Zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald sollte der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm eine Rede halten. Jens-Christian Wagner, der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, hatte Boehm zunächst eingeladen, ihn aber auf Druck der israelischen Regierung wieder ausgeladen. Der Eklat rund um Boehm wirft Fragen auf und überschattet die Feierlichkeiten.
Die Befreiung von Buchenwald war ein herausragendes Ereignis, und der 80. Jahrestag ist möglicherweise der letzte runde Jahrestag, an dem Holocaustüberlebende persönlich teilnehmen können. Zehn Überlebende des nationalsozialistischen Terrors werden zu den Feierlichkeiten am kommenden Sonntag erwartet. Neben Altbundespräsident Christian Wulff sollte auch Omri Boehm sprechen, ein in Haifa geborener Philosoph, der 2024 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde. Die Jury ehrte den internationalen "Brückenbauer" für seine konsequente Verteidigung "des Kerns des humanistischen Universalismus, der Verpflichtung zur Anerkennung der Gleichheit aller Menschen, gegen jegliche Relativierung".
Jens-Christian Wagner hatte Omri Boehm eingeladen, weil die Gedenkstätte sich "von ihm auf einem hohen Reflexionsniveau ethisch fundierte Gedanken zum Verhältnis von Geschichte und Erinnerung, insbesondere zum Wert der universellen Menschenrechte und ihrer Bedeutung mit Blick auf die NS-Verbrechen" erwartete, wie in einem Statement zu lesen ist. Eine bewusste Entscheidung für Boehm, dessen Thesen zum Nahostkonflikt und zur Zukunft des jüdischen Staates Israel nicht unumstritten sind – er fordert eine binationale Einstaatenlösung. Doch auf Druck der israelischen Regierung wurde er wieder ausgeladen. Offizielle Begründung: Man wolle vermeiden, dass die vielfach traumatisierten Überlebenden weiter in diesen Konflikt hineingezogen werden.
Politische Einflussnahme auf das Holocaust-Gedenken
Wie sehr die Netanjahu-Regierung mit der Personalie Boehm hadert, zeigt sich an einem Post, den die israelische Botschaft am Mittwoch nach (!) Boehms Ausladung auf X veröffentlicht hat: "Die Entscheidung, mit Omri Boehm einen Mann einzuladen, der Yad Vashem als Instrument politischer Manipulation bezeichnet, den Holocaust relativiert und sogar mit der Nakba verglichen hat, ist nicht nur empörend, sondern eine eklatante Beleidigung des Gedenkens an die Opfer. Die Instrumentalisierung des Gedenkens an den Holocaust ist bereits in vollem Gange, Boehm ist nur einer der schillerndsten Wortführer. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft versucht Boehm, das Gedenken an den Holocaust mit seinem Diskurs über universelle Werte zu verwässern und damit seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben. Doch Geschichte ist keine abstrakte Debatte und der Holocaust keine intellektuelle Spielwiese. Im Unterschied zu damals gibt es heute den Staat Israel, der seine Stimme für diejenigen erhebt, die damals keine Stimme hatten. Wenn das Andenken an die Ermordeten entstellt und beschmutzt werden soll, werden wir nicht wegschauen."

Omri Boehm ist ein entschiedener Kritiker der israelischen Regierung. Zuletzt hat er wiederholt das militärische Vorgehen im Gazastreifen angeprangert und in einem Gastbeitrag in der FAZ die Frage aufgeworfen, ob Netanjahu genozidale Absichten verfolge: "Umso mehr gilt es heute, die Errungenschaft eines im Humanismus verankerten Rechts weiter zu verteidigen und jene Kräfte zu bekämpfen, die bereits jetzt einen unbegrenzten Krieg heraufgeführt haben."
Der Vorwurf, Boehm instrumentalisiere den Holocaust, ist so haltlos wie absurd. Dass Jens-Christian Wagner als Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora größeren Schaden abwenden wollte, ist verständlich, doch die Entscheidung erweist sich als kontraproduktiv – die Gedenkfeier ist längst von der Debatte um Boehms Ausladung überschattet. Mit ihrer Intervention betreibt die israelische Botschaft ohne Rücksicht auf die Holocaust-Überlebenden eine Schmutzkampagne gegen einen unbequemen Geist. Umso drängender ist die Frage, ob die Netanjahu-Regierung die richtige Instanz ist, um zu bestimmen, was als angemessener Umgang mit dem Holocaust-Gedenken gilt – und wer in Buchenwald das Wort ergreifen darf.

5 Kommentare
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Kommentare
Misha am Permanenter Link
Wer kam denn bloß auf die Idee, diesen Relativierer Böhm einzuladen?
Das ist in der Tat ein Affront!
Seine Thesen sind hier jetzt nicht zu diskutieren. Kann man ja mal durchaus einander Mal an einem anderen Ort machen.
Ich schäme mich, dass wieder einmal ein Holocaust-Gedenktag ins Gegenteil gewendet werden sollte.
Hyperpeinlich, dass erst durch das Eingreifen der Israelischen Regierung die Einladung zurückgezogen wurde.
Der Schaden ist da. Porzelan ist zerschlagen.
Lachmann am Permanenter Link
Omri Boehm steht für Universalismus. Eine Welt, in der es keine Israelis und keine Palestinenser gibt, sondern nur noch Menschen. Menschen die friedlich miteinander leben.
Aber mit der konkreten Situation Israels hat das nicht viel zu tun. Für das Überleben Israels in der momentanen Situation ist das wenig hilfreich und eher schädlich. Man denke daran, dass Omri Boehm nicht unter ständigen Polizeischutz leben muss, im Gegensatz zu Hamed Abdel-Samad, der
unter permanentem Polizeischutz stehen muss. Und Hamed Abdel-Samad ist nur einer unter vielen.
Uwe Zappel am Permanenter Link
Omri Boehm ist natürlich ein rotes Tuch für Netanjahu und seine Verschworenen. Die Akzeptanz des von Boehm verfochtenen "radikalen Universalismus" ist für diese Leute natürlich unmöglich.
By-the-way: Wieder einmal eins von inzwischen wahrscheinlich dutzenden Beispielen, woher die immer wieder beschworene 'cancel-culture' in der Regel kommt: Von Rechts!
Barbarba Meyer am Permanenter Link
das ist "Staatsräson", und keinesfalls "Cancelculture"!
Lachmann am Permanenter Link
Boehm sagt, er wolle das »quasi sakralisierte Holocaust-Gedenken« auslöschen, der Der Holocaust müsse »mit der Wurzel ausgerissen« werden. Er spricht von der »politischen Kunst des Vergessens«
Für eine Podiumsdiskussion könnte man das akzeptieren, aber doch nicht für eine Rede am Gedenktag zur Befreiung eines KZ.
Mit seinen Äußerungen ist Böhm nah an kruden rassistischen Ideen aus dem Umfeld der „Kritischen Theorie“.
Yassir Arafat, der ehemalige Führer der PLO, wurde übrigens 1929 in Kairo geboren und ist nach Palestina eingewandert.