„Gott ist eine Erfindung des Menschen“

HAMBURG. (hpd) Der frühere Theologe und evangelische Pastor Paul Schulz – heute Autor und bekennender Atheist – und kürzlich erst in den Medien

präsent gewesen, beging am 29. August seinen 70. Geburtstag. Joachim Kahl umreißt die einzelnen Lebensabschnitte und stellte eine interessante Biografie des Jubilars in einer Festrede am 2. September vor.

 

 

Lieber Paul Schulz, liebe Ute Kaehler, liebe Angehörige des Jubilars, verehrte Gäste,

herzlichen Glückwunsch zum siebzigsten Geburtstag eines Mannes, der bereits als fünfjähriger Knabe davon träumte, als Pastor von einer Kirchenkanzel zu einer Gemeinde zu predigen. Jetzt allerdings erlebt er den krönenden Abschluss seines beruflichen Wirkens als weltlicher Erwachsenenbildner: als Gründer und Leiter der „senioren-akademie alstertal“ in Hamburg, einer Bildungseinrichtung für die ältere Generation, die sich ohne alle öffentlichen Zuschüsse allein aus den Gebühren der Teilnehmenden finanziert. Dass auch die weichen Werte, die ideellen Güter wie Kunst, Literatur, Philosophie ihren Preis haben und bezahlt werden müssen, ist eine unverrückbare Erkenntnis aus Paul Schulz’ zweitem Lebensabschnitt als Führungskraft in der freien Wirtschaft.

 

Fast bilderbuchartig lässt sich seine Biographie klar in drei Etappen untergliedern:

  • in die erste und längste, die christlich-theologische, die bis zu seinem einundvierzigsten Lebensjahr reichte und gegen seinen Willen durch die Entlassung aus dem Pfarramt schroff und kalt, wenn auch nach heftigen Kämpfen, beendet wurde,
  • in die dritte und aktuelle, seit 1996 währende Etappe, in der er als Seminarleiter und Reiseleiter für eine zeitgemäße Bildungsarbeit im Dienste der „Generation 50 plus“ tätig ist, einer Generation, die über einen früher unbekannten Alterswohlstand verfügt und damit auch ihren bewundernswerten Bildungshunger und Wissensdurst befriedigen kann,
  • und schließlich in die zweite, mittlere Etappe, die scheinbar aus dem Rahmen fällt, aber in Wahrheit einen Block nachholender Lehrjahre enthält, Lehrjahre, in denen die religiös-idealistischen Vorstellungen des jungen Theologen auf den Prüfstand kamen und oft der ökonomisch determinierten Realität nicht standhielten und „verbrannten“, wie Paul Schulz heute gerne sagt.

 

Wer ist Paul Schulz? Geboren am 29. August 1937 in Frankfurt an der Oder, ist er seit Jahrzehnten in Hamburg an der Elbe zu Hause. Hier empfing er seine prägenden kulturellen Einflüsse im Sinne des Hanseatentums. Paul Schulz ist eine weltläufige, weltkluge, welterfahrene Persönlichkeit von urbaner Lebensart. Seine gepflegte, ja elegante Erscheinung verrät ein Gespür für die Kunst der Inszenierung. Der Modernität verpflichtet, war er nie dem postmodernen Schnickschnack mancher akademischer Richtungen verfallen. Seine einmal gefassten Ziele verfolgt er hartnäckig und streitbar. Als Persönlichkeit voller Tatendrang und Führungsstärke liebt er die sprachliche Zuspitzung, ja Übertreibung. Pointierte Antithesen finden sich häufig bei ihm. „Kontra“ und „Kontra geben“ gehören zu seinem Lieblingswortschatz und verraten seine Neigung zu einer eher konfrontativen Rhetorik. Als ergebnisorientierter Leistungsträger vermeidet er endloses Palaver.

Erwähnenswert, weil symbolträchtig für seinen geistigen Werdegang, sind die beiden Ausbildungsstätten, an denen er seinen geistigen Schliff erhielt. In Hamburg besuchte er eine berühmte Eliteschule, das Gymnasium Johanneum, wo er das Abitur mit den alten Sprachen Latein, Griechisch, Hebräisch ablegte und damit zielstrebig auf den Pastorenberuf vorbereitet wurde.

An der nordbayerischen Universität Erlangen promovierte er – einige Jahre später – bei dem Neutestamentler Professor Ethelbert Stauffer über den „Lehrer der Gerechtigkeit“ in den seinerzeit viel diskutierten Qumran - Texten. Spätestens bei Stauffer wurde auch sein Interesse am historischen Jesus geweckt, das sein geistiges Profil bis heute prägt. Ungewöhnlich für einen Denker seiner Richtung, versteht Schulz sich auch heute – nach allen Wandlungen und Häutungen – als „Atheist für Jesus“, als säkular-humanistischer „Jesuaner“.

Weshalb erwähne ich eigens die beiden Bildungsstätten in Hamburg und in Erlangen? Nicht nur aus Chronistenpflicht. Denn beide Institutionen halfen nicht einfach nur den lutherischen Theologen Paul Schulz auszubilden. In ihrem historischen Unter- und Hintergrund zählten sie auch jeweils einen prominenten Religions- und Christentumskritiker in ihren Reihen, in deren Fußstapfen später Paul Schulz getreten ist.

Am Akademischen Gymnasium Johanneum unterrichtete einst Professor Hermann Samuel Reimarus. Er unternahm Ende des achtzehnten Jahrhunderts den schärfsten Angriff auf das Christentum, den Deutschland bis dahin erlebt hatte. In seinen Arbeiten, die er freilich zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen wagte und die kein Geringerer als Gotthold Ephraim Lessing erst postum als die „Fragmente eines Ungenannten“ herausgab, bestritt Reimarus die Auferstehung Jesu von den Toten. Nach dem für sie enttäuschenden Kreuzestod ihrer Leitfigur hätten die Jünger den Leichnam aus dem Grab beiseite geschafft. An die Stelle der einfachen sittlichen Botschaft, die Jesus gepredigt habe, hätten sie dann den Auferstehungsmythos gesetzt. Eine freche Provokation des Gymnasialprofessors, die eine lange berühmte Debatte zwischen Lessing und dem Hamburger Hauptpastor Goeze auslöste. Was Paul Schulz über Jesus von Nazareth sagt, lässt sich durchaus als eine Modernisierung Reimarusscher Ansätze verstehen.

Und an der Erlanger Universität, deren noch lateinisch abgefasste Promotionsurkunde in Paul Schulz’ Arbeitszimmer unübersehbar an der Wand hängt, wurden nicht nur konservative Lutheraner auf das geistliche Amt vorbereitet. Dort studierte und lehrte auch Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Ludwig Feuerbach, eine Schlüsselfigur des neuzeitlichen Atheismus und Materialismus, auf die sich Paul Schulz immer wieder berufen hat und zu Recht bis heute beruft.

Die aufregendste und publizitätsträchtigste Zeit in Paul Schulz’ Leben waren ohne Zweifel die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. 1966 zum Pastor der Hamburgischen Landeskirche ordiniert, hatte er seit 1970 eine Pfarrstelle an der Hauptkirche St. Jakobi inne. Wie viele junge Theologen blieb auch er nicht unbeeinflusst von den Ideen der Achtundsechziger-Bewegung und sorgte so bald für produktive Unruhe in der Gemeinde. Er führte „kritische Gottesdienste“ durch und hielt „weltliche Predigten“, und zwar nicht am „Tag des Herrn“ vormittags um 10 Uhr, sondern am Mittwochabend um 20 Uhr – eine Parallele zu Dorothee Sölles „Politischen Nachtgebeten“ in Köln. Zu den erfolgreichsten Zeiten nahmen daran bis zu tausend Personen teil.

Thematisiert wurden nicht nur religiöse Fragen wie die Differenz des historischen Jesus von Nazareth zum legendär übermalten und mythisch überhöhten Jesus Christus des Neuen Testamentes oder Fragen nach der Gültigkeit des christlichen Glaubensbekenntnisses insgesamt. Thematisiert wurden auch aktuelle gesellschaftspolitische Probleme wie der Abtreibungsparagraph 218, Fragen der Frauenemanzipation, des Ehe- und Partnerschaftsverständnisses, der Drogenpolitik, zu der Schulz auch eigene Publikationen vorlegte. Besonders anstößig in den Ohren der hellhörig gewordenen kirchlichen Obrigkeit klang allerdings, was Paul Schulz erstmals in einem Pressegespräch über sein Gottesverständnis verlauten ließ. Er könne Gott nicht länger als Person verstehen, sondern nur als ethisches Prinzip, als soziale Struktur, als Ereignis der menschlichen Liebe.

Unaufhaltsam baute sich ein tiefgreifender Konflikt zwischen ihm und der Kirchenleitung auf. Auf der Grundlage eines Kirchengesetztes von 1956 wurde gegen ihn ein aufwändiges „Lehrbeanstandungs“- oder „Lehrzuchtverfahren“ durchgeführt, bei dem beide Parteien alle juristischen und publizistischen Register zogen. Am bitteren Ende stand das Urteil eines höchsten Spruchkollegiums, wonach Paul Schulz erheblich gegen sein Ordinationsgelübde von 1966 verstoßen habe und in wesentlichen Inhalten beharrlich im Widerspruch zum Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche stehe. So wurde er 1979 aus seinem Amt als Pastor in den Diensten der Nordelbischen Kirche mit allen Konsequenzen entlassen – ein Vorgang, der vielfältig in den Medien kontrovers kommentiert wurde.

Für eine gewisse Zeit versuchte Paul Schulz noch, seine große Anhängerschar zusammenzuhalten, indem er einen eingetragenen Verein „communio humana“ gründete, der im Sinne jesuanischer Gemeinschaftsprinzipien verantwortliches Handeln heute befördern sollte. Aber dieses Projekt mit regelmäßigen Treffen in einer großen Markthalle in der Nähe des Hauptbahnhofes konnte sich nicht dauerhaft behaupten.

Für lange Jahre verschwand Paul Schulz aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Sein Leben nahm eine ungewöhnliche Wendung, die ihn charakteristisch unterscheidet von den zahlreichen anderen Priestern und Predigern, die seit der Epoche der Aufklärung ihren Glauben verloren und freiwillig oder unfreiwillig ihr kirchliches Amt niederlegten. Paul Schulz ging in die freie Wirtschaft und gewann als leitender Manager auf den oberen Etagen verschiedener Hamburger Firmen Einblicke in den alltäglichen Kapitalismus: seine Gesetzmäßigkeiten, seine Zufälligkeiten, seine Vorzüge, seine Mängel. Fernab aller idealistisch-religiösen Deutungsschemata, die seine bisherige Existenz inspiriert hatten, erschlossen sich ihm neue Zugänge für das, was in den harten Realitäten von Produktion und Technik, Vertrieb und Dienstleistung machbar ist und was nicht machbar ist.

Mit diesem Fundus im Rücken, den ich als Block nachholender Lehrjahre interpretiere, gründete er 1996 die „senioren – akademie alstertal“, die heute diese Feier ausrichtet. Rechtzeitig zum Jubiläum hat er auch ein neues Buch vorgelegt, das neben manchem Diskussionsbedürftigen auch viel Zustimmungsfähiges enthält. Aus diesem Bereich des Zustimmungsfähigen möchte ich jetzt herausgreifen, was ich die Versöhnung mit der menschlichen Sterblichkeit nenne. Es ist dies eine Einsicht, die in Schulz’ Denken seit langem tief verwurzelt ist. Dazu bitte ich Sie, auf das verteilte Faltblatt zu schauen.

Freude am Leben – Einverständnis mit dem Tod, Summe humanistischer Weltweisheit

Philosophische Interpretation eines Gedichtes von Gottfried Keller, des poetischen Meisterschülers Ludwig Feuerbachs

Ich hab in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.

Nun, da der Sommer glüht und glänzet,
Nun seh ich, daß ich wohlgetan!
Aufs neu hab ich das Haupt bekränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.

Ich fahre auf dem klaren Strome,
Er rinnt mir kühlend durch die Hand,
Ich schau hinauf zum blauen Dome
Und such – kein beßres Vaterland.

Nun erst versteh ich, die da blühet,
O Lilie, deinen stillen Gruß:
Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet,
Daß ich wie du vergehen muß!

Seid mir gegrüßt, ihr holden Rosen,
In eures Dasein flücht’gem Glück!
Ich wende mich vom Schrankenlosen
Zu eurer Anmut froh zurück!

Zu glühn, zu blühn und ganz zu leben,
Das lehret euer Duft und Schein,
Und willig dann sich hinzugeben
Dem ewigen Nimmerwiedersein!
(1849)

 

Im Winter 1848/49 hatte der Schweizer Gottfried Keller in Heidelberg den deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach kennen gelernt. Dort hielt der atheistische Denker im Rathaus-Saal Vorlesungen über das „Wesen der Religion“. Diese berühmten, später gedruckten Vorlesungen schlossen mit einprägsamen Worten, die auch die geistige Richtung bezeichneten, in der Gottfried Keller fortan seine Dichtkunst entwickelt hat. Feuerbach beendete seine Rede mit den packenden Formulierungen, er wolle seine Zuhörer „aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkenden, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen (…)zu Menschen, zu ganzen Menschen“ machen.

Die Begegnung mit Feuerbach verwandelte Kellers Leben und Schaffen. Im Roman „Der grüne Heinrich“ setzt er den „lebenden Philosophen“ mit einem „Zaubervogel“ gleich, „der im einsamen Busche sitzt“ und „den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang“. In dem Programmgedicht „Ich hab in kalten Wintertagen“ hat er das Schlüsselerlebnis seiner weltanschaulichen Neuorientierung zu einem lyrischen Text von großer Schönheit verarbeitet.

Entgegen einem ersten, noch oberflächlichen Eindruck ist zunächst festzuhalten: das Gedicht ist kein Wintergedicht, sondern ein Sommergedicht. Autobiografisch rückblickend spielt der Dichter auf den Heidelberger Winter an, als ihm – in Kälte und Dunkelheit – die christliche Hoffnung keine Kraft mehr vermittelte und er sich – unter dem Eindruck Feuerbachscher Argumente – das „Trugbild der Unsterblichkeit“ aus dem Kopf schlug, den religiösen „Wahn“ zu Grabe trug.

Inzwischen aber ist es wieder Sommer geworden. Der Aufklärungs- und Lernprozess, in den Keller geraten war, hat sein krisenhaftes Durchgangsstadium hinter sich gelassen. Als dessen sprachliches Echo fällt der stark reflexive Charakter des Gedichtes auf. Nicht unüberlegt und bloß impulsiv hat sich Keller von der Religion als illusionärer Sinnstifterin abgewandt. Vielmehr überprüft und bekräftigt er drei Mal die eigene Entscheidung:

„Nun seh ich, dass ich wohlgetan!“
„Nun erst versteh ich, die da blühet,“
„Das lehret euer Duft und Schein“.

Der Dichter hat wieder Tritt gefasst und schaut erhobenen, geschmückten Hauptes die alte Welt mit neuen Augen an. Zwei urtümliche Elemente – das fließende Wasser und der blaue Himmel – sowie zwei symbolträchtige Blumen – die Lilie und die Rose – dienen ihm dazu, das gewandelte Welt- und Selbstverständnis poetisch zu gestalten. Unmerklich weitet sich das Individuelle zum Allgemeinen, geht das Autobiografische ins Kosmopolitische über. Angesprochen wird jeder Mensch als Erdenbürger und als Weltbürger.

„Ich fahre auf dem klaren Strome,
er rinnt mir kühlend durch die Hand“.

Das alte Motiv der Weltfahrt, der Lebensreise aufgreifend, überhöht Keller den Neckarstrom zum Lebensstrom. Er rinnt ihm durch die Hand, das heißt: der Strom trägt zwar, aber zugleich zer-rinnt er ihm auch unvermeidlich zwischen den Fingern. Diese Erinnerung an das Vergängliche begründet freilich kein Wehklagen. Der Dichter erlebt das Rinnen wohltuend als Kühlung, als Erfrischung. Ein stehendes Gewässer ist rasch abgestanden. Nur was fließt, was rinnt und damit freilich auch ver-rinnt, ist lebendig.

Auch der Blick zum Himmel vermittelt ein weltlich-diesseitiges, humanistisches Heimatgefühl, das der Erde treu bleibt.

„Ich schau hinauf zum blauen Dome
und such – kein beßres Vaterland.“

Jahrtausendelang haben Menschen zum Himmel empor geschaut und sich dort ein Reich ungeschmälerter Glückseligkeit erträumt. Noch Friedrich Schiller dichtete im „Lied an die Freude“ mit idealistischem Pathos:

„Brüder, überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen.“

Für den Feuerbachianer Gottfried Keller ist der Himmel keine religiöse Kategorie mehr, sondern hat nur noch astronomische, meteorologische und ästhetisch – emotionale Bedeutung. Er findet sein Genügen und Vergnügen hier unten auf der Erde. Nicht länger gilt sie ihm als ein „Jammertal“, dem möglichst rasch zu entkommen sei. Die Erde ist der Ort, unser Ort, der einer menschenwürdigen und lebenswerten Gestaltung und Umgestaltung zugänglich ist.

In der zweiten Hälfte des Gedichts – in den Strophen vier bis sechs – zeigt der Dichter eine Parallelität zwischen dem menschlichen und dem pflanzlichen Leben auf. Sie ist in der alles übergreifenden Ordnung der Natur begründet.

Wie die Lilie muss der Mensch vergehen. Der Rosen Duft und Schein lehrt ihn, intensiv zu leben. Keller knüpft an eine traditionelle Symbolik der Blumen an. Die Lilie ist die Blume der Reinheit, des Verzichts, der Entsagung, des Todes. Die Rose ist die Blume des Liebesglücks und der Vergänglichkeit, Sinnbild von Venus und Vanitas.

Die Lilie grüßt von sich aus, und zwar still. Die Rosen, ausdrücklich in der Mehrzahl erwähnt, werden von Keller gegrüßt. Zu ihnen wendet er sich bewusst zurück. Der Lilie ist eine Strophe gewidmet, den Rosen sind zwei Strophen eingeräumt. Beide Blumen vermitteln letztlich dieselbe Botschaft, aber in unterschiedlicher Hinsicht, mit sich ergänzender Akzentuierung.

Die von sich aus grüßende Lilie lehrt die Vergänglichkeit. Ihre Botschaft ergeht an die Menschen, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es merken oder nicht. Die Botschaft der Rosen, das Glück in seiner Flüchtigkeit auszukosten, muss dagegen bewusst wahrgenommen, bewusst angenommen werden: deshalb grüßt Keller sie.

„Zu glühn, zu blühn und ganz zu leben“ – so lautet die programmatische Lehre der Rosen an die Menschen:

  • zu glühn, das heißt: nicht lauwarm, nicht mittelmäßig, nicht schlapp, sondern mit Elan und Lust zu leben,
  • zu blühn, das heißt: in aller Pracht und Schönheit im Verborgenen und in der Öffentlichkeit zu wirken,
  • ganz zu leben, das heißt: nicht am Leben vorbei, sondern die Fülle seiner guten Möglichkeiten ausschöpfend.

Was die Rose von Natur aus tut, der Mensch muss es erst lernen. Er muss es wollen und üben. Er kann daran auch scheitern, Lebensweisheit und Lebenskunst verfehlen. Was aus der Rose organisch hervor wächst, beim Menschen ist es eine bewusste Leistung. Die Parallelität von Pflanze und Mensch als organischer Wesen wird also im Gedicht nicht überzogen, die Verantwortlichkeit des Subjektes nicht geleugnet.

„Ich wende mich vom Schrankenlosen
zu eurer Anmut froh zurück“

Schrankenlos ist die von Keller anfänglich geteilte christliche Hoffnung auf ein ewiges Leben. Das Schrankenlose verfehlt das Maß des Menschlichen. Der Mensch ist nicht für die Ewigkeit gemacht und verirrt sich in der Unendlichkeit. So wendet Keller sich im Angesicht der Rosen, die ihr kurzes Glück in Schönheit zu Ende leben, zurück zum begrenzten Bereich menschlicher Existenz, um dort zu wahrer Fülle vorzustoßen. Erfüllung und Entsagung durchdringen sich und begründen sich wechselseitig.

Um jede Unklarheit des ideellen Gehaltes auszuschließen, beendet Keller sein Gedicht mit einem geradezu polemischen Ausblick auf das „ewige Nimmerwiedersein“. Den frommen Wunsch auf manchen christlichen Grabsteinen „Auf Wiedersehen“ verwandelt er mit einem Wortspiel in ein unfrommes „Nimmerwiedersein“. Der Tod ist das wirkliche Ende des ganzen Individuums, kein unsichtbarer Übergang in eine andere, höhere, vergeistigte Stufe der Existenz. Eine Ewigkeit waren wir nicht. Für eine kurze Zeitspanne treten wir ins Sein. Dann fallen wir zurück ins „ewige Nimmerwiedersein“.

Diese Einmaligkeit der menschlichen Existenz, ihre Unwiederholbarkeit und Unverlängerbarkeit, hat später auch Rainer Maria Rilke – darin ebenfalls von Feuerbach beeinflusst – in seiner Neunten Duineser Elegie besungen. Freilich erreicht Rilke nicht die gedankliche Strenge und kompositorische Klarheit Gottfried Kellers, der das „ewige Nimmerwiedersein“ als letztes Wort in die letzte Zeile zaubert.

Gottfried Keller ist es in seiner Dichtkunst gelungen, die illusionslose Einsicht in die Endgütigkeit des Todes fruchtbar zu machen für ein positives Lebensgefühl. Ein radikales Endlichkeitsbewusstsein, das Ja sagt zur eigenen Sterblichkeit, bringt eine abschiedlich getönte Lebensfreude hervor.

Der Tod überschattet das Leben, aber er entwertet es nicht. Er verweist auf dessen Schönheit, die freilich rasch vergeht. Mit leiser Stimme, die viele überhören, spricht er zu uns: Vergeudet nicht euer Leben! Es ist das einzige, das ihr habt. Vertrödelt nicht die kurze Zeit, die euch gegeben ist, sondern lebt.

Das ist die Art der Selbstfindung und Selbstvergewisserung, über die wir einiges bei Gottfried Keller lernen können.

Friedrich Nietzsche hat einmal Gottfried Keller brieflich angeredet als „Herzerfreuer“. Dieses Gedicht erfreut in der Tat das Herz, und es inspiriert den Verstand. Lassen wir uns weiterhin von Kellers Kunst beglücken, befreien, belehren!

Lieber Paul Schulz, möge nicht nur das Gedicht Gottfried Kellers Dein Herz erfreuen, sondern diese Veranstaltung zu Deinen Ehren insgesamt. Sie zeugt von dem dankbaren Echo, das Deine Arbeit seit langem findet. Von Dir wird noch einiges erwartet. Du steckst voller Tatendrang. Mögen die nötige Gesundheit und die nötige Weisheit Dir gestatten, noch einige Projekte neu anzustoßen und andere ruhig fortzuführen. Über allem stehe die leuchtende Botschaft Gottfried Kellers in seinem Altersgedicht „Abendlied“, mit der ich meine Rede schließe:

„Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
von dem goldnen Überfluss der Welt!“