Worum geht es bei dem Massenaufstand?

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Fotos: © Daniel M. Porcedda

KIEW. (hpd). Der sogenannte "Euromaidan" - der seit Tagen andauernde "Pro-EU-Aufstand" in der Ukraine – hat in Wirklichkeit mit der EU genauso wenig zu tun, wie mit jeglicher Art von Befürwortung. Hunderttausende sind aufgestanden, um das seit Jahren von der Oligarchie gesteuerte System der Menschenverachtung im Lande endgültig zu stürzen.

Ein Kommentar von Danylo Bilyk

"Heute wachten wir in Weißrussland auf", - mit dieser Meldung begannen die meisten ukrainischen Bürgeraktivisten, Journalisten und oppositionellen Politiker ihre bereits vor Tagen gestartete ununterbrochene Berichterstattung am vergangenen Samstag. Jeder schrieb und schrie dort, wo er konnte: auf Facebook und Twitter, über Onlinepräsenzen oder auf den über das ganze Land verstreuten Protestdemonstrationen. An jenem Tag, kurz vor dem Sonnenaufgang beging die ukrainische Polizei die wohl grausamste Tat seit dem 22jährigen posttotalitären historischen Wegs des Landes. Mit Knüppeln wurden einige Dutzend Bürgerinnen und Bürger, darunter Teenager und Studenten, mit präzedenzloser Gewalt vom Kiewer Unabhängigkeitsplatz gedrängt. Dabei floss Blut und aus den von einigen Aktivisten aufgenommenen und über das Internet verbreiteten Handyvideos ist eines deutlich: Gewalt war das Ziel des Einsatzes, nicht das Mittel.

Die Polizei ließ selbst flinke Demonstranten ihrer "Strafe" nicht entkommen – Kämpfer der Spezialeinheit "Berkut" (zu Deutsch: "Steinadler") folgten verwirrten, aus dem Schlaf gerissenen Protestierenden bis in die schmalen Gassen der Kiewer Innenstadt und verabreichten ihnen weitere Prügelportionen. Den Knüppeln folgten in schwere Militärstiefel verpackte Füße, die auf wehrlose blutende Protestler so gewaltsam traten, als wären die von der ukrainischen Führung aus dem Gehege ins Freie entlassenen "Steinadler" auf ihrer ersten Jagd nach einem monatelangen Winterhunger gewesen.

Diese Protestaktion, genauso wie Dutzende anderer landesweit, wurde am 21. November vor allem von Bürgerbewegungen ins Leben gerufen. Anlass war, dass die ukrainische Regierung ohne jegliche öffentliche Diskussion die Vorbereitung zur Unterzeichnung des jahrelang erarbeiteten Assoziierungsabkommens mit der EU auf Eis legte, was eher einer Verschwörung, als einer erwogenen Entscheidung des Machtapparats ähnelte. Allen Regeln adäquater diplomatischer Verhandlungen zum Trotz erfuhr die EU-Spitze von der auf einer Sondersitzung der ukrainischen Regierung eilends getroffenen schicksalhaften Entscheidung über ein kurzes Pressestatement des stellvertretenden Ministerpräsidenten Juri Bojko.

Bis zum beschworenen Gipfel zur EU-Ostpartnerschaft in Vilnius Ende vergangener Woche führte die ukrainische Machtspitze ihre westlichen "Partner" unverschämt und konsequent an der Nase herum. Im Endeffekt traute sich Staatspräsident Viktor Janukowitsch sogar persönlich auf dem Gipfel zu erscheinen. Dort benahm er sich, ohne ein einziges Wort mit Journalisten auszutauschen, wie ein Landesherr aus dem feudalem Mittelalter – mit einem bis zu seinem Abschied anhaltenden Grinsen, wie es Gangster aus Hollywood-Filmen so häufig tragen, wenn sie gerade als Sieger aus einer blutigen Schießerei zurückkehren.

Doch offenbar verkalkulierten sich er und sein Team und machten jenen vermeintlichen Sieg zur eigenen Falle. Denn spontan brachen innerhalb weniger Stunden landesweit friedliche Demonstrationen aus. Bewusste Ukrainer fühlten sich nicht so sehr von dem russischen Staatsoberhaupt Putin beängstigt, der dem Lande seit Monaten mit einem wirtschaftlichen Desaster drohte, wie es die in westlichen Medien verbreitete These besagt. Nein, es war das gleichzeitig bei Tausenden Menschen entstandene Gefühl, vom eigenen, demokratisch gewählten Präsident noch einmal über den Tisch gezogen worden zu sein. Und da sie dieser widerwilligen Aktion im Unterschied zu ihrem von sozialen Ungleichheiten überfüllten Alltag diesmal "publik" unterzogen wurden, gingen die ungeduldigsten Bürgerinnen und  Bürger ohne Zögern geschlossen auf die Straße.

Die polizeiliche Gewalt in der Nacht auf Samstag kippte jedoch die soziale Lage in der Ukraine komplett um. Das wurde in westlichen Medien angesichts der bisher vorhandenen Berichterstattung nur von erstaunlich wenigen Journalisten erkannt. Bei der spontanen Demonstration unmittelbar nach der nächtlichen Polizeiattacke sowie bei der am nächsten Tag stattgefundenen "Volksversammlung" von mindestens einer halben Million Menschen ging es den Ukrainern nun einmal um alles andere, als um die Außenpolitik der führenden Macht.

Wogegen Hunderttausende Ukrainer heute protestieren, hat zum ersten Mal in der neusten Geschichte des erst vor 22 Jahren aus totalitären Splittern zusammengeschusterten Landes kaum etwas mit der tatsächlich immer noch gespaltenen nationalen Identität, inländischen kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Unterschieden, im Alltag bevorzugter Sprache oder Unterstützung bestimmter politischer Akteure zu tun. Diesmal geht es den Ukrainern vielmehr um den bereits seit Jahren aus dem Keime der allgegenwärtigen Unzufriedenheit mit eigenen Lebensumständen reifenden Kampf um das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben.

Durch die Konsumkultur – mit schönen Autos und schicker Kleidung, mit Essensdelikatessen und adligem Wein. Durch die Erlebniskultur – mit Urlaubsfotos in der Übersee und mit Filmgeschichten aus Hollywood. Durch alles, was so nah zu sein schien, wurden sie zugleich auf den Zugangscode zu einem solchen Leben hingewiesen.

Dieser Code ist im Banalen verschlüsselt – den drastisch ungleich verteilten Macht- und Kapitalressourcen, die nach 70 Jahren sowjetischer Herrschaft nun in Folge einer kriminellen Privatisierung des ehemaligen staatlichen Eigentums in die Hände eines Haufens von Oligarchen geraten sind. Und obwohl Janukowitsch der dritte Präsident der Ukraine ist, der seine Macht über die Oligarchie ergriff, ist er zugleich der erste und bisher einzige, dem es gelungen ist, eine neofeudale gesellschaftliche Stratifizierung so unverschleiert rechtlich und politisch weiter zu etablieren. Und er wird wohl in die ukrainische Geschichte als der Präsident eingehen, der die Menschenrechtsverletzungen im Lande bis zu dem beispiellosen Affront hochschaukelte. Dabei passte er diesen Höhepunkt an einen für die weltweite Öffentlichkeit günstigen Anlass sowie den neuen geopolitischen Rahmen mit Russland als Weltmachtstreber an.

Nun stellt sich nur eine Frage: Ist die zu einem Drittel aus rechtsradikalen Nationalisten bestehende "Revolutionsfront" genau die Kraft, die im Stande ist, das menschenverachtende System der oligarchischen Macht mit progressiven Reformen auszutarieren? Oder wird es dabei lediglich in einer - in der Ukraine noch nie erprobten - Basis einer staatlichen Gewalt resultieren, die Menschen aufgrund ihrer Sprache, Ethnizität, Religion oder sexueller Orientierung diskriminiert? Genau das scheint die neue essenzielle Frage der "Eurorevolution" in der Ukraine zu sein, die nur mit Druck seitens progressiver liberaler Kräfte richtig zu beantworten ist. Und dieser Druck muss zweifellos aus dem Terrain der großen Hoffnung heutiger Revolutionäre kommen – aus dem Westen, aus der Europäischen Union und ohne Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland.

Danylo Bilyk
(Evolutionäre Humanisten Trier e.V.)