Prag – Stadt der Gottlosen

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Prag bei Nacht (Hradschin)

Die jährlich über 4 Mio. Touristen sind von der Vielfalt der Attraktionen Prags beeindruckt: Laterna Magica und Pan Tau, tanzende Häuser, goldene Gässchen und barocke Kirchen. Was die wenigsten Besucher wissen: Prag ist die am stärksten säkularisierte Hauptstadt Europas.

Astronomische Uhr am Altstädter Rathausturm, Foto: © Manfred Isemeyer
Astronomische Uhr am Altstädter Rathausturm, Foto: © Manfred Isemeyer

"Willkommen bei der meistfotografierten Männergruppe seit den Beatles", so begrüßt die Stadtführerin Jana Masaryk die Touristen und weist auf die zwölf Apostelfiguren hin, die sich jede volle Stunde am Altstädter Rathausturm zeigen. Darunter deutet sie auf die astronomische Uhr, die seit 1410 die "vier größten Gefahren der Menschheit" anzeigt: Der Tod droht mit der Sanduhr, die Eitelkeit kokettiert mit ihrem Spiegelbild, ein Türke droht mit weiteren Kriegen, und ein Geizhals schüttelt einen prallen Geldbeutel. Weiter geht es durch die malerischen Gassen der Altstadt, zum geschichtsträchtigen Wenzelsplatz, über die majestätisch die Moldau überspannende Karlsbrücke hinauf zur Prager Burg Hradschin, dem politischen und geistigen Zentrum des Landes. Das Nebeneinander von Gotik, Renaissance, Barock, Jugendstil und Funktionalismus ist atemberaubend. Nicht umsonst steht fast das gesamte Zentrum der Stadt auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes.

Sightseeing in Prag ist eine sportliche Angelegenheit und gutes Schuhwerk ist unerlässlich. Es lohnt sich, auch außerhalb der ausgetretenen Touristenpfade zu bummeln. So begegnet man unvermutet Pan Tau, dem lächelnden Herrn mit der Melone. Für viele eine Kindheitserinnerung aus den 1960er Jahren, als die vom Tschechoslowakischen Fernsehen und WDR produzierten Filmabenteuer Pan Taus über den Bildschirm flimmerten. Bei Regenwetter empfiehlt die Stadtführerin das Prager Literatur-Haus. "Die Stadt", erzählt sie lebhaft, "war die Heimat zahlreicher Autoren wie Franz Kafka, Egon Erwin Kisch und Franz Werfel." In einer kleinen Ausstellung könne man sich hier auf eine Zeitreise in das deutschsprachige Prag begeben. Oder man besucht die Gruft der Kyrillos-und Methodios-Kirche, in der sich im Juni 1942 tschechische Widerstandskämpfer nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich einen tödlichen Kampf mit der Waffen-SS lieferten.

Tanzendes Haus, Foto: © Manfred Isemeyer
Tanzendes Haus, Foto: © Manfred Isemeyer

Noch in den 1930er Jahren war Prag Zufluchtsort vor den Nationalsozialisten. Deutsche Intellektuelle wie Bertold Brecht, die Brüder Thomas und Heinrich Mann oder der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer emigrierten hierhin, bevor auch im Oktober 1938 in dieser Stadt die Hakenkreuzfahnen wehten. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitlers Truppen, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Vertreibung von fast drei Millionen Deutschen in den Jahren 1945 und 1946 beendeten die einzigartige kulturelle Vielfalt Prags. Weil Prag aber von den Bombardements des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschont blieb, ist die Vergangenheit beim Stadtgang auf Schritt und Tritt sehr lebendig.

Die unblutigen Massendemonstrationen der Samtenen Revolution im November 1989 machten den Weg frei für ein modernes Prag. Nicht nur der 2011 verstorbene Staatspräsident Vaclav Havel erhoffte sich damals, dass seine Heimatstadt wieder ein "Zentrum des europäischen Lebens, eine bedeutende geistige Kreuzung, ein Nährboden für Ideen und Kultur" werden könnte. Die Anziehungskraft der Stadt ist seit der Wende tatsächlich enorm gestiegen: In und um die "Goldene Stadt" haben sich zahlreiche internationale Konzerne angesiedelt. Die zentrale Lage in Europa machen den Großraum Prag zu einem attraktiven Standort: etwa für die Automobilindustrie, den Logistikkonzern DHL oder die Deutsche Börse. Zwar ist der Prager Durchschnittslohn mit rund 1300 Euro noch relativ gering, die Arbeitslosigkeit tendiert dafür aber gegen Null. Prag boomt, das erfahren die 1,3 Millionen Einwohner täglich. Heute beträgt die Stadtfläche bereits 550 Quadratkilometer, moderne, farbenfrohe Gebäude prägen die Innenstadt und neue Satellitenstädte entstehen im "Speckgürtel" Prags.

Religion, Jedi-Ritter und Atheismus

Prag, Foto: © Manfred Isemeyer
Prag, Foto: © Manfred Isemeyer

Zurück auf dem Altstädter Ring berichtet die Stadtführerin über eine gewaltsame Prager "Spezialität". Gemeint sind die Fensterstürze: Beim ersten 1419 wurden katholische Ratsherren aus einem Fenster des Rathauses befördert – Auftakt für die Hussitenkriege. Auch der zweite Fenstersturz war Ausdruck der Konflikte zwischen den Konfessionen. Wütende hussitische Protestanten warfen zwei katholische Adlige aus der Prager Burg, die den 16 Meter tiefen Sturz auf einem Müllhaufen überlebten. Mit diesem Fenstersturz begann 1618 der Dreißigjährige Krieg, ein Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten. "Heute", sagt die Stadtführerin später, "spielt die Religion in Prag nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Prager glauben eher an Horoskope als an Gott." Tschechien: Ein Land der Atheisten? "Nein", ergänzt sie auf Nachfrage, "atheistisch sind die Prager nicht."

Statistiken und Umfragen sprechen allerdings eine andere Sprache. 2007 bezeichneten sich 50 Prozent der befragten Tschechen als Atheisten und 26 Prozent als Gläubige. 24 Prozent wollten sich bei der Umfrage des Meinungsinstituts STEM in der Gottes-Frage nicht festlegen. Frauen zeigten sich religiöser als Männer. Bei der Volkszählung von 2011 bekannten sich nur noch etwas mehr als elf Prozent der Tschechen zu einer Kirche. Die Angabe zur Religionszugehörigkeit war freiwillig. Hatten sich 1950 76 Prozent der Tschechen zum Katholizismus bekannt, so sank ihre Zahl 2016 auf 10,4 Prozent. Die derzeit zweitgrößte Konfession ist die reformierte Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (0,5%), gefolgt von der hussitischen Kirche (0,4%). Der Anteil der muslimischen Bevölkerung beträgt 0,1 Prozent.

Pan Tau, Foto: © Manfred Isemeyer
Pan Tau, Foto: © Manfred Isemeyer

Aufsehen erregte bei der Volkszählung von 2011, bei der sich 15.00 Bürger als Anhänger der Religion der Jedi-Ritter aus dem Science-Fiktion-Filmen "Krieg der Sterne" bezeichneten. Ihre Hochburg ist Prag: dort gaben 0,3 Prozent der Einwohner an, "Jediismus" sei ihre Religion.

Tschechien ist heute mit fast 80 Prozent Bevölkerungsanteil ein mehrheitlich konfessionsfreies Land, und Prag dürfte die am stärksten säkularisierte Hauptstadt Europas sein. Die Minorisierung der Religion hat vielfältige historische Gründe; sie reichen von der Hussitischen Reformation, über Säkularisierungsmaßnahmen unter Kaiser Joseph II. in den Jahren nach 1782 bis hin zu staatlichen Repressionen gegen die Kirchen unter dem kommunistischen Regime. Für die Zukunft sagen Wissenschaftler keine religiöse Renaissance in Tschechien vor.

Religiöse oder weltanschaulich-humanistische Fragen haben im Alltagsbewusstsein der Tschechen nur eine marginale Bedeutung. So ist auch zu verstehen, dass es keine relevanten Organisationen Konfessionsfreier gibt. Auch hierfür gibt es historische Gründe. Schon 1910 wurde die Freidenkergesellschaft "Smetana" verboten. 1913 erfolgte die Auflösung des Freidenker-Vereins "Freier Gedanke", alle Zeitungen der tschechischen Freidenkerbewegung wurden unterdrückt und ihr gesamtes Vermögen konfisziert. Der "Verband der Konfessionslosen" forderte 1948 einen Zusammenschluss aller Atheisten, "um in der absterbenden Kultur eine neue (sozialistische) Gesellschaft aufzubauen", erhielt aber vom kommunistischen Regime keine Gründungserlaubnis.

Prag, Foto: © Manfred Isemeyer
Prag, Foto: © Manfred Isemeyer

Bleibt die Hoffnung, dass man beim Spaziergang durch das säkulare Prag demnächst auf eine humanistische Organisation stößt.