Auf ein paar Worte zum 1. Mai

Vom Standpunkt der Gewerkschaften gesehen leidet der 1. Mai an einem enormen Bedeutungsverlust. Von einer freidenkerisch-

humanistischen Position aus jedoch kann weiterhin vom säkularsten Festtag im Jahreskalender gesprochen werden.

Das wichtigste Indiz für mehr Weltlichkeit in der Fest- und Feierkultur generell ist der Umstand, dass in der Gegenwart nahezu alles Anlass für ein Fest und eine Feier sein kann. So ist der 1. Mai zwar ein Tag wie jeder andere, nur eben arbeitsfrei – und auch frei von Kirchgang oder Demo – Letzteres mag man / frau bedauern.

Wie die Mehrzahl der heutigen Feste bedarf gerade der 1. Mai einer religiösen Überwölbung nicht, schon gar nicht des kirchlichen Zuspruchs. Was den 1. Mai angeht, wäre solches Zutun ein ziemlicher Witz angesichts der gescheiterten Versuche, diesem Fest eine christliche Symbolik zu verpassen. Es passiert hier das genaue Gegenteil zu Himmelfahrt. Zwar finden hier wie zum 1. Mai inzwischen ähnliche bis gleiche Festabläufe statt. Doch hat sich der „Herrentag“ („Männertag“, „Vatertag“ ...) säkularisiert, während die Christianisierung des 1. Mai von vorneherein misslungen ist.

Zwar hat es Versuche gegeben, Arbeitern die säkulare Festlichkeit an einem noch dazu (damals noch) Arbeitstag zu verleiten, doch so sehr die Kirchen früher noch auf diversen Ersatz sannen – vergeblich. So war es am 1. Mai 1893 noch zur Taufe der christlichen Arbeiterbewegung gekommen, zu der zwei Jahre zuvor Papst Leo XIII in der Enzyklika „rerum novarum“ (Über die Arbeiterfrage) aufgerufen hatte.

 

Es war auch wie verhext. Der 1. Mai wollte und wollte nicht christlich gehorchen. Die Kirchen hatten sich nach und nach mit der Christianisierung nahezu alle religiösen Höhepunkte in der mitteleuropäischen Kultur einverleibt und sich fast sämtliche vorchristlichen Feste und Feiern untergeordnet, neu gedeutet oder eben – wie die Walpurgisnacht, die Nacht zum 1. Mai – verteufelt, wenn es nicht klappte. Die christlichen Sinngebungen des heidnischen oder römischen Festkalenders dokumentierten noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts die erreichte enge Verknüpfung von individuellem und natürlichem Kalender mit kirchlichen Ritualen, die das Festliche zügelten, disziplinierten und christlichen Begründungen unterwarfen. Das war besonders bei den gemeinschaftlichen, jahreszeitlichen und familiären Vergesellschaftungsfeiern der Fall, in denen christliche Sinngebungen dominierten. Dazu gehörten Taufe, Kommunion oder Konfirmation, Hochzeit, aber auch Ostern, Pfingsten, Weihnachten und überhaupt der Sonntag.

 

Auf diese Dominanz und wie Freidenker sie sahen, kommen wir noch einmal zurück. Zunächst geht es um die Frage, warum sich der 1. Mai nicht zur Verchristlichung anbot. Dagegen sprachen zwei Gründe: dessen politische Deutungsgeschichte im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung und die bleibende sexuell-heidnische Aufladung der Walpurgisnacht.

 

Zuerst zur Arbeitergeschichte: In diesem Jahr 2007 jährt sich zum 121. Mal der Generalstreik in den USA für den Acht-Stunden-Tag, eine Reaktion auf die Ereignisse von 1886 besonders in Chicago, die als „Haymarket Affair“ in die Geschichte eingegangen sind. Der 1. Tag im Mai war in den USA traditionell als „Moving day“ bekannt. Das war der Stichtag für den Abschluss oder die Aufhebung von Verträgen. Daraus folgten in der Regel Arbeitsplatz- und Wohnungswechsel. Der 8-Stunden-Tag sollte in die neuen Verträge aufgenommen werden. Dafür traten am 1. Mai 1886 rund 400.000 Arbeiter aus 11.000 Betrieben der USA in den Streik. Für 200.000 Arbeiter konnte er wirklich durchgesetzt werden.

Dieser bescheidene Erfolg wurde durch blutige Ereignisse in Chicago überschattet. Die Kundgebung auf einem Marktplatz, dem Heumarkt, endete in Regen, Terror und Chaos. Nach Darstellung der Polizei warfen gottlose Anarchisten eine Bombe auf die anwesende Polizei. Es gab sieben Tote und siebzig Verletzte. Gegen 31 Verdächtige wurde am 27. Mai Anklage erhoben, aber „nur“ acht wurden schließlich vor Gericht gestellt. Davon waren sechs deutsche Einwanderer.

Sieben wurden am Ende der Prozessfarce zum Tode verurteilt, weil, wie der Richter sagte, sie die Sache für gut befunden hätten, das genüge. Vier anarchistische Arbeiterführer (Engel, Fischer, Parsons und Spies) wurden, obwohl auch ihnen – wie gesagt – keine Beteiligung am Anschlag nachgewiesen werden konnte, zum Tode verurteilt und – mit vielen Pannen, äußerst qualvoll und neben einander stehend gleichzeitig am 11.11.! – gehenkt. Die „New Yorker Volkszeitung“ schrieb darüber: „Für einen schnellen und leichten Tod, der sonst jedem Verurteilten peinlichst gesichert wird, hatte man diesmal nicht gesorgt; die vier Männer starben durch Erdrosselung, nach schwerem Kampf.“

Der Martinstag, der 11. November, war in Deutschland – wie in den USA der 1. Mai – auf ähnliche Weise ein „Moving-Day“. Hier wurden Gesinde- und Gesellenverträge neu geschlossen oder beendet. Zugleich war es der Tag des „Zehnten“, der Steuerzahlung und die Martinsgans wurde schnell noch verspeist, ehe sie als Naturalsteuer eingezogen wurde.

Der amerikanische Gewerkschafts-Dachverband „American Federation of Labor" (AFL) bestimmte nach den Ereignissen in Chicago den 1. Mai als Kampftag für einen gesetzlichen Normalarbeitstag von acht Stunden, siehe Anhang 1. Im Juli 1889 beschloss die II. Sozialistische Internationale den 1. Mai 1890 als weltweiten Demonstrationstag für die Acht-Stunden-Forderung – und am 1. Mai 1890 demonstrierten in vielen Ländern Arbeiter für den 8-Stunden-Tag; vgl. Geschichte des 1. Mai.

 

Jetzt zum Feier-1. Mai: Kulturhistorisch gesehen ist der 1. Mai auch deshalb der säkularste Festtag, weil der Frühlingsdruck in den Genen wie der Drang ins frühlingshafte Grüne nie zu disziplinieren war im Sinne christlicher Gottesdienste – trotz diverser Marienkulte, denn: Der Wonnemonat Mai soll seinen Namen nach der Urahnin Maia bzw. Maria erhalten haben, der Maigeborenen. Er ist Ausdruck des Frühlings, der Zeit, die neues Leben bringt, in der das satte Grün sich durchgesetzt hat und die Felder frisch gepflügt und gedüngt sind. Stets war der „Kampftag“ 1. Mai deshalb nur erfolgreich, weil er sich mit Festen im Grünen und die Demonstration sich mit dem Ausflug verbinden ließ. In den Anfangszeiten der 1. Mai-Bewegung war nicht zu unterscheiden, was Ausflug und was Demo war. Wiens christlich-sozialer Bürgermeister Karl Lueger beschimpfte deshalb noch 1904 in einer Sitzung des Landtages die Leute, die am 1. Mai in den Prater schlenderten, als „lauter Lumpen“.

Die ethnologische Literatur beschreibt das Fest als solches als Sphäre der Inszenierung, der Fülle und der Emotionalität im Gegensatz zum Alltag als der Sphäre des Zufalls, des Mangels und der Routine. Feste ordnen das Leben, setzen merkbare Höhepunkte, schützen vor dem Chaos, bedingen Friedenspflicht und erfordern und erzeugen deshalb Rituale (Wiederholbarkeit, Strukturen, Ablauf, Kult), setzen Symbole, transportieren Werte, erzeugen emotionale „Aufladung“ und bringen vor allem Erlebnisse einer gesteigerten Körpererfahrung (Freude, Trauer, Sexualität, Rausch, Kampf, Lachen, Schmerzen, Weinen, Berühren, Trost, Glück ...).

Es versteht sich, dass gerade der Mai von kirchlicher Seite beherrscht werden sollte. Denn bis ins 16. Jahrhundert hinein gab diese Zeit im ganzen ländlichen Europa ausgiebig Raum für sexuelle Freiheiten. Das ging so weit, dass vorhandene Ehegelübde zeitweise außer Kraft gesetzt waren. Vor dem ersten Tag im Mai fanden die großen Frühlingsfestlichkeiten der Hexen statt, wurde ums Feuer getanzt, fanden Mutproben statt, stellte sich sexuelles Begehren in allerlei sittsamen bis obszönen Gebärden dar.

In Deutschland ist dieser Abend als Walpurgisnacht bekannt. Der legendäre Versammlungsort der Hexen während dieser Nacht ist der Brocken (der Blocksberg), der höchste Berg im Harz. Goethe hat dieses wilde Fest im Faust beschrieben, wie die Hexen auf den gehörnten Gott warten. Die Hexen waren keine Engel und auch die besonders keusche Walburga-Heilige brachte keine christliche Vorbild-Abhilfe, weshalb die Hexen zu „ver-teufeln“ und ordentlich zu verbrennen waren.

Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass allerlei mystisch erhöhtes Germanisches sich der Walpurgisnacht zu bemächtigen versuchte. Bereits in den 1890ern war eine rechtsgerichtete „Deutsche Erneuerungsgemeinde“ entstanden. Der spätere Schöpfer des Harzer Bergtheaters (1907) Ernst Wachler – da kommt das beliebte Ausflugsziel eigentlich her! – forderte in seinem 1900 veröffentlichten Mahnruf „Über die Zukunft des deutschen Glaubens“ die Beseitigung des Christentums und dessen Ersetzung durch eine deutsche Weltanschauung. Wachlers Idee einer Waldbühne und seine völkischen Stücke „Hohenstaufen“ und „Walpurgis“ entsprangen einem sozialen Modell. Er wollte den Arbeitern vor dem 1. Mai den „Thing“ schenken, die germanische Ratstätte, samt einer eine aggressiven und nationalistischen Idee vom Vaterland, die später – wir kommen gleich darauf, von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurde, um dem 1. Mai ihren Sinn zu geben.

Auch dieses Jahr gibt es am 28. und 29. April zwar keine kritische Rückschau, aber noch zwei Mal in der Baumannshöhle Rübeland die neue Inszenierung des Faust zu sehen. Und heute Nacht steigt sie wieder – die größte Walpurgisnacht im Harz, am 30. April 2007 auf dem Hexentanzplatz ...

 

Wichtig am 1. Mai-Fest war und ist die völlig säkulare Mahlgemeinschaft, das Ereignis der Fülle an Speisen und Getränken sowie des geordneten Verlaufs des Essens, Trinkens und Zuprostens bis hin zum kollektiven Besäufnis. Kann an religiösen Feiertagen noch irgendein göttliches Ereignis („Abendmahl“) zur Erklärung des Ganzen herangezogen oder einfach mal so wöchentlich sonntags eine Hostie geschluckt werden. Der 1. Mai hat seine eigene Ess-Kultur mit eigener Sinngebung hervorgebracht, v.a. in Anlehnung an die proletarischen Freizeitvergnügungen und die politische Arbeiterbewegung. Beide Vorgänge schufen besonders in den 1920ern eine eigene 1. Mai-Kultur, in der, wie bei jedem Fest, die Freigabe des Exzesses (z.B. des Protestes) in räumlicher und zeitlicher Begrenzung streng geregelt wurde. Der Rausch (der Biergenuss und das dadurch aufgestachelte Selbstbewusstsein) wurde gezähmt, mit Ansprachen gerichtet, der Lärm insgesamt beschränkt und auch darin Ordnung – eine Kundgebungs- und Musik- und Liedkultur – vorgegeben. Wer dazu mehr lesen will, kann sich meine Kulturgeschichte der Arbeiterbewegung einverleiben.

Da jedem Fest eine innere Dynamik innewohnt, auch jedem 1. Mai, war gerade der 1. Mai immer wieder ein besonderer Anlass, auch politisch über die Stränge zu schlagen. Es ist immer gefährlich, wenn sich Volk zusammenrottet und es als festlich empfindet, Feiern einen Eigen-Sinn zu geben. Deshalb neigt man jetzt in allen Großstädten zu dezentralen Stadtteilfesten und „My Fest statt Maifest“

 

Aus der Arbeiter- und Arbeiterbewegungskultur leitete sich folgerichtig ab, dass der Nationalsozialismus den traditionellen Feiergebrauch des 1. Mai beenden wollte und besonders dieses Fest „umwidmen“ musste. In der Walpurgisnacht in diesem Jahr ist zugleich an den 74. Jahrestag der gewaltsamen Eroberung des Berliner Hauses des ADGB durch SA durch die Hintertür der Wallstraße 65 zu erinnern, dem heutigen Sitz des „Humanistischen Verbandes“ . Im Keller dieses Hauses befand sich kurzzeitig ein „wildes KZ“ für die „kleinen“ Gewerkschaftsangestellten für den kurzen Prozess. Die „großen“ Funktionäre, Theodor Leipart u.a., wurden ordentlich verhaftet und ins KZ Oranienburg abtransportiert – und der 1. Mai wurde 1933 erstmals gesetzlicher Feiertag, zum „Tag der Arbeit“, der er bis heute ist.

 

Sollten wir Säkulare uns an der gegenwärtigen unpolitischen Säkularität des 1. Mai erfreuen? Nun ja, wenn der alte politische Sinngehalt des 1. Mai weitgehend verloren gegangen ist, so steht seine Säkularität nicht auf Dauer fest. Humanistinnen und Humanisten haben unabhängig davon, für was oder gegen was sie am 1. Mai politisch eintreten, den säkularsten Festtag des Jahres zu schützen. Denn wenn kulturell ein „Sinn“ verloren geht, kann ein neuer die Platzherrschaft anzutreten versuchen, zu Ostern, Weihnachten oder am 1. Mai.

Freidenker meinten teilweise bis in die zwanziger Jahre hinein, mit der Abstinenz, ja Feindschaft gegenüber kirchlichen Feiertagen auch die Religion beseitigen zu können, als sei die Begründung die Ursache für das Feiern. Diesen Irrtum teilten sie mit den frühen Christen und frühen christlichen Reformatoren, die auf die reine Kraft des Geistes bauten.

So schrieb der sozialdemokratische Vorwärts 1891 (Nr. 102): „Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten – / Euren Festen nach der Reih‘ ... / Von dem ältsten bis zum jüngsten / Gehn wir kalt und fremd vorbei.“ Der 1. Mai war vielen konsequenten Freidenkern in dieser Situation willkommen, weil er so rein unchristlich war und voll und ganz politisch zu sein schien. Vielen von ihnen missfiel deshalb von Beginn an der „Einfach so“-Drang ins Grüne. Kampf sollte unbedingt sein.

Andere Freidenker wiederum dachten über einen Ersatz kirchlicher durch weltliche Feste nach. Sie entfachten einen regelrechten „Kalenderkampf“, denn warum sollte in der industriellen Arbeitsgesellschaft jemand errungene oder tradierte Freizeit aufgeben, auch wenn da Weihnachten war? Weihnachten aufgeben – für einen weiteren Kampftag? Diese Freidenker beförderten eine eigene Festkultur von der Wiege bis zur Bahre, vom der Namensfest über die Jugendweihe bis zur Kremationsfeier.

Als typisch für den Optimismus, diese neue Festkultur zu gestalten, den 1. Mai darin eingeschlossen, kann der Leitspruch des Wiener Arbeiter-Feuerbestattungsvereins Die Flamme von 1926 gelten: „Proletarisch gelebt, proletarisch gestorben und dem Kulturfortschritt entsprechend einfach eingeäschert.“

Diese heroische Freidenkerzeit ist tot? Schaut Euch um, liebe Gottlose, was sich tut am 1. Mai! Es gibt Bemühungen von Christen im Bündnis mit einigen Politikern (so Renate Schmidt, SPD) sich für die Person der Heiligen Walburga zu interessieren. So feierten sie bei der Einweihung von deren Bronzestatue auf dem Walberla am 1. Mai 2000 mit Pastorinnen und Frauenbeauftragten und anderen Gästen einen ökumenischen Gottesdienst unter dem Motto: „Starke Frauen braucht das Land – Walburga, eine mittelalterliche Heilige und Frauen von heute“. Die arme Heilige wurde zu diesem Zweck sogar europäisiert, denn in Deutschland feiert man sie am 25. Februar, nur in England am 1. Mai.

 

Walburga ist gemäß ihrem Namen eine wahre „Trutzburg“ des Christentums und eignet sich hervorragend für einen Mehrfrontenkrieg: gegen den 1. Mai, gegen den Frauentag und gegen weibliche Unmoral in der Walpurgisnacht. Doch Walpurgisnacht und 1. Mai haben schon ganz andere Zumutungen heil überstanden.

 

Horst Groschopp