Die Gottesdebatte (Teil 2)

Atheist und Buchautor ("The End of Faith") Sam Harris gegen den evangelikalen Pastor Rick Warren im zweiten Teil der Gottesdebatte.

WARREN: Wir beide stehen in einer Beziehung zum Glauben. Sie glauben, dass es keinen Gott gibt. 1974 lebte ich den Großteil des Jahres in Japan und studierte alle Weltreligionen. Alle diese Religionen weisen grundsätzlich auf die Wahrheit hin. Buddha machte seine berühmte Aussage am Ende seines Lebens: "Ich suche immer noch nach der Wahrheit." Mohammed sagte: "Ich bin ein Prophet der Wahrheit." Die Veden sagen: "Die Wahrheit ist schwer zu fassen, wie ein Schmetterling, du musst nach ihr suchen." Dann kommt Jesus vorbei und sagt: "Ich bin die Wahrheit." Plötzlich erzwingt das eine Entscheidung.

HARRIS: Viele, viele andere Propheten und Gurus haben das auch gesagt.

WARREN: Hier ist der Unterschied. Jesus sagt: "Ich bin der alleinige Weg zu Gott. Ich bin der Weg zum Vater." Entweder lügt er oder nicht.

Sam, ist Rick intellektuell unredlich?

HARRIS: Ich würde es nicht so gehässig ausdrücken, aber -

Tun wir so, als ob Rick nicht hier wäre und wir uns zufällig in seinem Büro aufhielten.

HARRIS: Es ist intellektuell unredlich, ganz offen, wenn Sie sagen, dass Sie sicher sind, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde.

WARREN: Ich akzeptiere dies durch meinen Glauben. Und ich meine, dass es von Ihnen intellektuell unredlich ist, zu behaupten, dass Sie Beweise dafür haben, dass es nicht geschehen ist. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir. Ich stehe der Möglichkeit offen gegenüber, dass ich in manchen Bereichen falsch liege. Sie nicht.

HARRIS: Oh, ich stehe dem durchaus offen gegenüber.

WARREN: Also stehen Sie der Möglichkeit offen gegenüber, dass Sie sich bei Jesus irren könnten?

HARRIS: Und Zeus. Absolut.

WARREN: Und was unternehmen Sie, um das zu untersuchen?

HARRIS: Ich betrachte dies als Ereignis mit einer so geringen Wahrscheinlichkeit, dass ich -

WARREN: Eine geringe Wahrscheinlichkeit? Mit 96 Prozent Gläubigen auf der Welt? Ist jeder andere ein Schwachkopf?

HARRIS: Es ist gut möglich, dass die meisten Menschen falsch liegen - so, wie die meisten [US-]Amerikaner glauben, dass die Evolution nicht stattfand.

WARREN: Das ist eine arrogante Position.

HARRIS: Es ist eine ehrliche Position.

Rick, wären Sie in Ägypten oder im Iran geboren, hätten Sie dann einen anderen religiösen Glauben?

WARREN: Zweifellos beeinflusst, wo Sie geboren sind, Ihren anfänglichen Glauben. Unabhängig vom Geburtsort gibt es manches, was Sie über Gott wissen können, sogar ohne die Bibel. Zum Beispiel blicke ich auf diese Welt und sage: "Gott mag Vielfalt." Ich behaupte: "Gott mag Schönheit." Ich behaupte: "Gott mag Ordnung." Und je mehr wir die Ökologie verstehen, desto mehr verstehen wir, wie empfindlich diese Ordnung ist.

HARRIS: Dann mag Gott auch Pocken und Tuberkulose.

WARREN: Ich würde eine Menge dieser Sünden in der Welt mir selbst zuschreiben.

HARRIS: Sind Sie für Pocken verantwortlich?

WARREN: Ich bin verantwortlich dafür, etwas dagegen zu tun. Ohne Zweifel. Ich bin dafür verantwortlich, etwas gegen die 500 Millionen zu unternehmen, die jedes Jahr Malaria bekommen, und die 40 Millionen, die AIDS haben, weil ich für mein Leben verantwortlich gemacht werde. Und wenn ich frage: "Gott, warum unternimmst du nichts dagegen?" wird Gott antworten: "Nun, warum tust du nichts? Du warst selbst die Antwort auf dein Gebet."

HARRIS: Ich gebe Rick völlig Recht: Es liegt in unserer Verantwortung, diese Ungerechtigkeiten zu begradigen, aber ich glaube, dass Sie möglicherweise noch motivierter werden, Menschen zu helfen, wenn Sie sich klar machen, dass es keinen guten Grund, sicherlich keinen übernatürlichen guten Grund, für die Tatsache gibt, dass ich so viel habe und mein Nachbar so wenig hat.

Glauben Sie, dass religiös motivierte gute Taten tatsächlich schädlich sind?

HARRIS: Was mich an glaubensbasiertem Altruismus ärgert, ist, dass er mit religiösen Gedanken durchdrungen ist, die nichts mit dem Lindern des menschlichen Leids zu tun haben. Nehmen wir einen christlichen Priester in Afrika, der wirklich Gutes tut, Hungernden hilft, Kranke behandelt. Und doch, als Teil seiner Arbeit, glaubt er, die Göttlichkeit Jesus' in Gemeinschaften predigen zu müssen, in denen wörtlich Millionen von Menschen wegen interreligiöser Konflikte zwischen Christen und Moslems getötet wurden und werden. Dieses Extra erscheint mir unnötiges Leid zu verursachen. Ich würde dort lieber jemand sehen, der einfach nur die Hungernden speist und die Kranken behandelt.

WARREN: Sie würden lieber jemanden - einen Atheisten - die Hungernden speisen sehen als jemanden, der an Gott glaubt? Alle großen fortschrittlichen Strömungen in der westlichen Zivilisation wurden von Gläubigen getragen. Es waren Priester, die die Abschaffung der Sklaverei voranbrachten. Es waren Priester, die das Frauenwahlrecht voranbrachten. Es waren Priester, welche die Bürgerrechtsbewegung anführten. Nicht Atheisten.

HARRIS: Sie erwähnen Sklaverei - das finde ich ziemlich ironisch. Sklaverei, alles in allem, wird von der Bibel befürwortet und nicht von ihr verdammt. Sie wird im Alten Testament sehr ausdrücklich befürwortet, wie Sie wissen. Paulus befürwortet sie im 1. Brief an Timotheus, im Epheser- und im Kolosser-Brief und Petrus -

WARREN: Nein, macht er nicht. Er lässt sie zu. Er befürwortet sie nicht.

HARRIS: Ok, er lässt sie zu. Ich behaupte, dass wir die Sklaverei nicht losgeworden sind, weil wir die Bibel genauer gelesen haben. Wir sind die Sklaverei trotz der tiefgreifenden Unzulänglichkeiten der Bibel losgeworden. Wir haben die Sklaverei hinter uns gelassen, weil uns klar wurde, dass es zutiefst bösartig war, menschliche Wesen wie landwirtschaftliche Geräte zu behandeln. So wie es das auch immer noch ist.

Rick, was ist Ihre Rolle als Priester, wenn es darum geht, die Reformation anderer Glaubenssysteme zu ermutigen?

WARREN: Alle großen Fragen des 21. Jahrhunderts werden religiöse Fragen sein. Wird der Islam sich friedlich modernisieren? Wie werden die Moslems auf das säkulare Europa einwirken, welches seinen Glauben an das Christentum verlor und nichts hat, um diesem Verlust an Religiösem entgegenzuwirken? Was wird den Marxismus in China ersetzen? Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es das Christentum sein. Wird Amerika zu seinen historischen Wurzeln zurückkehren - wird es eine dritte religiöse Erweckung geben? Oder wird Amerika den Weg Europas beschreiten?

HARRIS: Die Antworten, spirituell und ethisch, werden, meiner Ansicht nach, nicht konfessionsgebunden sein. Wir leiden derzeit unter der Konfrontation von Konfessionen, speziell mit dem Islam. Was immer wahr über uns sein mag, es ist nicht christlich. Und es ist nicht moslemisch. Physik ist nicht christlich, obwohl sie von Christen erfunden wurde. Algebra ist nicht moslemisch, obwohl sie von Moslems erfunden wurde. Wann immer wir der Wahrheit nahe kommen, überschreiten wir Kulturen, überschreiten wir unsere Erziehung. Die Entwicklung der Wissenschaft ist ein gutes Beispiel dafür, wo wir die Hoffnung bewahren können, unseren Stammesdünkel zu überwinden.

WARREN: Warum ist Atheismus nicht ansprechender, wenn er angeblich intellektuell am ehrlichsten ist?

HARRIS: Offen gesagt hat er eine furchtbare PR-Kampagne.

WARREN: [Lacht] Es liegt nicht an der Werbung.

HARRIS: Es kommt direkt nach Kinderschändern als etwas, das man nicht sein möchte. Aber dies ist ein Ergebnis, behaupte ich, von dem, was sich religiöse Menschen untereinander über den Atheismus erzählen.

Sam, eine Sache finde ich an Ihren Argumenten wirklich Besorgnis erregend: Ich werde, um "The End of Faith" zu zitieren, einer "wahnwitzigen Obszönität" beschuldigt, wenn ich meine Kinder zur Kirche mitnehme. Das ist ziemlich hart ausgedrückt und es fördert nicht gerade den Dialog.

HARRIS: Zu einem gewissen Teil rührt die Schärfe meiner Worte vom Bemühen, Aufmerksamkeit bei den Menschen zu erregen. Aber ich kann diese Schärfe ehrlich verteidigen, weil ich denke, dass unsere Lage so dringend ist. Ich bin erschrocken über das, was mir als Flaschenhals erscheint, den die Zivilisation gerade durchschreitet. Einerseits haben wir die Verbreitung der atemberaubenden Technologie des 21. Jahrhunderts, andererseits haben wir Aberglauben des 1. Jahrhunderts. Eine Zivilisation wird entweder halbwegs unbeschadet diesen Flaschenhals durchlaufen oder eben nicht. Und vielleicht klingt diese Furcht vollmundig, aber Zivilisationen enden. Schon häufig hat eine Generation die Zerstörung all dessen, was sie und ihre Vorfahren erbaut hatten, miterlebt. Was mich besonders an religiösem Denken erschreckt, ist die Erwartung bei vielen, dass, basierend auf Prophezeiungen, die Zivilisation zu einem Ende verdammt ist und dies Ende glorreich sein wird.

WARREN: Ich glaube, dass sich die Geschichte wegen der Wiederauferstehung in ein v. Chr. und ein n. Chr. aufteilt. Und die Wiederauferstehung ist nicht nur die Wiederauferstehung des Jesus Christus, sie ist die Hoffnung der Welt. Sie besagt, dass es in diesem Leben mehr gibt als nur das hier und jetzt. Das bedeutet nicht, dass ich mich weniger bemühe, es bedeutet, dass dieses Leben eine Prüfung ist, es ist ein Anvertrauen und es ist ein vorübergehender Auftrag. Wenn der Tod das Ende bedeutet, Peng, werde ich keine weitere Minute damit vergeuden, altruistisch zu sein.

HARRIS: Wie erklären Sie sich meinen Altruismus?

WARREN: Sie haben allgemeinen Respekt. Sogar in Menschen, die nicht an Gott glauben, gibt es einen Funken, den Gott in sie gebracht hat und der sagt: "Es muss mehr im Leben geben als nur Geld verdienen und sterben." Dieser Funke, glaube ich, entstammt nicht der Evolution.

Sam schrieb, dass ohne Tod der Einfluss einer glaubensbasierten Religion undenkbar wäre.

WARREN: Weil wir nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden, wurden wir geschaffen, um für immer zu bleiben. Das bedeutet, ich werde mehr Zeit auf jener Seite der Ewigkeit verbringen als auf dieser. Würde ich nicht an das Jüngste Gericht glauben, wenn ich glaubte, dass Hitler mit allem, was er tat, davon käme, wäre das ein Grund für tiefe Verzweiflung. Tatsächlich glaube ich daran, dass es ein Jüngstes Gericht geben wird. Gott ist nicht nur ein Gott der Liebe. Er ist ein Gott der Gerechtigkeit. Deshalb hat der Tod einen Sinn. Andererseits, selbst wenn es so etwas wie einen Himmel nicht gäbe, würde ich mich Christus anvertrauen, weil ich es als bedeutungsvolle, erfüllende und maßgebliche Art des Lebens erkannt habe.

HARRIS: Ist es fair von Gott gewesen, eine Welt zu erschaffen, die so unklare Zeugnisse seiner Existenz enthält? Wie kann es gerecht sein, ein System zu erschaffen, in dem Glaube der entscheidende Teil ist, anstatt ein guter Mensch zu sein? Wie kann es gerecht sein, eine Welt zu erschaffen, in der, durch den reinen Zufall der Geburt, jemand als Moslem aufwächst und damit durch eine falsche Religion verwirrt wird? Ich erkenne nicht, wie die Zukunft der Menschheit mit diesen konkurrierenden Konfessionen wohlbehütet sein könnte.

Rick, mal unverblümt: Ist Sams Seele, Ihrer Ansicht nach, gefährdet, weil er Jesus zurückgewiesen hat?

WARREN: Die politisch inkorrekte Antwort lautet "ja".

HARRIS: Ist das die ehrliche Antwort?

WARREN: Die Wahrheit ist, dass Religionen sich gegenseitig aussschließen. Wer sagt: "Ich glaube an alle", ist ein Schwachkopf, weil die Religionen einander geradeheraus widersprechen. Sie können nicht an Wiedergeburt und Himmel gleichzeitig glauben.

Sam, mal ebenfalls unverblümt: Hat Rick, Ihrer Ansicht nach, einen Großteil seines Lebens im Namen eines Evangeliums vergeudet, das Sie für einen Aberglauben aus dem 1. Jahrhundert halten?

HARRIS: Ich würde es nicht so krass ausdrücken, weil ich nicht so eine starre Ansicht habe, wie jemand sein Leben verbringen sollte, um es nicht zu vergeuden.

WARREN: Was ist Ihre politisch inkorrekte Antwort?

HARRIS: Ich glaube, Sie könnten Ihre Zeit und Aufmerksamkeit besser verwenden, als Ihr Leben um den Glauben herum zu organisieren, dass die Bibel das getreue Wort Gottes ist und es das beste Buch sei, das wir jemals über jedes wichtige Thema haben werden.

In der Sicht von Sam Harris, wie würde die ideale Welt aussehen?

HARRIS: Gerade jetzt müssen wir die Regeln ändern, nach denen wir über Gott, spirituelle Erfahrungen und ethische Werte sprechen. Und ich weise zurück, dass dem so ist. Sie können Ihre Spriritualität haben. Sie können sich in eine Höhle zurückziehen, meditieren und sich selbst verändern. Wir können dann darüber sprechen, weshalb das geschah und wie es sich wiederholen ließe. Wir könnten uns sogar wünschen, dass es, aus vollkommen rationalen Gründen, einen Sabbath, einen echten Sabbath, in diesem Lande gäbe. Wir sollten uns klar machen, dass eine Kraft darin liegt, die Geheimnisses des Universums zu erkunden, indem wir uns selbst ins Bewusstsein rufen, wie sehr wir die Menschen lieben, die uns am Nächsten sind und um wie vieles mehr wir die Menschen lieben könnten, die wir noch nicht getroffen haben. Es gibt nichts, an das wir wegen unzureichender Beweise glauben müssten, um über diese Möglichkeit zu reden.

WARREN: Sam, glauben Sie, dass menschliche Wesen eine Seele haben?

HARRIS: Es gibt viele Gründe, nicht an eine naive Auffassung einer Seele zu glauben, die irgendwie aus dem Gehirn beim Tod davon schwebt und irgendwo hintreibt. Aber ich weiß es nicht.

WARREN: Kann man Spiritualität ohne eine Seele haben?

HARRIS: Man kann sich eins mit dem Universum fühlen.

WARREN: Ok, Warum gehen Sie dann nicht einfach den nächsten Schritt? Gerade jetzt sprechen Sie nämlich in sehr irrationalen Worten.

HARRIS: Da ist nichts Irrationales dabei. In der Meditation kann man seine Augen schließen und das Gespür für seinen Körper verlieren, völlig. Viele Menschen ziehen daraus den metaphysischen Schluss: "Ich bin nur noch Geist und kann den Körper überwinden." Das ist nicht der einzige Schluss, den man aus dieser Erfahrung ziehen kann, und, meiner Meinung nach, nicht der beste.

WARREN: Sie sind spritueller als Sie glauben. Sie wollen nur keinen Boss. Sie mögen keinen Gott, der Ihnen sagt, wo es lang geht.

HARRIS: Ich möchte keine Sicherheit vortäuschen, wo ich unsicher bin.

Rick, letzte Gedanken?

WARREN: Ich glaube sowohl an den Glauben wie an die Vernunft. Je mehr wir über Gott lernen, desto mehr verstehen wir, wir großartig dieses Universum ist. Ich erkenne darin keinen Gegensatz. Wenn ich auf die Geschichte blicke, stimme ich mit Sam nicht überein: Das Christentum hat bei weitem mehr Gutes als Schlechtes bewirkt. Altruismus rührt vom Wissen, dass es mehr als dieses Leben gibt, dass es einen höchsten Gott gibt, dass ich nicht Gott bin. Wir wetten beide. Er verwettet sein Leben, dass er Recht hat. Ich verwette mein Leben, dass Jesus kein Lügner war. Wenn wir sterben und er hat Recht, habe ich nichts verloren. Wenn ich Recht habe, hat er alles verloren. Ich bin nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.

 

 

Übersetzer: Volker Radek
Lektor: Andreas Müller

Original: Newsweek, 9. April 2007

Hier finden Sie einen Vergleich der Originaldebatte mit Volker Radeks Übersetzung.

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