte, wie eindrucksvoll seine Vorführungen auf die Menschen bisher immer waren.

Gehalten werden die Bio-Hühner übrigens in Klein­gruppen mit der Möglichkeit zum Scharren. Neben dem HET-CAM gibt es auch den Augen­test, für den man Rinder­augen aus Schlacht­höfen verwendet (hier raunt es auch aus dem Saal, weil man dafür ja Schlacht­häuser braucht), Tests an Hautzell­kulturen, von denen es vier verschiedene anerkannte Haut­modelle gibt und Tests an der Hämolymphe des Pfeil­schwanz­krebses (LAL-Test). Der Draize-Test würde also nur noch genommen, um wirklich zu zeigen, dass keine toxi­kologische Gefahr mehr besteht.

Warum setzen sich diese Alternativ­methoden nun aber EU-weit so langsam durch (beim HET-CAM immerhin 17 Jahre)? Laut Dr. Liebsch ist das prinzipielle Problem, dass die Protokolle EU-weit erst anerkannt werden, nachdem sie in alle 27 EU-Sprachen übersetzen worden sind. Und das, obwohl die jeweiligen Institute dann vorzugsweise doch auf den englischen Text zurückgreifen.

Grundlagenforschung

Den größten Verbrauch an Tieren für Forschungs­zwecke (offiziell spricht man also nicht von Vivisektion) weist aber die Grundlagen­forschung auf. Hier wird alles an natur­wissenschaftlicher Forschung zusammengefasst, was nicht zwingend in einer klinischen Therapie münden soll.

Der Rechtsanwalt der Runde, Rolf Kemper, wird hier zur Rolle des Tierschutzes im Grundgesetz befragt. Seit 2002 steht der Tierschutz nämlich im Grund­gesetz und ist damit ein Staats­ziel. Dort kämpft es nun nicht mehr auf einer Ebene mit Sach­beschädigung sondern mit der wissen­schaftlichen Freiheit. Diese wiederum ist aber auch ein Grundrecht, so wie die Presse-, Religions- oder Kunst­freiheit. Obwohl der Tierschutz letzten Endes zu Recht doch höher bewertet wird als die Kunst­freiheit. Schwierig ist auch die Über­tragungs­rate vom Tiermodell auf den Menschen zu bewerten. Auf acht Prozent wird sie von einer OECD-Studie geschätzt, aber wie sie berechnet wird, ist keinem so richtig klar.

Podiumsgäste einig, dass kein Tierversuch ethisch vertretbar sei

Sowieso hätte uns die gesamte Grund­lagen­forschung der letzten Jahr­zehnte kein Stück voran gebracht: Es gäbe immer noch kein Mittel gegen die großen Geißeln der Mensch­heit: Krebs, AIDS oder psychische Krank­heiten. Unerwähnt bleibt aber der große wissen­schaftliche Erkenntnis­gewinn aus der Forschung zur Gen­regulierung und damit der Ursache und dem Verlauf vieler Krank­heiten. Auch, wenn wir immer noch keine „magic bullets“ haben, verfügen wir mittler­weile über die Möglichkeit, den Krebs früh zu erkennen und ihn dann auch erfolg­reich zu bekämpfen. Zudem erkennen wir mehr und mehr, wie komplex die Gen­regulation eigentlich ist. Es ist doch phänomenal zu begreifen, wie aus einer Zelle ein kompletter Organismus wächst und sich im Laufe seines Lebens anpasst und verändert. Bei aller recht­mäßigen Kritik an der modernen Forschung: Niemand kann uns heute noch weis­machen, dass es sich bei Krankheiten um einen göttlichen Fluch handelt oder eine Verschiebung des Säfte­haushaltes. Wissen­schaft ist auch gesell­schaftliche Aufklärung.

Auflagen für Tierhaltung

Ich vermute mal, dass ein Groß­teil der Uraniabesucher vor der Veranstaltung noch einen Kaffee mit Milch getrunken hat oder danach in seinen Leder­schuhen nach Hause gegangen ist, vielleicht noch eine Curry­wurst oder ein Käsebrot am Wittenberg­platz gegessen hat. Nirgends sind die Auflagen für Tier­haltung strenger als in der Forschung. Jeder kann seinen Hund zu Hause quälen, ohne dass dies ein Beamter des Landes­amtes für Gesund­heit und Soziales Berlin (LAGeSo) regelmäßig überprüft. Für Leder aus artgerechter Tier­haltung gibt es nicht mal ein Güte­siegel und bei den miserablen Bedingungen in der Milch­vieh­haltung wird von den zuständigen Veterinär­ämtern immer wieder gern ein Auge zugedrückt. Kein Tier darf in der Forschung ohne eine geprüfte Betäubung, wie sie auch bei Operationen am Menschen zum Einsatz kommen, getötet werden, da gibt es keine Bolzen­schüsse oder Elektro­schock­methoden. Selbst der Genick­bruch bei Mäusen ist ethisch doch wohl eher vertretbar als das Verfüttern lebendiger Mäuse an Schlangen, was überhaupt nicht kontrolliert wird (naja, wie auch …). Um einer Nachtigall eine Blutprobe zu entnehmen, bedarf es einer langen Bewilligungs­prozedur, für das Coupieren von Ferkel­schwänzen nicht.

Tierschützer reden immer von den „Tieren“. Biologen rechnen zum Tierreich eigentlich alles, was einen Zellkern hat, sich aber nicht durch Photosynthese ernährt und kein Pilz ist. Welche dieser Lebe­wesen sind nun aber in einer Art leidensfähig, die für einen Schutz hinreichend wäre, ja, ihn einfordert?

Vergleichender Ansatz der Verhaltensbiologie

Gerade als Verhaltens- und Neurobiologin interessiere ich mich doch für die evolutionäre Herkunft und die Funktion von Verhalten im Tierreich. Mit dem vergleichenden Ansatz der Verhaltens­biologie sucht man aber nicht nur nach Gemeinsam­keiten, sondern auch nach Unter­schieden, mit denen die Lebewesen den jeweiligen ökologischen Nischen angepasst wurden.

Im (mehrzelligen) Tier­reich sind die einzigen mehr oder weniger distinkten Einheiten die verschiedenen Arten, die untereinander kein Erbgut austauschen und somit keine frucht­baren Nach­fahren zeugen. Abgesehen davon haben wir es immer mit einem Kontinuum zu tun und verdanken die Kategorien „Mensch“ und „nichtmenschliches Tier“ nur der Tatsache, dass unsere Vorfahren bis hin zu dem gemeinsamen Ahnen aller Menschen­affen (meines Wissens) ausge­storben sind. Aus erkenntnis­theoretischer Sicht weiß (oder fühle) ich nur, dass ich selbst subjektiv Schmerz­bewusstsein habe. Aus dem Verhalten meiner Mit­menschen folgere ich per Analogie­schluss, dass sie ebenso wie ich empfinden (obwohl sie auch perfekte Automaten sein könnten, die sich nur so verhalten als ob sie ein Schmerz­bewusstsein hätten). Unsere nächsten Verwandten, die großen Menschen­affen, sind uns in ihrem sozialen Verhalten so sehr ähnlich, dass wir schluss­folgern sollten, dass auch sie über ein ethisch relevantes Schmerz­bewusst­sein verfügen. Vielleicht nicht das gleiche, wie die Menschen, aber eines, das ihnen bestimmte Grund­rechte garantieren sollte. Daher unterstütze ich auch das von Peter Singer und Paola Cavalieri ins Leben gerufene und von der Giordano-Bruno-Stiftung wiederbelebte „Great Ape Project“.

 

Leidensfähigkeit

Leidensfähig sind Lebewesen, wenn sie über ein bestimmten (ontologischen und evolutionären) Entwicklungs­stand des Nerven­systems und eine biologische Lebens­erwartung verfügen, für die ein Schmerz­gedächtnis relevant ist. Polypen haben ein einfaches Nervennetz, bei Insekten hingegen gibt es Konzentrationen von Nerven­zellen, die Ganglien, und Wirbel­tiere haben ein zentrales Nerven­system, das Gehirn. Menschliche Embryos in der achten Schwanger­schafts­woche stehen damit übrigens ethisch noch unter einem Polypen.

Es gibt sehr gute Evidenzen, dass Säugetiere eine Form von Schmerz­bewusst­sein haben, die einen speziellen Umgang mit ihnen nötig macht. (4) Von Frucht­fliegen wissen wir, dass sie lernen, unangenehme Reize zu vermeiden (5), aber haben sie ein Bewusst­sein dafür oder reagieren sie einfach nur, wie bei einem Reflex? Und, wenn man die dafür nötige Reiz­weiter­leitung mit Analgetika ausschaltet, also betäubt und einen schmerz­freien Tod herbei­führen kann? Hat das Tier dennoch ein Recht zu leben?

Schmerzfreie Tiertötung

Der Inhaber des deutschland­weit einzigen Lehr­stuhls für Tier­ethik, Prof. Jörg Luy von der Freien Universität Berlin hat dem Thema der schmerz­freien Tier­tötung seine Dissertation gewidmet, in der er alle relevanten moral­philosophischen Texte in einem Streif­zug durch die Philosophie­geschichte zur Tiertötung beleuchtet. Am Ende kommt er zu dem Schluss, „dass das dem Menschen zur Verfügung stehende moralische Bewertungs­verfahren nicht auf die Tötungs­frage anwendbar ist. Die angst− und schmerzlose Tiertötung (ohne Einbeziehung Dritter), als konkretes Beispiel für das abstrakte Problem der Tötungs­frage, ist aus diesem Grund weder wünschens­wert noch unmoralisch sondern unerwarteter­weise ohne moralischen Status.“

Mit der „Einbeziehung Dritter“ sind hier die Interesses eines tierischen oder menschlichen Ange­hörigen, den das Töten einen Tieres quälen könnte, gemeint. Ist das der Fall bei Mäusen? Trauern sie so sehr um einen gequälten oder verstorbenen Art­genossen, dass es sich um einen psychischen Schmerz handelt? Einigen Maus­fans zufolge schon. Wenn Mäuse aber so einfühlsam sind, so leidens­fähig, so intelligent und aufopfernd, warum habe ich dann (außerhalb der bekannten Trick­film­figuren) noch nie etwas von einem Mäuse­aufstand in einem Labor gehört? Wie fühlt es sich an, ein trauerndes Nage­tier zu sein? (6) Wir werden, ja, können es nicht wissen. Wer ist nun aber in der Beweisschuld – der Mensch oder die Maus?

Prof. Luy beendet seine Dissertation mit den Worten:  „Infolgedessen sollte sie [die schmerzfreie! Tiertötung] eigentlich weder gefördert noch verboten werden. Es scheint indirekt jedoch trotzdem geboten zu sein, die Legalität der Tiertötung vom Vorhanden­sein eines ‘vernünftigen Grundes’ abhängig zu machen.“

Warum können uns die Mäuse nicht einfach mitteilen, wie sie behandelt werden möchten! Oder anders: Warum haben wir es immer noch nicht geschafft, ihnen zuzuhören? Im Falle der großen Menschen­affen gab es ja schon ein paar erstaunliche Fortschritte auf dem Gebiet der Mensch-Tier-Kommunikation. (So kann sich der Bonobo-Schimpanse Kanzi mittels einer Symbol­tastatur sinnvoll mitteilen und englische Sprache begrenzt verstehen. Die Schimpansin Washoe† und der Gorilla Koko können einige Gebärden­sprachen­symbole verstehen und selber formulieren.)

Interessanterweise galten in der Kultur­geschichte der Menschheit taube Menschen auch lange als minder­bemittelt, bis man endlich eine Form der Kommunikation über Zeichen­sprache gefunden hatte.(7) Aber kann man Schmerz­bewusstsein überhaupt direkt nachweisen? Wir können ja nur indirekte Schluss­folgerungen aus dem Verhalten und der Physiologie schließen …

Fazit

Wie man es dreht und wendet: Am Ende bleibe ich eine abschließende und konkrete Meinung wohl doch schuldig. Das Thema wird mich weiterhin wurmen.

Um aber in einer Gesellschaft von Forschern und Tier­schützern mit gemeinsamen und gegen­teiligen Interessen Beschlüsse zu entscheiden, was „vernünftige Gründe“ sind, muss die Debatte unbedingt auf der Basis relevanter Argumente sachlich, fair und mit klar definierten Begriffen geführt werden. Forscher sollten sich nicht allein auf ihr uneinge­schränktes Grundrecht auf Wissen­schafts­freiheit berufen, denn das steht immer noch unter ethischen Richt­linien. Sie sollten bei der Planung von Tier­versuchen auch weniger ihre persönliche Karriere, als vielmehr dessen wissen­schaftlichen Wert utilitaristisch gegen das womöglich entstehende Leid abwägen. Dazu sollten sie auch in Ethik­kursen ausgebildet werden, die leider immer noch kein Pflicht­fach in den Biowissen­schaften sind.

Tierschützer sollten konkreter benennen, was sie meinen, wenn sie von „Vivisektion“ oder dem „sinnlosen Töten eines Hühner­embryos“ dem „Recht auf Leben“ reden oder dem viel zitierten Lebens­motto von Albert Schweizer über „Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will“. Leben tun nämlich auch Weizen und Bakterien und die schützt auch keiner (außer vor Genmani­pulation). Auch wenig hilf­reiche religiöse Begriffe wie die oft proklamierte „Bewahrung der Schöpfung“ sollten endlich aus der Debatte verschwinden. Die Meinung der verschiedenen vermeint­lichen „Schöpfer“ gehen beim Thema Tier­schutz nämlich auch sehr auseinander. Das Thema sollte daher auch kein Gebiet der Moral­theologie sein, es sollten statt­dessen weitere Lehr­stühle für Tier­ethik eingerichtet werden.

Außerdem müssten Tier­versuchs­gegner verstehen, dass man nicht alle Versuche, die der Erforschung des Lebens dienen, mit Zell­kulturen oder Rinder­augen ersetzen kann.

Adriana Schatton

Fotos:

Dr. Liebsch / Tierschutzverein für Berlin

Great Ape Project / Jutta Hof

Anmerkungen

(1) Eisemann et al. 1984 „Do insects feel pain?”, Cellular and Molecular Life Sciences 40: 1420-1423.
(2) Die Zahlen stammen aus dem Tätigkeitsbericht 2012 des Tierschutzbeauftragten
(3) Als Beispiel: MP Lenhardt „cDNA-microarrayanalyse zur Genregulation in der Kornea von TGF -β1 transgenen Mäusen“ (2011)
(4) Pierre Le Neindre, Raphaël Guatteo, Daniel Guémené, Jean-Luc Guichet, Karine Latouche, Christine Leterrier, Olivier Levionnois, Pierre Mormède, Armelle Prunier, Alain Serrie, Jacques Servière (editors), 2009.
AnimalPain: identifying, understanding and minimising pain in farm animals. Multidisciplinary scientific assessment, Summary of the expert report, INRA (France), 98 Seiten
(5) Björn Brembs „Operant conditioning in invertebrates“ (2003)
(6) In Analogie zu Thomas Nagels berühmten epistemologischen Aufsatz „What Is it Like to Be a Bat?“ in: The Philosophical Review 1974.
(7) “Since deaf were not able to speak intelligibly, they were not seen as humans that received Gods spirit, rather than people closer to animals or machines as Bernard Le Bovier de Fontenelle wrote in 1703." (p.414)
Presneau, J.-R. (1993). The Scholars, the Deaf and the Language of Signs in France in the 18th Century. In R. Fischer & L. Harlan (Eds.), Looking Back. A Reader on the History of Deaf Communities and their Sign Languages (Vol. 1703, pp. 413 – 421). Hamburg: Signum Verlag.