In der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee gelang ein respektvoller Dialog beim Fachtag "'Beschneidung' & Selbstbestimmung"

"Nachdem ich nun Bescheid weiß, würde ich meine eigenen Kinder intakt aufwachsen lassen"

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In der Ibn Rushd-Goethe Moschee
Ibn Rushd-Goethe Moschee

Am Dienstag, 8. April hatte die Imamin Seyran Ateş zu einem Fachtag "'Beschneidung' & Selbstbestimmung" in die Ibn Rushd-Goethe Moschee Berlin geladen. Dem im Untertitel angekündigten Anspruch, einen "Austausch über intime Verletzungen und Geschlechternormen in Religion, Kultur und Medizin" zu ermöglichen, "um den Mythen, Ängsten, Schamgefühlen und Vorurteilen bei diesem Tabuthema mit Wissen und Bewusstsein zu begegnen" wurde die Veranstaltung voll und ganz gerecht. Von 10 bis 17 Uhr folgte ein interessiertes und äußerst diverses Publikum den Ausführungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und tauschte sich über Erfahrungen sowie Strategien aus, wie künftig mehr Kinderschutz erreicht werden könnte.

Mit dem Vortrag "Was Sie schon immer über die Beschneidung von Jungen wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten" gelang es Dr. Guido Hegazy, (Facharzt für Mikrobiologie und Gründer der Initiative ARGUS), alle Neulinge im Thema abzuholen und Basis-Wissen darüber zu vermitteln, was die Funktion der (Penis-)Vorhaut ist, was bei einer Beschneidung geschieht und welche zwingenden Folgen mit einem solchen Eingriff einhergehen.

Der Vortrag räumte zudem sämtliche Zweifel aus, es gebe keine Männer, die ein Problem mit dem Verlust ihrer Vorhaut hätten. Hier beeindruckte besonders der Markt an Restoring-Geräten, der in den USA schon lange existiert. Es handelt sich um technische Hilfsmittel, mit denen durch Zug an der verbliebenen Schaft-Haut mit jahrelangem geduldigem Dehnen eine Art Pseudo-Vorhaut durch Stimulation des Zellwachstums "nachgezüchtet" werden kann. Allein die Tatsache, dass es solche Geräte gäbe, zeige deutlich, dass es einen Leidensdruck geben muss. Zwar werden in den USA laut Herstellerangaben jährlich "nur" einige tausend Geräte verkauft, aber – so stellte Dr. Hegazy die Frage: "Wie viele Männer müssen leiden, bis einer wirklich diesen Schritt geht und ein solches Gerät erwirbt?"

Sein Lösungsansatz zur Reduzierung unnötiger Vorhaut-Entfernungen an kleinen Jungen in Deutschland (es sind jährlich ca. 28.000) ist, die bereits bestehenden Regelungen und Gesetze wenigstens konsequent anzuwenden. Vor allem eine ausführliche ärztliche Aufklärung der Eltern und des Kindes vor dem Eingriff könnte sicherlich an vielen Stellen dafür sorgen, dass auf die OP verzichtet würde. Auch würde es helfen, wenn die Ärzteschaft sich an die bereits bestehenden Leitlinien hielte, was flächendeckend bisher nicht der Fall sei.

Was steht im Koran?

Kerem Adıgüzel (Koranexeget und Gründer des Vereins Al-Rahman – mit Vernunft und Hingabe) stieg tief in den Korantext ein und ging dabei der Frage nach, was diese Schrift zu "Beschneidung" zu sagen habe. Tatsächlich findet sich im gesamten Koran keine einzige Erwähnung der "Beschneidung" – weder für Männer noch für Frauen. Bedauernswerterweise sei dies selbst Imamen jedoch oft nicht bekannt, von denen man diese Kenntnis des Koran von Berufswegen erwarten würde.

Dafür konnte der Referent viele Zitate vorstellen, die als eine ablehnende Haltung des Koran gegenüber jedweder Beschneidungspraktik verstanden werden könnten, wie etwa die Aussage, dass Gott den Menschen in perfekter Form geschaffen habe oder dass Blutvergießen grundsätzlich zu vermeiden sei.

Auf die Frage, weshalb denn viele Gelehrte heute dann mit Nachdruck gegen weibliche Genitalverstümmelung einträten, die männliche aber befürworten würden, vermutete er, dass es sich hier um eine Art "Wohlfühlkinderschutz" handeln müsse. Es bei Mädchen zu propagieren, käme gerade nicht so gut an, bei Jungs sei das gerade in Deutschland mit der aktuellen Gesetzgebung kein Problem.

Referent*innen des Fachtags, Foto: © Eva Matthes
Referent*innen des Fachtags, Foto: © Eva Matthes

Manasseh und Ephraim Seidenberg, Gründer und Vorsitzende des Schweizer Vereins prepuce.ch stellten ihre Perspektive als Betroffene jüdischer Herkunft vor, denen als Babys die Vorhaut entfernt wurde. Die sogenannte Beschneidung habe für viele Juden der Gegenwart eher die Funktion eines lebenslangen identitätsstiftenden Kennzeichens der Zugehörigkeit beziehungsweise Herkunft, als dass sie religiös motiviert sei. Die Zahl der Eltern, die sich gegen den Eingriff entscheiden, sei höher als man erwarten würde. Nur werde darüber in der Öffentlichkeit wenig gesprochen.

Auch zum Thema Antisemitismus brachten sie einige Gedanken ein. Das Infragestellen der Vorhautamputation werde sehr schnell mit dem Infragestellen des Judentums gleichgesetzt. Es sei oft ein Problem, dass das Judentum in der Debatte über die Vorhaut ständig im Zentrum stünde. Sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Betroffene (welche die überwiegende Mehrheit darstellen) sehen sich dann mit Diskussionen zu religiösen Inhalten konfrontiert anstatt über ihr eigentliches Anliegen – nämlich eine Verletzung mit Folgeschäden, die sie erlitten haben – sprechen zu können.

Die Themen "Antisemitismus" und "Abschneiden der Vorhaut" ähnelten sich allerdings in der Vehemenz, mit der beide gerne vermieden würden. Sich mit beiden Themen auseinanderzusetzen könne aber überhaupt erst die Basis für eine offene Diskussion schaffen.

Aktivismus für genitale Selbstbestimmung

Victor Schiering, Vorsitzender von MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene stellte die Perspektive des Aktivismus für genitale Selbstbestimmung seit dem "Kölner Urteil" in Deutschland vor.

Juristisch sind wir inzwischen soweit, dass wir drei Gesetze für Kinder mit unterschiedlichem Genital haben. Das bei der Geburt als männlich zugewiesene Genital ist grundsätzlich schutzlos gestellt gegenüber dem elterlichen Willen (§ 1631d BGB). Wer mit eindeutig als weiblich eingestuften Genitalien zur Welt gekommen ist, ist vollumfänglich geschützt (§ 226a StGB). Bei dem jüngsten Gesetz (§ 1631e BGB), das sich auf Kinder mit "Varianten der Geschlechtsentwicklung" bezieht, ist gar ein rhetorischer Zirkelschluss zu bestaunen. In der Begründung heißt es: "Auf die Beschneidung der Vorhaut eines Kindes, das nicht männlich im Sinne des § 1631d BGB ist (also auch eines Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung), ist § 1631d BGB dagegen nicht anzuwenden." (Ergänzung der Autorin: Die Frage wie ein "männliches Kind" als solches eindeutig identifizierbar sein könne, wird in 1631d BGB tatsächlich nicht beantwortet und seit Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG) erscheint eine solche Definition sogar juristisch noch absurder. Sofern nämlich das Geschlecht eines Menschen erst durch dessen eigene Aussage offenkundig wird, dürfte es weder einer gesetzlichen Regelung noch Dritten obliegen, darüber zu entscheiden, welcher Paragraph am Genital eines minderjährigen Kindes anzuwenden ist und welche medizinisch nicht indizierten Eingriffe nach Wunsch Erwachsener als "legal" durchgeführt werden können.) Hier trat das Ausmaß kognitiver Dissonanz in den Köpfen vieler MdBs, die sich gebetsmühlenartig für Selbstbestimmung in jeder Hinsicht aussprechen, aber dennoch 2012 dem Paragraphen 1631d zugestimmt haben, deutlich zum Vorschein.

Es sei schwierig, als Aktivist keine Ohnmachtsgefühle zu entwickeln, wenn man als mittelloser Verein oder Zusammenschluss negativ Betroffener durch gut finanzierte öffentliche Stellen permanent verleumdet werde. "Wir haben nicht das Geld und die Reichweite", fasste Victor Schiering zusammen.

Die Angehörigen-Perspektive

Den Abschluss des Tages bildeten Frauen aus der Moschee-Gemeinde, die aus der Perspektive weiblicher Verwandter über die rituelle "Beschneidung" und die damit verbundenen Vorstellungen und Bräuche sprachen.

Dabei wurde eines schnell klar: Die meisten waren tatsächlich zum ersten Mal mit der Thematik dergestalt konfrontiert, dass ein kritisches Hinterfragen überhaupt erst möglich wurde. In der Regel werde grundsätzlich wenig darüber nachgedacht. Der Tenor war bislang eher ein "wir haben das halt schon immer so gemacht". Einhellig waren die Frauen der Auffassung: "Nachdem ich die Vorträge heute gehört habe, würde ich das bei keinem Jungen mehr machen lassen."

Ein anwesender erwachsener Sohn sagte für sich selbst zwar aus, er trage es seiner Mutter nicht nach, werde aber – spätestens nach dem Vortag von Dr. Hegazy – seine eigenen Söhne auf jeden Fall intakt aufwachsen lassen.

In einer Abschlussrunde saßen nochmals alle Referent*innen auf dem Podium und es wurde vorwiegend über Geschlechterverhältnisse reflektiert. Angeprangert wurde unter anderem, dass bei den sogenannten "Bescheidungs-Hochzeiten" in muslimischen Familien das Patriarchat abgefeiert werde. Da es sich um einen Brauch handele, der meist nur die Jungen betraf, seien es auch ausschließlich die Jungs, die so im Mittelpunkt stehen und an diesem Tag "zum Mann" werden sollen. Eine Frau erhalte ihren Wert erst durch einen Sohn. Frauen seien oft diejenigen, die die Zeremonie verlassen, weil es ihnen zu viel werde – Männer belächelten dies gern. Insgesamt sei hier noch viel in Richtung Gleichstellung zu unternehmen und gerade auch medizinische Aufklärung fehle an allen Ecken und Enden.

Vorurteile erkennen und aus der Welt schaffen

Die Ibn Rushd-Goethe Moschee zeigte sich als ein Ort, an dem die Bestrebung, Vorurteile zu erkennen und aus der Welt zu schaffen, sehr im Vordergrund steht. Die Flyer "Liebe ist Halal" leisten hier einen wichtigen Beitrag. Die "Come as you are"-Mentalität in diesem Haus wirkte auch für den Fachtag als gute Grundlage, offen und respektvoll miteinander ins Gespräch zu kommen.

"Wir kämpfen gegen Goliath, gegen riesige Mächte", fasste Seyran Ateş den Tag zusammen. "Aber die Welt hat sich immer verändert durch das Handeln einzelner, die damit angefangen haben." Da ist etwas dran – und dieser Fachtag in der Ibn Rushd-Goethe-Moschee hat zu dieser Veränderung einen kleinen, aber sehr wichtigen Teil beigetragen.

Der Impuls von Dr. Hegazy wird als Online-Vortrag am 15. Mai um 20:15 Uhr im "Humanistischen Campus" zu hören sein. Weitere Informationen hier.

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