Die Zeugen Jehovas und die Deutsche Bahn

Weltuntergang in der Bahnhofshalle

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Zeugen Jehovas missionieren
Zeugen Jehovas missionieren

Sie sind nicht laut wie die Islamisten, die Ende April in Hamburg ein Kalifat für Deutschland und damit die Abschaffung der Demokratie forderten. Sie sind leise, sie klingeln an Haustüren, um über ihren Glauben zu reden. Und sie stehen mit ihrer Zeitschrift "Der Wachtturm" in Bahnhöfen, bieten einen "kostenlosen Bibelkurs" an und warten darauf, von Reisenden angesprochen zu werden, um mit diesen ins Gespräch zu kommen. Aber ist es in Ordnung, dass sie da so stehen dürfen – die Zeugen Jehovas?

Wer Bahnhöfe durchquert, hat es meist eilig. Manchmal aber auch nicht, wenn die Züge ihre übliche Verspätung haben. Da fallen einem dann schon jene Menschen auf, die zu zweit oder zu dritt mit ihrem Handwagen voller Werbematerial für ihre Religion in der Bahnhofshalle stehen. Und ein sehr besonderes Versprechen bereithalten, für das es sich sogar lohnen könnte, einen Zug zu verpassen. Wenn man es denn ernst nimmt.

Auf der Internetseite der Zeugen Jehovas heißt es nämlich, dass nur "eine relativ kleine Anzahl von Menschen, nämlich 144 000, nach ihrem Tod im Himmel leben und dort zusammen mit Jesus im Königreich Gottes regieren." Dieses Königreich Gottes sei "eine reale Regierung im Himmel". Es werde alle Regierungen auf der Erde ablösen. Und: "Das wird schon bald geschehen, denn die Bibel zeigt klar, dass wir in den letzten Tagen leben." Lohnt es sich da nicht, für die Zeit danach vorzusorgen, um vielleicht mit von der Partie zu sein? Ein verlockendes Angebot, da kann man doch mal drüber reden. Am Bahnhof. Doch allein eine Mitgliedschaft in dieser Religionsgemeinschaft wird nicht dazu führen, zu dem erlauchten Kreis der Himmelsregierung zu gehören. Weltweit soll es mehr als 8 Millionen Mitglieder geben, allein in Deutschland 160.000. Das dürfte ein Gedränge auf die ersten 144.000 Listenplätze geben.

Doch wer seine Chance wahren will, sollte auch positiv zu jenem Gedankengut stehen, das die Zeugen Jehovas in einer Art "Frequently Asked Questions" auf ihrer Internetseite ausbreiten:

Der Tod: "Keiner wird in der Hölle gequält". So schön, so gut. Da haben die meisten Menschen im Religionsunterricht schon ganz andere Dinge gehört. Fegefeuer und ähnliche Quälereien. Weiter heißt es, Gott werde Milliarden Menschen wieder auferwecken. Sehr gut. "Doch wer dann nicht auf Gott hören will, wird für immer vernichtet." Das klingt schon weniger nach einem liebenden Gott.

Homosexualität: "Wir richten uns nach Gottes ursprünglichem Standard für die Ehe – ein Mann und eine Frau", sagen die Zeugen Jehovas. Und was ist mit Homosexualität? Gar nicht gut. Aber, so heißt es, man könne ja "falsche Wünsche verscheuchen". Das könne am Anfang ein großer Kampf sein, aber mit der Zeit werde er leichter werden. Und man möge sich nicht so anstellen, lautet sinngemäß der Rat mit dem Verweis auf heterosexuelle Menschen, die oftmals ja auch keinen Ehepartner finden. Sex zu zweit geht dann ja leider nicht. Aber, so heißt es, auch diese Menschen "führen trotzdem ein glückliches Leben, und das ist auch Menschen mit homosexueller Neigung möglich, wenn sie Gott wirklich gefallen möchten".

Bluttransfusionen: "Wir wollen niemals etwas tun, was Gott missfällt; dazu gehört auch der Missbrauch von Blut durch Bluttransfusionen" – heißt es bei den Zeugen Jehovas unter Berufung auf die Bibel. Man glaubt also, dass der angebetete Gott lieber ein Menschenleben opfert als es mit Hilfe moderner Medizin retten zu lassen. Solche Glaubenssätze bringen behandelnde Mediziner in eine dramatische Situation. So hat etwa die Uniklinik Düsseldorf einen 13-seitigen Leitfaden herausgegeben, in dem es insbesondere um die Frage geht, was zu tun ist, wenn die Eltern eine Bluttransfusion zugunsten ihres Kindes ablehnen. Da heißt es: "Da in den meisten Notfallsituationen die Zeit nicht ausreichen wird, um eine sichere Klärung (der Einwilligungsfähigkeit des Kindes in die Behandlung) herbeizuführen, sind in der Regel die sorgeberechtigten Eltern die Ansprechpartner. Sollten die Sorgeberechtigten die Einwilligung in eine Transfusion verweigern, so muss das Familiengericht mit dem Ziel eingeschaltet werden, die Transfusion zu ermöglichen."

Alltag und Ausstieg: Wen all das nicht schreckt und wer sich mit dem Gedanken an einen Eintritt in die Religionsgemeinschaft trägt, dem sei geraten, die Berichte von Aussteigern zu lesen oder anzuschauen, die in zahlreichen Artikeln, Büchern oder TV-Berichten dokumentiert sind. Da ist die Rede davon, dass schon die Kinder keinen Geburtstag feiern dürfen ("weil Gott solche Feiern überhaupt nicht gefallen", wie es bei den Zeugen Jehovas heißt). Die psychische Belastung, die mit dem ständigen Einreden des nahenden Weltuntergangs verbunden sei, die große Distanz zur übrigen Gesellschaft. Neid auf andere Kinder, die Weihnachten feiern und Geschenke bekommen. Das Verbot weltlicher Kultur (Kino, Konzerte), kein Sex vor der Ehe. Später die Verpflichtung, an Haustüren oder in Fußgängerzonen zu missionieren. Der Kontaktabbruch, die soziale Ächtung des "Abtrünnigen" durch das bisherige Umfeld nach einem Austritt.

Christoph Grotepass von Sekten-Info NRW, ein vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Essen finanzierter Verein, bestätigt: "Die Weltanschauungsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist regelmäßig Thema von Beratungsgesprächen. Dabei kommt es sowohl im Zusammenhang mit einem Eintritt in als auch insbesondere mit einem Austritt aus dieser Gemeinschaft zu familiären Konflikten, aufgrund derer sich Menschen an uns wenden. Zugrunde liegt die Eigendefinition der Zeugen Jehovas als Heilsgemeinschaft in Absonderung zur 'Welt'. Praktisch erlebbar wird dies, wenn Familienmitglieder, die sich der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas anschließen, 'plötzlich' Geburtstagsfeiern und religiöse Feste (Weihnachten, Ostern) mit biblischer Begründung kategorisch ablehnen und sich auf diese Weise von bisherigen sozialen Bezügen (die üblicherweise an solchen Tagen zelebriert werden) absondern."

Als Grund für den Austritt werde häufig ein hoher Druck durch den moralischen Anspruch der Gemeinschaft genannt, der gepaart sei mit klaren Verhaltensregeln und Sozialkontrolle durch die Gruppendynamik. Besonders leidvoll erlebten schließlich ehemalige Mitglieder die Praxis der sozialen "Ächtung": "Menschen, die nicht länger Mitglied der Gemeinschaft sein wollen und dies auch kundtun, erleben oft den Abbruch sozialer Kontakte, auch familiär", sagt Grotepass.

Missionieren in Bahnhöfen: Wie kann es sein, dass all dies bekannt ist und die Zeugen Jehovas dennoch in Bahnhöfen missionieren dürfen? Für den Verband der Bahnhofsbuchhandlungen, deren Mitglieder täglich mit dem Thema konfrontiert sind, scheint das kein Problem zu sein. Ein Sprecher schreibt unserer Redaktion auf Anfrage: "Der Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler hat keine Kenntnis von Kundenbeschwerden oder Fragen zu dem Thema. Und es liegt dementsprechend auch keine Positionierung in der Sache vor." Beim Fahrgastverband Pro Bahn klingt es ähnlich: "Wir haben hinsichtlich der Zeugen Jehovas bisher nicht von Problemen gehört. Sie werden von Bahnhofsbetreibern geduldet, da sie passiv sind und nicht aktiv Menschen belästigen und wohl nicht Wege blockieren."

Ricarda Hinz kann das nicht nachvollziehen. Der Mitgründerin und Vorstandssprecherin des Düsseldorfer Aufklärungsdienstes, einer Regionalgruppe der Giordano-Bruno-Stiftung, fallen die Zeugen Jehovas immer wieder etwa in den Bahnhöfen von Düsseldorf und Köln auf. Sie sagt: "Ich möchte nicht bei jeder Bahnfahrt an diese brutalen Weltuntergangs-Szenarien der Zeugen Jehovas erinnert werden. Jede kleinste politische Äußerung ist in Bahnhöfen verboten, aber die dürfen den nahen Weltuntergang und den Massenmord an Milliarden Menschen öffentlich feiern und verkünden?" Die soziale Ächtung von Menschen, die aussteigen wollen, sei doch wohl ein glatter Verstoß gegen die negative Religionsfreiheit, meint die Düsseldorferin. Und: Mit dem Verbot von Bluttransfusionen gefährdeten sie Leib und Leben der eigenen Kinder. "Schließlich die anachronistische Haltung gegen Homosexualität – eine massive Diskriminierung. Wie kann die Bahn all das dulden?", empört sich Hinz.

Und wie ist nun die Positionierung der Deutschen Bahn AG? Diese hat eine Hausordnung. Darin steht:

"Folgendes ist auf dem Bahnhofsgelände nur nach vorheriger Einwilligung durch das Bahnhofsmanagement erlaubt: Durchführen von allen Werbemaßnahmen, Verteilen von Werbematerial, Verkauf und Anbieten von Waren und Dienstleistungen. Öffentliche Versammlungen und Aufzüge auf Bahnsteigen und Zugängen zu den Bahnsteigen. Diese müssen bei der zuständigen Behörde gemäß Versammlungsgesetz angemeldet werden und sind darüber hinaus nur nach vorheriger Einwilligung durch das Bahnhofsmanagement gestattet."

So ist es generell. Und wie ist es bei den Zeugen Jehovas? Ein Sprecher der Deutschen Bahn AG sagt dazu auf Nachfrage: "Die Deutsche Bahn achtet grundgesetzliche Rechte und duldet so auch an den Bahnhöfen die Religionsausübung der Zeug:innen Jehovas, deren Verhalten in der Regel friedlich-passiver Natur ist. Die betroffenen Personen können sich auf die vom Grundgesetz in besonderer Weise geschützte Freiheit des religiösen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 2 GG) berufen." Wichtig für die Bahnhöfe sei, dass stets ein sicherer Eisenbahnbetrieb gewährleistet ist und beispielsweise die Flucht- und Rettungswege freibleiben. "Um dies sicherzustellen, müssen alle Gruppen, auch die Zeug:innen Jehovas, ihre Aktionen vorher beim zuständigen Bahnhofsmanagement anzeigen. Daraufhin erhalten sie die Einwilligung und Hinweise zum Verhalten im Bahnhof."

Es bleibt also dabei, die Zeugen Jehovas werden weiter in Bahnhofshallen für ihre Sache werben dürfen. Wenn es dumm läuft, bis zum Weltuntergang.

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