"Pius XII. war ein Feigling"

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Dirk Verhofstadt (Foto: privat)

(hpd) Er war der „Vater“ des Reichskonkordats und während des Zweiten Weltkrieges wahrte er die Neutralität des Vatikan – auch als bekannt war, dass in Osteuropa unvorstellbare Kriegsverbrechen begangen wurden und die Juden systematisch ermordet wurden. Trotzdem hat er in der katholischen Kirche viele Fürsprecher: Papst Pius XII.

In seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch untersucht Dirk Verhofstadt, ob der Papst tatsächlich zur Vernichtung der europäischen Juden geschwiegen hat, ob er moralisch versagt oder das ihm Mögliche getan hat. Anhand der vorliegenden Dokumente arbeitet er die Politik des Vatikan im Zeitalter des Faschismus heraus und betrachtet insbesondere das Verhältnis zu Hitlers Verbündeten. Sein Fazit fällt für Pius XII. wenig schmeichelhaft aus. hpd sprach mit dem Autor über die Quellenlage, kirchlichen Antijudaismus und die Vorgeschichte des Reichskonkordats. Übersetzt wurde das Werk übrigens von dem im Juni verstorbenen hpd-Redakteur Rudy Mondelaers.
 

Herr Verhofstadt, welche Quellen sind von Bedeutung, um die Rolle von Papst Pius XII. in Bezug auf die Vernichtung der europäischen Juden bewerten zu können?

Es gibt unterschiedliche Quellen, die uns Informationen liefern. Zum Beispiel gibt es eine Menge von Aussagen von Nazi- und Kirchenführern, Zeitungsausschnitte, historische Dokumente, Unterlagen aus verschiedenen Archiven, Fotografien, persönliche Briefe oder Tagebücher. Aber die wichtigste Quelle sind die Actes et Documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale (Akten und Dokumente des Heiligen Stuhls bezüglich des Zweiten Weltkriegs). Diese Actes et Documents sind 1964 auf Ersuchen von Papst Paul VI. durch eine Gruppe von Jesuiten zusammengestellt und zwischen 1965 und 1981 veröffentlicht worden. Sie enthalten Briefe und Telegramme, die von kirchlichen und weltlichen Führern in den Vatikan geschickt wurden, sowie die Antworten aus dem Vatikan. Sie wurden in 11 Bänden gesammelt, die rund 8.000 Seiten umfassen. Diese werden allgemein als die bisher umfassendste Dokumentation der Ereignisse und als unstrittige Dokumente, die kein Historiker ignorieren kann, angesehen – obgleich sie nicht vollständig sind, sondern das Ergebnis einer bewussten Auswahl im Auftrag der damaligen Kirchenführung.
 

Reicht das vorliegende Material aus, um zu einem belastbaren Urteil zu kommen, oder warten wir auf die Freigabe vatikanischer Geheimdokumente?

Ich denke, es reicht aus. Trotzdem fehlen in den Actes et Documentes wichtige Dokumente. So vermissen wir einen Teil der Korrespondenz des Berliner Bischofs Konrad Preysing mit Pius XII., die Papiere des umstrittenen österreichischen Bischofs Alois Hudal (die jetzt zur Einsicht bereitliegen bei der Pontificio Santa Maria dell’Anima in Rom) sowie fast alle Dokumente über die Ereignisse in Osteuropa, mit Ausnahme von Polen und den baltischen Staaten. Das ergibt sich auch aus den vielen Hinweisen in den Texten auf Augenzeugenberichte, Briefe und Kommentare, die nicht in der Sammlung enthalten sind.

Also, die Actes et Documents sind sehr wichtig, aber sie sind offensichtlich nur eine Auswahl. Weshalb werden die anderen Dokumente nicht freigegeben? Hat die Kirche etwas zu verbergen? Die wohl- oder auch nicht bewusste Zurückhaltung des Vatikans, seine Archive aus der Kriegszeit vollständig zu öffnen und für unabhängige Forscher zugänglich zu machen, untermauert nur die Annahme, dass es Dinge gibt, die das Bild der Kirche beschädigen könnten und die deshalb nicht ans Tageslicht kommen dürfen. Die Kirche muss erkennen, dass durch diese Haltung die Beschuldigungen gegen sie und ihre Vertreter eher zu- als abnehmen werden. Nur eine vollständige Offenlegung kann erreichen, dass nicht nur die Wahrheit ans Licht kommt, sondern dass auch der notwendige Prozess der Reue, Vergebung und Wiederherstellung ihrer moralischen Autorität eine Erfolgschance bekommt.
 

An welchen grundlegenden politischen Zielen orientierte sich die Politik des Vatikans in der Zeit nach 1918?

Da war zunächst seine Furcht vor dem Kommunismus und dessen erfolgreicher Verbreitung in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa. Pius XI. (und auch Pacelli) zeigte stets mehr Sympathie für „katholische Staaten unter strenger Führung“, wie den spanischen katholisch-korporatistischen Staat, und betrachtete die demokratischen Ideale wie Freiheit, Unabhängigkeit und Eigeninitiative als Krankheiten, von denen der „schwächliche Körper des Christentums geheilt werden muss“. Nach dem dramatischen Ende des Ersten Weltkrieges, als sowohl Deutschland als auch die österreichisch-ungarische Monarchie mit ihrer starken katholischen Präsenz in Trümmern lagen und die „rote Gefahr“ aus dem Osten herankam, entschied sich der Vatikan resolut für totalitäre Systeme, welche die Interessen der Kirche schützen sollten. Daher die Konkordate mit Mussolini und später mit Hitler.
 

Wie lässt sich das Verhältnis der katholischen Machtzentrale zu den faschistischen Bewegungen beschreiben?

Als ein „Pakt mit dem Teufel“. In Deutschland waren zu Zeiten der Weimarer Republik schon Konkordate mit Bayern (1924), Preußen (1929) und Baden (1932) abgeschlossen worden. Nach der Machtübernahme der „Nazis“ wurden die Rechte der Länder beschnitten, sodass der Vatikan auf einen Vertrag mit dem Reich hinarbeitete.

Mit dem Reichskanzler Heinrich Brüning war es Pacelli, damals Staatssekretär im Vatikan, nicht gelungen, ein Konkordat auf Reichsebene abzuschließen, obwohl dieser ein prominentes Mitglied der katholischen Zentrumspartei war. Am 8. August 1931 hatte es in Rom ein Gespräch zwischen Pacelli und Brüning gegeben. Pacelli verlangte von Brüning, ein Konkordat abzuschließen, mit dem die Interessen der katholischen Kirche, vor allem im Bereich der Bildung, gewährleistet werden sollten – eine Forderung, die Brüning ablehnte, da er wusste, dass seine Koalitionspartner einem solchen Vertrag nicht zustimmen würden. Pacelli riet dem Kanzler darauf, nicht länger mit den Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten, sondern mit Hitlers NSDAP. Brüning antwortete, dass Pacelli die Situation in Deutschland und vor allem die wahre Natur der „Nazis“ völlig falsch einschätze. In diesem Moment warf der Vatikan das Ruder herum und beschloss, die Zentrumspartei aufzugeben, um eine Einigung mit Hitler zu ermöglichen. Pacelli fand das offenbar akzeptabler als die Wechselhaftigkeit einer Weimarer Republik, die in die Hände der atheistischen Kommunisten, Sozialisten und Liberalen fallen könnte.

Der deutsche Historiker Gerhard Besier veröffentlichte 2004 sein Buch „Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland: Die Faszination des Totalitären“, in welchem er sich auf die Einstellung Pacellis zu Nazi-Deutschland konzentriert. Behandelt wird der gesamte Zeitraum zwischen 1917, dem Jahr seiner Ernennung zum Apostolischen Nuntius in München, bis 1939, als er zum Papst gewählt wurde. Besier verweist auf ein Treffen zwischen dem Vorsitzenden der Zentrumspartei Ludwig Kaas und Pacelli in Innsbruck am 26. September 1930, zwölf Tage nach der Reichstagswahl, die der NSDAP zu ihrem großen Durchbruch verhalf. Die deutschen Bischöfe wendeten sich damals noch gegen die braune Bewegung, aber Pacelli änderte in diesem historischen Augenblick seinen Kurs. „Angesichts der prekären Lage des Zentrums (...) nach den letzten Wahlen konnte der klärende Ratschlag von Pacelli einen entscheidenden Einfluss ausüben, und das in der Tat in Richtung der Akzeptanz von Beziehungen zu Hitler.“ (Quelle: Bericht der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl, den 30. September 1930, Ausgabe 229-A633, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Botschaft beim Heiligen Stuhl, Best. 29, vol. 1/Lfd., Nr. 441.)

Nach der Machtübernahme durch die Nazis kam es bald zu Kontakten, die den Abschluss eines Konkordats zum Ziel hatten. Die abschließenden Verhandlungen wurden durch den deutschen Rechtsexperten des Innenministeriums Rudolf Buttmann, die ehemaligen Führer der Zentrumspartei von Papen und Kaas, den Freiburger Bischof Conrad Gröber und den vatikanischen Staatssekretär Pacelli geführt. Es kam sehr schnell zu einer Einigung, der am 20. Juli 1933 die Unterzeichnung folgte.

Eugenio Pacelli wird im März 1939 Papst. Zu diesem Zeitpunkt waren die Lateranverträge und das Reichskonkordat abgeschlossen, im Spanischen Bürgerkrieg hatte sich die katholische Kirche vorbehaltlos auf die Seite Francos geschlagen – war Pacelli persönlich mit dieser politischen Ausrichtung einverstanden? Ja. Die vielen Kontakte zwischen Kaas, von Papen und Pacelli lassen vermuten, dass es einen konkreten Plan gab, die katholische Partei, und damit die bestehende Demokratie der Weimarer Republik, für eine Reihe von Vorteilen für die katholische Kirche zu opfern. Das ist auch die Meinung des katholischen Historikers Rudolf Morsey. „Kaas stand bereit, um das Zentrum aufzugeben und die ‘große nationalsozialistische Bewegung’ zu unterstützen“, schreibt er in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ im Jahr 1960.

Als in der Reichstagswahl im November 1932 die „Nazis“ 34 Sitze verloren und die Kommunisten 11 dazugewannen, wuchs vor allem in der katholischen Partei die Angst vor einer kommunistischen Revolution. Bereits ein Jahr vor der Machtübernahme durch die „Nazis“, also 1932, hatte Kaas sich zum Befürworter einer Regierung unter Führung von Hitler erklärt. Als das Ermächtigungsgesetz zur Debatte stand, übte Pacelli Druck auf Kaas aus, damit das Zentrum diesem zustimmte. Der Tag der Abstimmung, der 24. März 1933, markiert die Aufhebung der Demokratie und ebnet zugleich den Weg für das Konkordat. Am 18. Mai 1933 wurden Bischof Wilhelm Berning von Osnabrück und Erzbischof Conrad Gröber von Freiburg von Pius XI. und Pacelli empfangen. Pacelli teilte ihnen mit, dass die deutschen Bischöfe eine einheitliche, d.h. eine positive Meinung zum Konkordat verkünden sollten. Am 5. Juli 1933 wurde die Zentrumspartei formal aufgelöst, wenige Tage später wurde das Konkordat unterzeichnet.

Mit dem Konkordat schob Pacelli die deutschen Bischöfe und die deutschen Katholiken in die Arme der Nazis. Nehmen Sie den Brief von Michael Buchberger, dem Bischof von Regensburg, den er bereits am 3. Juli 1933 an den Führer sandte: „Wir sind bereit, voll guten Willens und Loyalität mit Ihrer Exzellenz für den Wiederaufbau unserer Heimat zusammenzuarbeiten, das heißt für die geistige und moralische Gleichschaltung des gesamten deutschen Volkes auf christlicher und patriotischer Basis.“ (Quelle: Volk Ludwig, Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917-1945, Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 17, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 1975, nr. 330a, Anlage zu Nr. 330: Buchberger an Hitler, S. 747.) Bemerkenswert ist, dass dieser Bischof das Wort Gleichschaltung gebrauchte, einen Begriff, der die Maßnahmen bezeichnete, mit denen die „Nazis“ Deutschland in eine totalitäre Diktatur verwandelten.

Auch Kardinal Bertram sandte als Vorsitzender der Bischofskonferenz von Fulda am 22. Juli 1933 einen Brief des Dankes an den Führer. Darin schrieb er, dass die Kirche bereitwillig mit dem Regime zusammenarbeiten würde. (Quelle: Dankschreiben des Vorsitzenden der Fuldaer Bishofskonferenzen, Adolf Kardinal Bertram, an Reichskanzler Hitler zum Abschluss des Reichskonkordats, 22. Juli 1933 in Gruber Hubert, Katholische Kirche und Nationalsozialismus 1930-1945, Schöningh, 2006, S. 110.) Allerdings gab es einen einzigen deutschen Bischof, der zuvor seine Vorbehalte zum Ausdruck gebracht hatte. In einem Schreiben vom 3. Juli 1933 an Pacelli fragte Preysing, ob „ein Konkordat wohl noch möglich ist“ in einer Zeit der völligen Willkür und Unterwerfung unter die Interessen des Vaterlandes. Diese kritische Sicht war richtig.

Der größte Fehler Pacellis war der Abschluss einer Vereinbarung mit einem Regime, das nicht länger den Rechtsstaat verteidigte. Seine Anhänger betonen immer wieder, dass der spätere Papst in guter Absicht gehandelt habe und der Text – zumindest auf dem Papier – besonders günstig für die Kirche war. Aber an wen sollte man sich wenden, wenn die Vereinbarung durch eine der beiden Parteien nicht eingehalten wurde? An die deutsche Regierung? An ein Gericht? An eine internationale Organisation? Pacelli hatte mit seinem Konkordat die deutsche Kirche faktisch aus der Hand gegeben und seine Unterschrift unter eine Reihe Abmachungen gesetzt, deren Einhaltung niemand zusichern konnte. Eine solche Haltung – zu einer Zeit, in der in Deutschland schon viele Verbrechen begangen worden waren und Gesetzlosigkeit eine alltägliche Erscheinung war, zeugte nicht nur von Naivität, sondern auch von Ignoranz, Mangel an Einfühlungsvermögen und sogar von Komplizenschaft.
 

Mit Ausbruch des Krieges steht der Vatikan vor einem Problem: Hitler-Deutschland überfällt ein katholisches Land, verübt massive Verbrechen an der Zivilbevölkerung und schont auch den polnischen Klerus nicht. Wie reagiert der Vatikan?

Mit dem Überfall auf Polen ging Hitler eigentlich ein großes Risiko ein, denn die Grundlage seiner Vereinbarung mit dem Vatikan war gerade seine unerbittliche Einstellung gegen den Bolschewismus. Da er durch den Molotow-Ribbentrop-Pakt gemeinsam mit der Sowjetunion das katholische Polen aufteilte, drohte die Gefahr, dass der Papst und die katholischen Bischöfe den deutschen Angriff auf Polen missbilligen würden. Doch sie taten es nicht.

Die deutschen katholischen Kirchenführer hießen diesen einseitigen und unangekündigten kriegerischen Akt sogar gut, trotz der Tatsache, dass Zehntausende katholischer Polen, darunter Hunderte von Priestern ermordet wurden. In einem gemeinsamen Hirtenbrief an die deutschen Soldaten erklärten sie: „In dieser entscheidungsvollen Stunde ermuntern und ermahnen wir unsere katholischen Soldaten, in Gehorsam gegen den Führer, opferwillig unter Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit ihre Pflicht zu tun. Das gläubige Volk rufen wir auf zu heißem Gebet, dass Gottes Vorsehung den ausgebrochenen Krieg zu einem für Vaterland und Volk segensreichen Erfolg und Frieden führen möge.“

Der Bischof von Hildesheim, Joseph Godehard Machens, peitschte die Gläubigen seiner Diözese sogar noch zusätzlich an: „Ein Krieg ist ausgebrochen, der uns alle, Heimat und Front, Wehrmacht und Zivilbevölkerung, vor die gewaltigsten Aufgaben stellt. Darum rufe ich Euch auf: Erfüllt Eure Pflicht gegen Führer, Volk und Vaterland! Erfüllt sie im Felde und daheim! Erfüllt sie, wenn es sein muss, unter Einsatz der ganzen Persönlichkeit!“ Sein Kollege Conrad Gröber, Erzbischof von Freiburg, sprach von der Pflicht eines jeden deutschen Soldaten sein Leben, wenn nötig, zu opfern. „Dienst aus Pflicht, vor Gott übernommen durch einen Eid; der Tod sei letzte Hingabe an Vaterland und Volk. Soldatentod ist damit Opfertod, Opfertod ist Heldentod. Heldentod ist ehrenvoller Tod.“ Einige Tage nach dem Sieg am 30. September 1939 ließen die deutschen und österreichischen Bischöfe alle Kirchenglocken für den Sieg des Deutschen Reiches über Polen läuten, obwohl viele katholische Soldaten wie auch Zivilisten und Juden getötet worden waren.

Auch der Papst protestierte nicht, trotz der wiederholten Aufforderungen der Alliierten an den Heiligen Stuhl – vor allem seitens Frankreichs und der polnischen Exilregierung –, die Aggression der Deutschen und der Sowjets zu verurteilen. Aus einem Bericht von Diego von Bergen, dem deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl, an das Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten geht hervor, dass der Papst es bewusst ablehnte, den Angriff zu verurteilen. Die Mitteilung vom 7. September 1939 lautet: „Die Weigerung des Papstes, eine Position gegen Deutschland einzunehmen, steht ganz im Einklang mit den Zusicherungen, die er mir in den letzten Wochen vermittels eines Vertrauensmannes wiederholt hat zukommen lassen.“ Der polnische Kardinal August Hlond, der nach Rom geflohen war, bat den Papst am 21. September 1939, die Invasion der Deutschen und der Sowjets zu verurteilen. Doch Pius XII. tat es nicht. Am 30. September 1939 empfing er eine Gruppe von polnischen Flüchtlingen, darunter auch Kardinal Hlond. Sie waren sehr enttäuscht, dass der Papst den deutschen Überfall auf ihr Land nicht verurteilte. Er drückte lediglich sein Vertrauen in die mögliche „Wiedergeburt“ Polens aus.

Der Papst protestierte nicht öffentlich, sondern wählte die stille diplomatische Intervention, insbesondere durch Nuntius Orsenigo in Berlin.
 

Der Überfall auf die Sowjetunion markiert den Übergang zur systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Lässt sich sagen, zu welchem Zeitpunkt der Vatikan davon erfuhr?

Es gab eine bemerkenswerte Richtlinie von Kardinal Faulhaber vom 25. November 1941, wie Protest gegen die deutsche Regierung formuliert werden sollten, wenn die Interessen der Kirche beschädigt oder die Rechte der deutschen Bevölkerung beeinträchtigt würden. Pastoralbriefe sollten keine Aussagen enthalten, welche das Ansehen des Volkes oder der Regierung schädigen könnten. Faulhaber fügte in Klammern einige Beispiele an: „(jüdische Frage, Behandlung der russischen Kriegsgefangenen, SS-Gräueltaten in Russland etc.)“. Diese Punkte in Klammern, die der Brief erwähnt, sind von besonderem Interesse. Sie beweisen, dass Kardinal Faulhaber und durch seinen Brief alle deutschen Bischöfe bereits im November 1941 Kenntnis von den Gräueltaten an der Ostfront hatten. Der Kardinal benutzt das Wort „Judenfrage“, das seit dem Aufstieg der Nazis eine sehr negative Bedeutung hatte, und durch Hitler selbst in seinem Buch „Mein Kampf“, dort, wo er von der „Lösung der Judenfrage“ spricht, verwendet wurde. Aber vor allem die Worte „Gräuel der SS in Russland“ sind von besonderer Bedeutung. Dies kann sich nur auf die Mordsucht der Waffen-SS, sowohl an der Front als auch hinter den Linien, beziehen und auf die berüchtigten Einsatzgruppen, die im Windschatten der Wehrmacht alle russischen Kommissare und Juden umbrachten. Das schreckliche Wissen Faulhabers war mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Vatikan bekannt.
 

Wie hat Pius XII. reagiert?

Der Papst reagierte gar nicht, obwohl er sich über die Massaker im Osten bewusst gewesen sein muss. Sie können das in den Actes et Documents nachlesen. Am 28. Juli 1942 schickte Nuntius Orsenigo aus Berlin ein Telegramm an den Vatikan mit dem Text: „La situation des Juifs est encore aggrevée; on parle de massacres“ („Die Situation der Juden hat sich noch verschlechtert, man spricht von Massakern“, ADSS 438). Am 31. August 1942 sendet der ukrainische Kardinal Szeptyckyi ein Telegramm an den Papst mit dem folgenden Text: „Le nombre des Juifs tués dans notre petit pays a certainement dépassé deux cent mille.“ („Die Zahl der getöteten Juden hat in unserem kleinen Land sicherlich zweihunderttausend überschritten.“, ADSS 406).

Am 12. Dezember 1942 sendete der Bischof von Riga ein Telegramm an den Papst: „Fast alle Juden werden jetzt getötet.“ (ADSS 448). In einem Vermerk des vatikanischen Staatssekretärs vom 5. Mai 1943 heißt es: „In Polonia stavano, prima della Guerra, circa 4.500.000 di ebrei; neppure 100.000. (…) Speciali campi di morti vicino a Lublino (Treblinka), (…) dove finirebbe sotto l’azione di gas’ („In Polen waren es vor dem Krieg über 4.500.000 Juden, nun nicht einmal 100.000. (...) auf Vernichtung spezialisierte Sonderlager in der Nähe von Lublin (Treblinka), (...), wo Gas eingesetzt werden soll.“, ADSS 174). Der Papst hat dies nie kommentiert. Er ist der Massenvernichtung der Juden nie entgegengetreten.

Wie schätzen sie das ein: Stimmt es, dass ein Protest des Papstes von vorneherein aussichtslos gewesen wäre und die Lage der Juden eher verschlechtert hätte?

Der Papst war die höchste moralische Autorität seiner Zeit. Die Katholiken gehorchten ihm. Dass ein Protest des Papstes das Massaker verlangsamt hätte, war für viele religiöse und weltliche Führer sicher. Dies geht auch aus den Actes et Documents hervor. In einem Telegramm des polnischen Botschafters im Vatikan vom 27. August 1942 heißt es: „La voix du Saint Père, s’élevant en faveur de la Pologne, ne saurrait aggraver la situation des Polonais, mais au contraire, elle pourrait freiner la fureur des Allemands, ou – au moins – de certains Allemands.“ („Die Stimme des Heiligen Vaters, die sich zugunsten Polens erhebt, verschlechtert nicht die Situation der Polen, sondern im Gegenteil, es könnte die Wut der Deutschen dämpfen, oder – zumindest – einiger Deutscher“, ADSS 449). Ein Protest der Papst hätte viele Leben retten können.

Denken Sie nur an den ungarischen Holocaust. Nachdem der US-Präsident Roosevelt an den Heiligen Stuhl appelliert hatte, öffentlich oder zumindest privat zu protestieren, sandte Pius XII. am 25. Juni 1944 ein persönliches Telegramm an Horthy, um gegen die Abschiebung von „unglücklichen Menschen wegen ihrer Nationalität oder Rasse (...) zu protestieren, weil unsere Pflicht verlangt, alle Menschen ohne Ausnahme in Liebe zu umarmen. Darum richte ich an Eure Exzellenz einen persönlichen Appell (...) mit der Gewissheit, dass Ihre Exzellenz alles unternehmen wird, um diesen bedauernswerten Menschen weiter Kummer und Leid zu ersparen.“ Beachten Sie, dass der Papst erneut das Wort „Juden“ vermeidet und die Vernichtung, die Nazis, Hitler oder die deutschen Mörder nicht erwähnt.

Die Demarche des Papstes verfehlte ihre Wirkung nicht. Am 1. Juli 1944 antwortete Horthy dem Papst mit folgendem Text: „Eure Heiligkeit kann sich darauf verlassen, dass ich alles in meiner Macht stehende tue, damit die christlichen und menschlichen Prinzipien eingehalten werden.“ Horthy ließ am 6. Juli 1944 die Deportationen zum Ärger der Deutschen stoppen. Das Auftreten des Papstes hatte also Erfolg. Es bleibt aber die quälende Frage, warum er so lange mit einem solchen Vorstoß gewartet hat, denn zu diesem Zeitpunkt waren schon zwei Drittel der ungarischen Juden deportiert.
 

In Ihrem Buch betrachten sie auch, wie sich die katholische Kirche in der Nachkriegszeit mit ihrer Rolle auseinandersetzte. In einem Kapitel beschreiben Sie, wie katholische Einrichtungen die Herausgabe ihnen anvertrauter jüdischer Kinder an deren überlebende Angehörige verweigern. Lassen sich für ein solches Verhalten andere Erklärungen als ein tief sitzender Antijudaismus finden?

Die Richtlinie von Pius XII., getaufte jüdische Kinder nicht zurückzugeben, war mit Blick auf die Geschichte der Kirche keine Ausnahme. Giovanni Maria Mastai-Feretti, von 1846 bis 1878 Papst unter dem Namen Pius IX., machte vor allem Furore durch die Dogmen der Unfehlbarkeit des Papstes und der Unbefleckten Empfängnis Marias. Weniger bekannt ist, dass er am 23. Juni 1858 Edgardo Mortara, einen sechs Jahre alten jüdischen Jungen, durch die Polizei von Bologna, das damals zum Kirchenstaat gehörte, aus dessen Familie entführen ließ. Der Grund war eher bizarr: Als Edgardo eines Tages ernsthaft erkrankt war, hatte die katholische Haushälterin das Kind ohne Wissen der Eltern getauft. Normalerweise können das nur Priester, aber im Fall von höherer Gewalt wird eine derartige Nottaufe akzeptiert. Nun war das Kind aus Sicht der katholischen Kirche ein Katholik. Eine der antijüdischen Verordnungen dieser Zeit besagte, dass es jüdischen Eltern verboten war, katholische Kinder zu erziehen. Es wurde daher beschlossen, Edgardo gewaltsam zu entführen und dem Vatikan zu übergeben, wo er eine katholische Erziehung bekam. Die Eltern baten vergeblich um ihr Kind. Es folgte ein weltweiter Protest, dem sich sogar der französische Kaiser Napoleon III. und der österreichischen Kaiser Franz Joseph I. anschlossen, doch Pius IX. blieb hart und weigerte sich, das Kind zurückzugeben. Die Angelegenheit wurde erneut aktuell anlässlich der Seligsprechung von Pius IX. im Jahr 2000. Die Kirche verteidigte ihre Entscheidung damit, dass die Entführung getaufter Juden, um sie als Katholiken zu erziehen, „zu jener Zeit üblich war“. Pius XII. folgte dieser Ansicht.
 

Was ist Ihr Fazit in Sachen Pius XII.? Hat der Papst geschwiegen? Wie steht er vor der Geschichte da?

Fürsprecher des Papstes verweisen unablässig auf die Weihnachtsbotschaft von 1942, die über Radio Vatikan ausgestrahlt wurde. Seine Rede dauerte etwa eine Dreiviertelstunde – sie umfasste 26 Seiten mit insgesamt 5.000 Worten – und konzentrierte sich vor allem auf religiöse Themen, im Grunde eine lange und langweilige Vorlesung über die katholische Soziallehre, worüber Mussolini später sagte, dass sie voller Plattitüden gewesen sei. Erst am Ende sprach der Papst einen Satz, der im Allgemeinen die Vergehen der Zeit verurteilte: „Die Menschheit ist diese Verheißung (um die Menschheit zu den göttlichen Geboten zurückführen) den Hunderttausenden, die nicht durch eigene Schuld, sondern manchmal nur wegen ihrer Nationalität oder Herkunft zum Tode oder zu langsamem Sterben verurteilt sind, schuldig.“ Der Papst erwähnte die Juden also nicht ausdrücklich, nicht die Polen, nicht die Nazis oder die Lager. Der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus verstand wie viele andere die Zurückhaltung des Papstes nicht: „Man sagt, dass diese Stimme [Pius XII.] sich hat hören lassen. Aber ich schwöre, dass Millionen von Menschen wie ich sie nie gehört haben.“

Die Präferenz des Vatikans für Faschismus und Nazismus und die ablehnende Haltung gegenüber Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus waren der Grund dafür, dass Pius XII. so seltsam still blieb, als die Juden diskriminiert, verfolgt, deportiert und schließlich vernichtet wurden. Die politischen Interessen der katholischen Kirche hatten offenbar Vorrang gegenüber dem Leben von Millionen von Juden in Europa. Die Schoah war der Preis, den die katholische Kirche zu zahlen bereit war, um ihre Position zu schützen und zu stärken. Es waren schließlich die Nazis, welche den Worten Taten folgen ließen und die grausame Logik ihres Antisemitismus durch die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden in die Praxis umsetzten. Aber das war nur machbar bei Teilnahme von großen Teilen der katholischen und protestantischen Bevölkerung, sowohl in Deutschland als auch in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten. Und dies war wiederum nur möglich, weil der Papst und die meisten kirchlichen Behörden beschlossen hatten, über die größte Katastrophe in der Geschichte Europas zu schweigen und sich nie öffentlich gegen Hitler und sein Naziregime zu wenden.

Die katholische Kirche will Pius XII. dennoch heiligsprechen. Das mag auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinen, und schon gar nicht für nicht-religiöse Menschen oder auch nicht für jene gläubigen Katholiken, die nicht mehr kritiklos alles akzeptieren, was der „Stellvertreter Gottes auf Erden“ sagt. Dass die Kirche jemanden heiligspricht, ob geeignet oder nicht, ist eine Sache der Kirche selbst, so wie jeder Verein beschließen kann, eines seiner Mitglieder auszuzeichnen. Aber angesichts des größten Verbrechens in der Geschichte hat eine solche Heiligsprechung natürlich eine weitaus größere Bedeutung. Damit würde offiziell anerkannt, dass Pius XII. in allem, was er tat, nach Gottes Willen gehandelt hat, und dass seine Einstellung vorbildlich gewesen ist. Das war sie aber nicht. „Die Heiligsprechung Pius XII. wäre, wie die von Pius IX. – dem Feind von Juden und Protestanten, von Menschenrechten, Religionsfreiheit, Demokratie und moderner Kultur – eine vatikanische Farce und eine Verleugnung der jüngsten päpstlichen Schuldbekenntnisse“, sagt Hans Küng. Pius XII. hat versagt. Er war kein Heiliger, sondern ein Feigling.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden. Übersetzt von Rudy Mondelaers. Aschaffenburg: Alibri 2013. 450 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 26.-, ISBN 978-3-86569-076-0

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.

Siehe auch die Rezension des Buches beim hpd.