Die polizeiliche Gewalt in der Nacht auf Samstag kippte jedoch die soziale Lage in der Ukraine komplett um. Das wurde in westlichen Medien angesichts der bisher vorhandenen Berichterstattung nur von erstaunlich wenigen Journalisten erkannt. Bei der spontanen Demonstration unmittelbar nach der nächtlichen Polizeiattacke sowie bei der am nächsten Tag stattgefundenen "Volksversammlung" von mindestens einer halben Million Menschen ging es den Ukrainern nun einmal um alles andere, als um die Außenpolitik der führenden Macht.
Wogegen Hunderttausende Ukrainer heute protestieren, hat zum ersten Mal in der neusten Geschichte des erst vor 22 Jahren aus totalitären Splittern zusammengeschusterten Landes kaum etwas mit der tatsächlich immer noch gespaltenen nationalen Identität, inländischen kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Unterschieden, im Alltag bevorzugter Sprache oder Unterstützung bestimmter politischer Akteure zu tun. Diesmal geht es den Ukrainern vielmehr um den bereits seit Jahren aus dem Keime der allgegenwärtigen Unzufriedenheit mit eigenen Lebensumständen reifenden Kampf um das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben.
Durch die Konsumkultur – mit schönen Autos und schicker Kleidung, mit Essensdelikatessen und adligem Wein. Durch die Erlebniskultur – mit Urlaubsfotos in der Übersee und mit Filmgeschichten aus Hollywood. Durch alles, was so nah zu sein schien, wurden sie zugleich auf den Zugangscode zu einem solchen Leben hingewiesen.
Dieser Code ist im Banalen verschlüsselt – den drastisch ungleich verteilten Macht- und Kapitalressourcen, die nach 70 Jahren sowjetischer Herrschaft nun in Folge einer kriminellen Privatisierung des ehemaligen staatlichen Eigentums in die Hände eines Haufens von Oligarchen geraten sind. Und obwohl Janukowitsch der dritte Präsident der Ukraine ist, der seine Macht über die Oligarchie ergriff, ist er zugleich der erste und bisher einzige, dem es gelungen ist, eine neofeudale gesellschaftliche Stratifizierung so unverschleiert rechtlich und politisch weiter zu etablieren. Und er wird wohl in die ukrainische Geschichte als der Präsident eingehen, der die Menschenrechtsverletzungen im Lande bis zu dem beispiellosen Affront hochschaukelte. Dabei passte er diesen Höhepunkt an einen für die weltweite Öffentlichkeit günstigen Anlass sowie den neuen geopolitischen Rahmen mit Russland als Weltmachtstreber an.
Nun stellt sich nur eine Frage: Ist die zu einem Drittel aus rechtsradikalen Nationalisten bestehende "Revolutionsfront" genau die Kraft, die im Stande ist, das menschenverachtende System der oligarchischen Macht mit progressiven Reformen auszutarieren? Oder wird es dabei lediglich in einer - in der Ukraine noch nie erprobten - Basis einer staatlichen Gewalt resultieren, die Menschen aufgrund ihrer Sprache, Ethnizität, Religion oder sexueller Orientierung diskriminiert? Genau das scheint die neue essenzielle Frage der "Eurorevolution" in der Ukraine zu sein, die nur mit Druck seitens progressiver liberaler Kräfte richtig zu beantworten ist. Und dieser Druck muss zweifellos aus dem Terrain der großen Hoffnung heutiger Revolutionäre kommen – aus dem Westen, aus der Europäischen Union und ohne Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland.
Danylo Bilyk
(Evolutionäre Humanisten Trier e.V.)