ÜBRIGENS - in Gießen machen die Kirchen mobil

GIESSEN. Während das Institut für Evangelische Theologie der Justus-Liebig-Universität

Gießen sich eine das Semester durchziehende <Ringvorlesung> „Was ist Religion?" von den <Templeton Research Lectures> (Frankfurt/M.) finanzieren lässt, um die Natur- und Geisteswissenschaften auch an der hiesigen Universität das Glauben zu lehren, tragen die ortsansässigen Missionsbevollmächtigten beider Kirchen in Gießen ihren vom <Katholischen Bildungswerk Oberhessen> des Bistums Mainz beförderten missionierenden Einfluss in diverse Lebensbereiche der Stadt.

Dazu gehören unter dem Internettitel <o-mein-gott.com> angepriesene Selbsteinladungen. Als erstes ging man zur Berufsfeuerwehr. An zweiter Stelle hatten die missionierenden Aktiven auch ins Stadttheater Gießen eingeladen zu werden vermocht.

Erfreulicherweise fand sich dieses Unternehmen seitens der Theaterbeteiligten sehr souverän gestaltet. So konnte die Intendantin Cathérine Miville am 19. Dezember 2006 gegen 1930 dem evangelischen Stadtkirchenarbeitsbeauftragten Klaus Weißgerber die Erstbegrüßung der etwa fünfzig anwesenden Gäste überlassen, um dann zum Rundgang durch die im gesamten Haus gegenwärtige „Welt des Theaters" einzuladen. Diese Führung leitete der hierfür zuständige, wie insbesondere als Leiter des Kinder- und Jugendtheaters hoch engagierte Abdul M. Kunze in anspielungsreicher Weise zunächst „hinab in die Unterwelt Theaterhölle" Kellergeschoss.

Hier zitierte Harald Pfeiffer aus Dieter Fortes Schauspiel Martin Luther und Thomas Münzer eine äußerst passende Lutherredenpassage zum freien Willen des Individuums. „Gott hat uns doch einen freien Willen gegeben. ... Unser Wille ist das größte in uns und gegen ihn müssen wir bitten. Oh Vater ... wehre meinem Willen, ... das muß solange gehen, bis der Mensch ganz gelassen, frei und willenlos wird und von nichts mehr weiß, als auf Gottes Willen zu warten. Das heißt wahrer Gehorsam, wie er leider zu unseren Zeiten ganz unbekannt geworden ist. Gott schickt uns Leiden und Unfrieden, solange, bis der Mensch gründlich geübt ist und so friedsam und still wird, daß er nicht davon bewegt wird, ob es ihm wohl oder übel gehe, ob er sterbe oder lebe, ob er geehrt werde oder geschändet. Da wohnt dann Gott selber allein. Da gibt es keine Menschenwerke mehr. Damit zeigt er an, daß es keine köstlicheren Dinge gibt als Leiden, Sterben und allerlei Unglück. Und von dieser Lehre ist die ganze Schrift voll, voll, voll."

Es folgte der „Aufstieg auf die Bretter, welche die Welt bedeuten". Auf der Drehbühne zog Abdul M. Kunze einen Vergleich zwischen dieser Scheibe zu der eigentlich verabschiedeten Auffassung von der Welt als Scheibe, wobei der aktuell grassierende Kreationismus implizit grüßen ließ. Der weitere Weg verlief durch die Proszeniumsloge in den Zuschauerraum, wo auf der Vorderbühne Roman Kurtz als Milchmann Tevje aus Anatevka mit Gott über Armut und Reichtum sprach, wonach im Stück selbst seine Utopie „Wenn ich einmal reich wär ..." folgt.

Ein weiterer Aufstieg führte in den „Saal der himmlischen Theaterchöre". Karsten Morschett erwartete die Führungsgäste. Auf dem verdeckten Flügel des Chorsaales sitzend trug er den gesamten Monolog der achten Szene aus Dea Lohers Schauspiel Unschuld vor, worin „Gott ... sich selbst in einer Tüte (schickt)". Angesichts einer gefundenen „schmutzigen Tüte mit gebrauchten 50-Euro-Scheinen" werden hier Rassismus, Abschiebepraxis und eine passende Gottesdefinition vorgeführt. Es geht um „200.089 Euro 77 Cent".
Der Szenenmonolog endet mit der bündigen Folgerung: „Ich habe meine Ohren aufgemacht. Ich lausche. Der Gott in der Tüte sagt: Gib dir ein bisschen Mühe! Nimm dieses Geld! Und der Gott in mir antwortet: Etwas Großes werde ich tun! Etwas werde ich schaffen, das die Menschen nicht vergessen werden! Durch diese Tüte."

Der nächste Aufenthalt ergab sich im angrenzenden Malersaal. In diesem Schaffensbereich, so erzählte Abdul M. Kunze, „entstehen die Bühnenbilder". Die Bühnenmaler, so sagte er sinngemäß, haben die eigentliche Evolutionsgeschichte um ihre sehr praktischen überlangen Malerpinsel weiterentwickelt. Der Rundgang endete im oberen Foyer, wo die im großen Kreis angeordneten Sitzgelegenheiten eben ausreichten.

Die Intendantin bot an, auf Fragen zu antworten. Klaus Weißgerber dankte für die erlebte Führung durchs Theater. Der Schauspieldirektor Dr. Dirk Olaf Hanke brachte erneut, wie schon gelegentlich zuvor, zur Sprache, dass Theaterschaffen wie Literatur überhaupt von christlicher Symbolik durchwirkt sei. Er sprach als Beispiel hierzu von George Tabori, der ja unter anderem in seinen Goldberg-Variationen Zitate aus Altem wie Neuem Testament zu hochkritischen Aussagen verarbeitet habe. Eine der Paraphrasen auf Berichte über Jesu findet sich als „Massentreff auf einem Berg, da war er schon ein Einpeitscher" zugespitzt.

Der stellvertretende Technische Direktor und Bühnenmeister Steff Hans berichtete von seiner im Rahmen von Theologiestudium und Wehrersatzdienst in der DDR in Zusammenarbeit mit der dortigen Kirche organisierten Jugendtheaterarbeit.

Nach einer Stillephase brachte Gießens Kulturdezernent, Dr. Reinhard Kaufmann (FDP) die sinngemäße Frage ein, ob und inwieweit ein streng gläubiger Mensch mit der Problematik umgehen könne, einen seinem Glauben widersprechenden Text darbieten zu sollen.
Daraus entwickelte sich eine Erweiterung des Themas zur Auffassung, dass in den Rollen ethisch negativ bestimmter, wie etwa rassistischer oder gewalttätiger Charaktere ja eben diese kraft schauspielerischer Kompetenz als in der Gesellschaft anzutreffende Personen sichtbar gemacht werden.

Ein zwischendurch zaghaft tapfer eingebrachter Versuch einer vermutlich ebenso eifrigen Kirchgängerin wie Theater- und Vernissagen-Besucherin, die Veranstaltung unter das initiale Einladungsmotto ‚o-mein-gott.com' zu retten, indem sie sinngemäß davon sprach, dass das Gelingen einer Aufführung doch auch von „Gottes Segen" abhänge, war unaufgegriffen geblieben.

Der Abend klang in wechselseitigem Danken und Verabschieden aus.
Theater an sich ist ja Spiegel der Gesellschaft.

Demgemäß haben die etablierten Kirchen ihren entsprechenden Einfluss bis ins Theaterfoyer getragen. Bleibt die zuversichtliche Hoffnung, dass dem Theater selbst auch in der Zukunft intellektuell redliche Aufklärung nicht ausgetrieben werden kann.

Eva-Maria Hesse-Jesch

 

Die weiteren <Termine> des „reden an un-gewöhnlichen Orten" sind Einladungen in die Zentrale der Sparkasse Gießen (24.1.), ins Mathematikum (6.2.), zur Arbeitsloseninitiative der GIAG Gesellschaft für Integration und Arbeit (22.2.), zum Hessischen Rundfunk, Studio Gießen (8.3.), zum Kabarett in der Kleinkunstbühne MUK Gießen (29.3.) jeweils ab 19:30 Uhr. Motto: „Wann dürfen wir Sie bei uns begrüßen?"