Interview zu radikal schiitischen Netzwerken in Deutschland

"Ausgangspunkt einer weltweiten islamischen Revolution"

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Al Quds-Marsch Frankfurt am Main 2024: Zwischen den Bildern der iranischen Revolutionsführern Khomeini und Khamenei ist das Konterfei des Offenbacher Imams und Netzwerkgründers Muhammed Avci zu erkennen.
Al Quds-Marsch FFM 2024

Seit dem Raketenangriff der Islamischen Republik auf Israel ist der Iran wieder in den Schlagzeilen. Die Barbarisierung des Nahen Ostens und globale islamistische Betätigungen sind in der DNA des Regimes beheimatet. In Deutschland agieren etliche Funktionäre des schiitischen Islamismus. Am 6. April fand in Frankfurt am Main der Iran-gesteuerte Al Quds-Marsch zur Auslöschung Israels statt. hpd-Autor Moritz Pieczewski-Freimuth bespricht im Interview mit Emil Mink vom Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) die Naivität der deutschen Außenpolitik, die Stellvertreter der Ayatollahs in Deutschland, das Frankfurter Al Quds-Spezifikum und das Paradoxon der Linken.

hpd: Herr Mink, Bundeskanzler Olaf Scholz ergriff in seiner Regierungserklärung nach dem iranischen Raketenangriff auf den jüdischen Staat das Wort und kritisierte, die Islamische Republik würde nun "ohne Scham ihr wahres Gesicht" zeigen. Wie lautet Ihre Position zu solch einer Äußerung? Richtige Einsicht zur passenden Zeit oder 45 Jahre außenpolitischer Dämmerschlaf?

Emil Mink: Wer im Jahr 2024 davon spricht, dass die Islamische Republik Iran nun ihr "wahres Gesicht" zeigen würde, verkennt die Gewalt gegen vermeintliche wie reale innere und äußere Feinde des Mullah-Regimes, die seit der Staatsgründung 1979 zum festen Bestandteil gehört. Das von Ihnen angeführte Scholz-Zitat hat auch in der exil-iranischen Opposition zu einigem Unmut geführt, weil bereits seit Jahrzehnten und besonders im Zuge der "Frau, Leben, Freiheit"-Erhebung 2022 auf die systematische Entrechtung, Verfolgung, Misshandlung und Ermordung seitens des Regimes hingewiesen wird, die der Bundeskanzler anscheinend wieder vergessen hat.

Das Scholz-Zitat steht exemplarisch für ein bundesdeutsches Lavieren in der Außenpolitik, das mit einer vermeintlichen Mittelposition letztlich nur den Status quo und damit die Islamische Republik affirmiert. Bei vergangenen revolutionär-demokratischen Protesten gegen den schiitischen Gottesstaat hat die Bundesregierung beispielsweise beide Seiten zur Mäßigung und Gewaltlosigkeit aufgerufen. Ganz so als könnte man mit den Mördern in Teheran in einen Dialog treten, in dem das beste Argument gewinnt.

Ein Erklärungsansatz für diese Politik der Affirmation sind einerseits die langjährigen guten politischen wie wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Berlin und Teheran: Die Bundesrepublik ist der größte europäische Handelspartner des Iran und das Exportvolumen hat trotz aller Kritik in den letzten zwei Jahren weiter zugenommen, auch im Frühjahr 2024.

Andererseits wird die Islamische Republik fälschlicherweise als kalkulierbare Ordnungsmacht im Nahen Osten verstanden, was auch auf die Erfahrungen des irakischen Aufstands und der Auferstehung des Islamischen Staats nach dem Rückzug der US-Armee 2011 zurückzuführen ist. Dass diese Einschätzung eklatant fehl läuft, zeigen die Verbindungen aus Teheran zu etlichen Milizen und Terrorgruppen im Nahen Osten und darüber hinaus.

Die Bundesregierung hätte etliche Handlungsoptionen gehabt, um den Druck auf das iranische Regime zu erhöhen, wie etwa die Botschaften zu schließen oder gegen regimenahe Zentren in Berlin, Hamburg und Frankfurt vorzugehen. Bei einer der Kernforderungen der iranischen Opposition, die Islamische Revolutionsgarde (IRGC) des Iran auf die EU-Terrorliste zu setzen, hat sich das Außenministerium hinter ein Rechtsgutachten geduckt, das eine Listung angeblich für nicht möglich erklärt. Laut einer Recherche der taz geht diese Haltung der politischen Apathie jedoch nicht aus dem Rechtsgutachten hervor.

Erst vor wenigen Wochen wurde gerichtlich bestätigt, dass die iranischen Revolutionsgarden die Brandanschläge auf eine Synagoge und das Haus eines Rabbiners in NRW vor zwei Jahren orchestriert haben. Dass sich die Bundesregierung nach wie vor gegen diese rechtlichen Schritte sträubt, spricht Bände und geht eventuell auf das Netzwerk regimetreuer Lobbyisten zurück, das auch das Außenministerium der Bundesrepublik beraten und Millionen an Steuergeldern erhalten hat.

Die Bundesregierung muss an ihren Taten und nicht an ihren Worten gemessen werden.

Die kleptokratische Theokratie Iran verübt im Inneren drakonische Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Oppositionellen. Nach außen hat sie sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben. Welche Ideologie liegt der "Islamischen Revolution" zu Grunde?

Die Ideologie der Islamischen Republik geht auf den ersten Revolutionsführer Ruhollah Khomeini zurück, der noch im irakischen Exil ein Manifest für eine schiitische Theokratie entwickelt hat, das unter dem Titel "Der Islamische Staat" veröffentlicht wurde. Khomeinis Diktum "Der Islam ist Politik" widersprach dem noch in den 70ern vorherrschenden Quietismus der schiitischen Geistlichkeit, also der absoluten Passivität in Fragen der Politik. Khomeini entwickelte demgegenüber das Prinzip der "Statthalterschaft der Rechtsgelehrten" (persisch: velayat-e faqih), die Herrschaft der Geistlichkeit und damit die Idee eines schiitischen Gottesstaates, dem die Scharia zur Rechtsgrundlage dient. Von manchen wird diese Ideologie auch als "Khomeinismus" bezeichnet.

Die Islamische Republik richtet sich gegen ethnische und religiöse Minderheiten im Land, verfolgt und ermordet Homosexuelle teils an deutschen Baukränen in aller Öffentlichkeit und degradiert Frauen zu Menschen zweiter Klasse, die systematischer (sexueller) Gewalt ausgesetzt sind. Ein besonders grausames Beispiel ist die rechtliche Anweisung, nach der eine "Jungfrau" (und im Iran gelten alle unverheirateten Frauen wegen der Strafbarkeit außerehelichen Geschlechtsverkehrs offiziell als Jungfrauen) vor ihrer Hinrichtung vergewaltigt werden soll, da Jungfrauen nach islamischem Recht nicht hingerichtet werden dürfen. Jegliche politische Opposition im Inland wird mit Repression überzogen und ausgeschaltet. Im Jahr 1988 kam es zu den größten Massenexekutionen politischer Gefangener im Iran. Innerhalb von fünf Monaten wurden mehr als 30.000 Oppositionelle hingerichtet. Einer der fünf Hauptverantwortlichen für das Massaker, Ebrahim Raisi, ist heute Präsident der Islamischen Republik. Diese Islamische Republik hat die höchste Hinrichtungsquote weltweit, gemessen an der Einwohnerzahl des Landes.

Von Anfang an war diese Idee des Gottesstaates jedoch nicht auf den Iran beschränkt, sondern der Iran sollte bloß als Ausgangspunkt einer weltweiten islamischen Revolution dienen. Ein Jahr nach Gründung der Islamischen Republik ließ Khomeini verlautbaren: "Wir beten nicht den Iran an, wir beten Allah an ... ich sage, soll dieses Land [der Iran] brennen. Ich sage, soll dieses Land in Rauch aufgehen, vorausgesetzt, der Islam erweist sich als siegreich."

"Diese Islamische Republik hat die höchste Hinrichtungsquote weltweit, gemessen an der Einwohnerzahl des Landes."

Dieses Credo ist die Basis des sogenannten Revolutionsexports, der in der Verfassung der Islamischen Republik verankert ist. Auf Basis dieses Revolutionsexports werden zumeist schiitische Milizen im sogenannten schiitischen Halbmond – vom Jemen über Bahrain, den Iran, den Irak, Syrien bis zum Libanon – militärisch und finanziell unterstützt. In Palästina profitieren die sunnitischen Terrorgruppen Hamas und Palästinensischer Islamische Dschihad (PIJ) sowie die marxistisch-säkulare Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) von diesem Revolutionsexport mit Millionensummen.

Auf dieser Basis operieren der iranische Geheimdienst sowie die Revolutionsgarden auch im westlichen Ausland und zielen auf den vermeintlichen äußeren Feind der Islamischen Republik. Gemeint sind zumeist iranische Oppositionelle oder jüdische Einrichtungen und Personen. Der erwähnte Brandanschlag in NRW 2022 ist nur einer der wenigen Angriffe in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Vor wenigen Tagen hat ein Gericht in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires offiziell erklärt, dass die Islamische Republik für einen Bombenanschlag auf das dortige jüdische Zentrum verantwortlich war. Vor fast 30 Jahren hat eine Detonation im Amia-Gemeindezentrum 85 Menschen getötet und mehrere hundert verletzt.

Der Antisemitismus stellt eine tragende ideologische Säule im System der Islamischen Republik dar; Juden gelten als Verschwörer und Nutznießer der Moderne, der jüdische Staat Israel als moderner Fremdkörper in der "Islamischen Welt". Die Idee der Moderne, die das Individuum an die Stelle des Kollektivs und die Gesellschaft an die der Gemeinschaft gestellt hat, stellt eine reale Bedrohung für das Gesellschaftsmodell der Islamischen Republik dar. Die Angriffe auf Israel und die Anschläge auf Juden weltweit sind Ausdruck eines antisemitischen Heilsversprechens, das sich die Welt als eine harmonische vorstellt, sobald sie von den Juden gesäubert würde.

Das heißt die Islamische Republik Iran verfolgt expansive Bestrebungen und trumpft auch hierzulande auf. Wie sehen die Strukturen des schiitischen Islamismus in Deutschland aus?

Da kommt es drauf an, was man betrachten will. Die Netzwerke sind auch hierzulande vielschichtig.

Durchaus gibt es die terroristischen Akteure der Islamischen Republik, die wie im jüngsten Fall in NRW Beziehungen ins kriminelle Milieu unterhalten. Daneben gibt es die Botschaft in Berlin und die konsularischen Vertretungen in Hamburg, Frankfurt am Main und München, die natürlich Querverbindungen zu den Aktivitäten der Geheimdienste und der Revolutionsgarde aufweisen. Als in den 1990er Jahren mehrere Dutzend Oppositionelle in Europa ermordet wurden, die sogenannten Kettenmorde, befand sich die Schaltzentrale für die europäischen Geheimdienstaktivitäten des Regimes im dritten Stock der Bonner Botschaft. Als im Herbst 2022 ein Protestcamp vor der iranischen Botschaft in Berlin zur Unterstützung der "Frau, Leben, Freiheit-Bewegung" aufgebaut wurde, kam es in einer Nacht zu einem Angriff durch einen mit Pistolen bewaffneten Schlägertrupp, der die Protestbanner abriss und sich Zugang zum Wohnwagen verschaffen wollte.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind die bereits erwähnten Netzwerke von Lobbyisten in Thinktanks mit Bezug zur bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Politiklandschaft. Vergangenes Jahr hat eine Recherche des Oppositionssenders Iran International offen gelegt, dass 2014 während einer wichtigen Phase in den Verhandlungen um das Atomabkommen mit der Islamischen Republik ein regimetreues Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikberatern ins Leben gerufen wurde, das die öffentliche Meinung in Nordamerika und Europa zu Gunsten des Regimes beeinflussen sollte. Zum Teil mit erheblichem Erfolg.

Darüber hinaus betreibt das iranische Regime mehrere Moscheevereine und Kulturzentren in Deutschland. Das wohl bekannteste ist das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) und die ihr angegliederte "Imam Ali Moschee". Der Leiter des IZH wird in internen Schreiben als "geehrter Vertreter des Obersten Führers" angesprochen, während der deutsche Verfassungsschutz das IZH wiederum als "wichtigste Vertretung des Iran in Deutschland" beschreibt. Bis vor Kurzem war das IZH noch als Mitglied dem Zentralrat der Muslime angegliedert. Nach einer Hausdurchsuchung wegen Terrorunterstützung wurde die Mitgliedschaft "satzungsgemäß ausgesetzt". In Hamburg betreibt das IZH zugleich die "Islamische Akademie Deutschland", die sich die Ausbildung islamischer Gelehrter zum Ziel gesetzt hat. Für den Bachelorstudiengang "Islamische Theologie" betreibt die Akademie eine Partnerschaft mit der Al-Mustafa-Universität im iranischen Ghom, die wegen der militärischen Rekrutierung für die terroristischen Revolutionsgarden auf der US-Sanktionsliste steht. Die iranische Hochschule steht auch in Kooperation mit dem gleichnamigen Al-Mustafa Institut in Berlin.

Auf Initiative der Hamburger Mutterorganisation IZH wurde 2009 der muslimische Dachverband Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) gegründet, in den mittlerweile mehr als 150 Gemeinden eingebunden sind und in dem das iranische Regime durch seine Vertreterorganisationen federführend ist. Schiitische Muslime verschiedener Herkunft sollen so ideologisch an das IZH und damit an die Islamische Republik angegliedert werden. Auch die Anmeldegemeinde hinter dem Frankfurter Al Quds-Tag ist im schiitischen Dachverband IGS organisiert.

Foto: © Matteo Alba
Teilnehmerinnen des Al Quds-Tages 2024 in FFM mit dem Konterfei des ehemaligen obersten religiösen Führers des Iran Ruhollah Khomeini.
Foto: © Matteo Alba

Ein Aktionsfeld der Ayatollahs auf deutschen Straßen ist der Al Quds-Tag. Dieser wird standesgemäß am Ende des Ramadans begangen. Die Agenda der Demonstration ist streng anti-semitisch – sie beabsichtigt die islamische Eroberung, ergo Zerstörung, Jerusalems und verherrlicht islamistischen Terror. In Berlin wurde dieses Jahr eine entsprechende Kundgebung abgesagt, dafür fanden aber pro-palästinensische Versammlungen statt. Allerdings hielten anlässlich des Al Quds-Tages die Mullah-Vertreter in Frankfurt am Main (FFM) einen Marsch ab. Sie, Herr Mink, veröffentlichten eine Auswertung der Veranstaltung, wo vom türkischsprachigen Avci-Netzwerk – langjähriger Initiator des Quds-Tages – in FFM die Rede ist. Worin besteht die Besonderheit des Frankfurter israelfeindlichen Aufzuges? Welchen Ursprung hat der türkische Ableger des politischen Schiismus?

Tatsächlich war ich zu Beginn der Recherche überrascht, auf ein türkischsprachiges Netzwerk hinter dem Frankfurter Quds-Tag zu treffen und habe mich erst in diesem Zuge angefangen mit türkischsprachigem Schiismus auseinanderzusetzen. Erst dachte ich, es würde sich um eine Gruppe der sunnitischen türkischen Hisbollah handeln, die die Türkei zu einem Gottesstaat nach iranischem Vorbild transformieren will. Auch diese Organisation ist in Hessen aktiv.

In der türkischen Grenzregion zu Aserbaidschan und in Aserbaidschan selbst finden sich türkisch-sprachige Schiiten, die teilweise positiven Bezug zur Islamischen Revolution und ihren Führern aufweisen.

Doch das Netzwerk hinter dem Frankfurter Quds-Tag scheint ein relativ eigenständiges zu sein, das sehr auf den Netzwerkgründer Muhammed Avci zentralisiert ist.

Avci ist als kurdischer Sunnit in der mehrheitlich kurdisch bewohnten Stadt Elazığ in der Osttürkei aufgewachsen und war Prediger in der örtlichen Moschee. Unter der Erfahrung des Putschs des traditionell kemalistisch-säkularen Militärs in der Türkei 1980 einerseits und der erfolgreichen Isla-mischen Revolution im Iran andererseits hat Avci begonnen, sich für den Schiismus zu begeistern. Nach einer mehrjährigen Haft in der Türkei floh Avci mit seiner Familie ins niederländische Exil und suchte Anschluss an regimenahe Zirkel. Kurz darauf reiste Avci in den Iran, ließ sich in der bereits oben erwähnten Stadt Ghom religiös ausbilden, bekannte sich zu Khomeinis Prinzip der "Statthalterschaft der Rechtsgelehrten" und kehrte daraufhin nach Europa zurück, um eigene regimetreue Netzwerke aufzubauen. Es entstanden die ersten Moscheeverbände in den Niederlanden und wenig später in Deutschland.

Auch andere zentrale Akteure des Netzwerks haben kurdischen Hintergrund aus der Türkei, es lässt sich also vermuten, dass sich das Netzwerk aus innerislamischen Konvertiten mit Bezug zu Türkei und Kurdistan rekrutiert. Hierzu passt die Beobachtung der letzten Jahre, dass ganze Familien nach Frankfurt anreisen, um am Al Quds-Tag für die Vernichtung Israels zu demonstrieren.

Demonstriert wurde bis dieses Jahr in geschlechtergetrennten Blöcken mit Flaggen der Islamischen Republik, Palästinas und derjenigen islamischen Staaten, die als Einflussgebiet des iranischen Regimes imaginiert werden: Jemen, Bahrain, Irak, Syrien und Libanon. Zudem waren stets die Konterfeie der obersten Führer Khomeini und Khamenei sowie des Netzwerkgründers Muhammed Avci präsent, der 2019 verstorben ist. Bis zum kompletten Verbot der libanesischen Hisbollah in Deutschland 2020 waren Flaggen der Organisation vor Ort, 2016 wurde gar das Bild des obersten Geistlichen der Hamas, Ahmad Yassin, auf dem Marsch mitgeführt.

Dieses regimetreue Netzwerk um Avci ist es, das den jährlichen Quds- Marsch in Frankfurt organisiert.

Mit dem bestialischen Massaker der Hamas am 7. Oktober erfuhren die sogenannte Palästina-Solidarität und der Islamismus globalen Aufwind. Wie bewerten sie den diesjährigen Al Quds-Tag in Frankfurt? Was war anders in diesem Jahr?

Erst einmal ist festzuhalten, dass dieses Jahr mit etwa 700 Teilnehmern ein neuer Höchststand erreicht wurde. Das liegt sicherlich zum einen am Massaker der Hamas und ihrer Verbündeten am 7. Oktober und der darauffolgenden antisemitischen Mobilmachung mit kontrafaktischen Begriffen wie Genozid, Völkermord und Apartheid. Ein Vokabular, das an ein links-aktivistisches Milieu anschlussfähig ist und auch in diesem Jahr in den Parolen und Reden auf der Demonstration bemüht wurde, zumindest in deutscher und englischer Sprache.

Zugleich war die Mobilisierung unscheinbarer, in deutscher Sprache verfasst und ohne jeglichen direkten Bezug zum Quds-Tag. Um den Mobilisierungsgrad zu erhöhen wurde zusätzlich auf zwei grundsätzliche Prinzipien der vergangenen Jahre verzichtet: Einerseits wurden die Flaggen der Staaten des schiitischen Halbmonds nicht mehr mitgeführt, sondern nur noch Fahnen Palästinas und der Islamischen Republik gezeigt. Andererseits wurde das Prinzip der Geschlechtertrennung auf der Demonstration aufgelöst. Durch die unscheinbarere Mobilisierung, die nach Menschenrechtsaktivismus klingenden Sprechchöre sowie das Aufweichen der islamistischen Außenwirkung wurde die Demonstration attraktiver gestaltet für Teilnehmer außerhalb des Netzwerks, die sich auf Grund des antisemitischen Zeitgeists aktuell aus verschiedenen Spektren rekrutieren.

So waren dieses Jahr auch Teilnehmer aus der antiwestlichen und autoritären Linken, aus dem post-linken Verschwörungsmilieu und aus dem friedenspolitischen Aktivismus auf dem Frankfurter Quds-Tag zugegen. Ein Phänomen, das man beim Berliner Ableger schon länger beobachten konnte.

In der islamistischen Begleitmusik oder auch der auf Türkisch vorgetragenen Rede vom Sohn des Netzwerkgründers Ismail Avci wurde die antisemitische Agenda gegen Israel schon deutlicher. Dass es sich bei der Demonstration am 6. April in Frankfurt um ein zentrales Propaganda-Event des iranischen Regimes handelt, zeigt nicht nur das dahinter stehende Netzwerk, sondern auch die mediale Aufarbeitung des Marschs durch wichtige Auslandsmedien des Regimes und der Revolutionsgarden.

Eine ausführlichere Auswertung der diesjährigen Demonstration wurde vor wenigen Tagen beim Mideast Freedom Forum Berlin veröffentlicht.

Aktuell werden die Stimmen zum Kurswechsel der deutsch-europäischen Iranpolitik lauter. Was muss Ihrer Meinung nach zur Bekämpfung der imperial ausgerichteten Terrorherrschaft des Iran passieren?

Es muss in der Realpolitik eine Kehrtwende um 180 Grad stattfinden. Das heißt kein weiterer "kritischer Dialog" mit dem Regime, kein Weiterführen des Atomabkommens, kein Freigeben von eingefrorenen Geldern an das Regime, mit denen letztlich Revolutionsexport und Terror finanziert werden.

Die Botschaften und konsularischen Vertretungen sollten geschlossen, ihr Personal ausgewiesen werden – bei gleichzeitigem Abschiebestopp für aus dem Iran Geflüchtete.

"Es muss in der Realpolitik eine Kehrtwende um 180 Grad stattfinden"

Die Zusammenarbeit mit den regimenahen Lobbyisten in Politik und Wirtschaft muss aufgekündigt und die finanzielle Unterstützung für Projekte der IGS und ihrer Unterorganisationen, gar zur Extremismusprävention, gestrichen werden. Es braucht eine Schließung der zentralen Schaltstellen und ideologischen Zentren wie dem Islamischen Zentrum Hamburg, der Islamischen Akademie, dem Al-Mustafa Institut in Berlin oder dem Zentrum der Islamischen Kultur in Frankfurt.

Es braucht Sanktionen gegen Mitglieder des Regimes und regimetreue Firmen in Deutschland. Wenn sogenannte Todesrichter für einen Klinikaufenthalt nach Hannover kommen, sollte es nach dem Vorbild des Falles von Hamid Nouri in Schweden internationale Gerichtsprozesse gegen die Mörder geben. Wenn Mitglieder des Regimes und ihre Angehörigen mit Millionensummen Häuserzeilen in Europa kaufen, müssen Untersuchungen eingeleitet werden.

Wenn iranische Banken wegen der Beschaffung von Atomwaffentechnologie auf der US- und Kanada-Sanktionsliste landen, sollte Deutschland nachziehen und diesen Banken nicht stattdessen freie Hand geben. Wenn durch investigative Recherche aufgedeckt wird, dass in Deutschland tätige Unternehmen wie ArvanCloud daran mitarbeiten, den Überwachungsapparat im Iran auszubauen, braucht es staatliche Intervention.

Und natürlich müssen die Islamischen Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste gesetzt werden. All das sind auch Forderungen der iranischen Opposition im Exil, die in ernüchternd realpolitischer Weise darauf pochen, dass die Bundesrepublik das iranische Regime nicht weiter unterstützt. Also die Mindestforderung nach politischer Passivität.

Eine feministische Außenpolitik, die es ernst meint, könnte politische Aufklärungsarbeit über schiitischen Islamismus fördern und sollte die demokratisch-säkulare Opposition im Ausland händeringend unterstützen, anstatt den erfolglosen Dialog mit den misogynen Mördern in Teheran zu bemühen.

Vielen Dank für Ihre Zeit und für das Teilen Ihrer fundierten Kenntnisse, Herr Mink.

Emil Mink ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Für das Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) recherchiert und publiziert er zu den Themen Politischer Islam und Islamische Republik Iran. Zuletzt hat er die Frankfurter Al-Quds-Demonstration dokumentiert und das dahinterliegende Avci-Netzwerk entschlüsselt. Das MFFB ist eine Institution der politischen Bildung und Beratung. Der gemeinnützige Verein setzt sich für die Förderung von demokratischen Prozessen und Menschenrechten im Nahen Osten ein. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Sensibilisierung für die Gefahren des Islamismus und Antisemitismus.

Gerne möchte ich, Moritz Pieczewski-Freimuth, dem Interview ein Schlusswort hinzufügen:

Besonders paradox erscheint mir die Parteinahme der linken Aktivisten für die Islamische Republik Iran, nicht zuletzt am Quds-Tag auf den Straßen Frankfurts. Es ist doch selbstmörderisch: Die Ayatollahs kamen 1979 unter anderem mit Unterstützung aus dem sozialistischen Lager an die Macht. Man geht davon aus, dass viele der einstigen linken Verbündeten später erhängt oder durch brutale Repressionen verfolgt wurden. War es früher federführend die antiimperialistische Haltung der "Zärtlichkeit der Völker" gegen die Brückenköpfe der USA (hier die Schah-Dynastie), wo Linke Allianzen mit Verbrecherorganisationen eingingen, ist es heute der Postkolonialismus, in dem die Islamische Republik Iran, aber auch die von ihr dirigierte Huthi-Miliz zu Advokaten des "Globalen Südens" etikettiert werden. Erst jüngst tauchte in den Sozialen Medien ein Video auf, in dem Palästina-Aktivisten in einer New Yorker U-Bahn die Sprechchöre "Iran you make us proud" und "Jemen you make us proud" skandieren. Unglaublich: Dort bekunden also säkulare, moderne Westler ihre Solidarität mit einem islamistischen Gottesstaat.

Das Interview mit Herrn Mink verdeutlicht einmal mehr, dass die Außen- und Handelspolitik, aber auch die Linke gut beraten wäre, der iranischen Oppositionsbewegung zuzuhören. Sie wissen: Die Wesensmerkmale der Islamischen Republik Iran liegen in der Geschlechterapartheit und im eliminatorischen Antisemitismus begründet. Ayatollah-Stellvertreter nutzen jedes Dialogangebot als Einladung zur Umsetzung des islamischen Revolutionsexportes. Folgerichtig sprühten Dissidenten die Wörter "Hit them, Israel. Iranians are behind you." als Forderung nach einer präzisen militärischen Antwort des jüdischen Staates auf die Raketenangriffe der klerikalen Despotie auf eine Wand im Iran.

Erfreulicherweise betonte auch die "antifaschistische Initiative 7. Oktober Rhein/Main" die Verbundenheit des Kampfes für Frauenemanzipation und gegen Judenhass. Jener Zusammenschluss organisierte eine Protestveranstaltung gegen den Frankfurter Al Quds-Marsch und mobilisierte 200 Demonstranten unter den Slogans "Jin, Jihan, Azadi" (deutsch: Frau, Leben, Freiheit) sowie "Am Yisrael Chai" (deutsch: Lang lebe Israel).

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