„Wir“ – das sind die ehemaligen Heimkinder

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Schwester Candida / Foto © Evelin Frerk

MÜNSTER. (hpd) Treffpunkt 10. Dezember 2011, 12 Uhr mittags auf dem Bahnhofsvorplatz des Hauptbahnhofs Münster. „Wir rufen zur Demonstration! „Wir“, das sind ehemalige Heimkinder und deren Foren und Verbände, protestieren weiter gegen die geforderten Verzichtserklärungen.

Sie wünschen sich die Teilnahme von Sympathisanten und Verbündeten, um an diesem 10. Dezember erneut darauf aufmerksam zu machen: Das Anliegen von Kindern und Jugendlichen, die den Heimen von 1945 bis 1975, in der DDR bis 1989 "anvertraut und ausgeliefert" waren, ist bisher nicht geklärt.

Ihre Forderungen blieben in den wesentlichen Punkte ungeachtet, und das trotz Vortrag am "Runden Tisch Heimerziehung", an dem sie über zwei Jahre mit drei Stimmen vertreten waren, trotz weiterer Eingaben an die Parlamentarier des Bundestages im Jahr 2011.

„Leistungs-Richtlinie“

In den vergangenen drei Monaten wurden Beschlüsse gefasst, die von den ehemaligen Heimkindern als weitere Demütigung erlebt werden.

Auf ihren Antrag hin war den ehemaligen Heimkindern Eintritt in den Arbeitskreis „Leistungs-Richtlinie" gewährt worden: wieder mit drei Stimmen konnten sie dort die Betroffenen-Position vertreten. Mit am Tisch waren je zwei Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche, des Justizministeriums, Vertreter der Bundesländer, der AG Jugendhilfe, insgesamt 18 Teilnehmer. Die Gründung dieses Gremiums beruht auf dem Beschluss des Bundestages vom 7.7.2011, die Empfehlungen "Runder Tisch Heimerziehung" umzusetzen.

Verzichtserklärung

Dafür war es notwendig, Leistungskategorien und einen Leitfaden zu erstellen, zur Orientierung für die künftigen Beratungsstellen, die mit dem Beginn des Jahres 2012 ihre Arbeit bundesweit aufnehmen sollen. Damit die Betroffenen Leistungen empfangen können, müssen sie diese beantragen. Gehört zu dem Empfang einer Leistung, auf die Geltendmachung weiterer Forderungen zu verzichten? Eine Verzichtserklärung, die jegliche weitere Forderungen beendet, schien den einen unabdingbar und ist inzwischen in der Drucksache 15/775 vom 25.10.2011, 15. Wahlperiode, Landtag von Baden-Württemberg, §9 (3) wie folgt nachzulesen:

„(3) Leistungen aus dem Fonds werden nur für Betroffene gewährt, die erklären, dass sie mit Erhalt einer Leistung aus dem Fonds auf Geltendmachung jeglicher Forderungen, einschließlich der Ansprüche wegen Rentenminderung aufgrund der Heimunterbringung, gegen die öffentliche Hand und die Kirchen sowie ihre Ordensgemeinschaften und Wohlfahrtsverbände, einschließlich deren Mitglieder und Einrichtungen, unwiderruflich verzichten. Dieser Verzicht umfasst auch den Ersatz von Kosten für die Rechtsverfolgung.“

Diskussionen entflammten, ob eine derartige Erklärung trotz Unterschrift moralisch ungerechtfertigt und deshalb ungültig sei. Andere Stimmen warnten und rieten, einen Antrag dieser Art zu ignorieren, d.h. die zugesprochenen Leistungen derzeit nicht zu beantragen. Es seien Klagen eingereicht, auf deren Ausgang man warten solle.

Den wiederholten Forderungen der ehemaligen Heimkinder auf eine Einmalzahlung von 54.000 Euro bzw. wahlweise einer monatlichen Rente von 300 Euro stehen die vorgesehenen Leistungen des Fonds gegenüber. Der sieht für den Beantragenden vor:

1.) Bis zu maximal 10.000 Euro als Sachleistung für Therapien, Ausbessern von Bildungslücken und Hilfsmittel wie Gehhilfen etc. und

2.) Ersatzleistung für die in Heimen zwischen dem 14. bis 21. Lebensjahr geleistete Arbeit , die ohne Entgelt blieb und für die von dort keine Sozialabgaben und Rentenbeiträge abgeführt wurden.

Durch die Leistungsrichtlinien wurden die Ergebnisse des Runden Tisches in dieser Deutlichkeit erstmalig bekannt. Nachweise, dass es sich um Folgeschäden aus der Heimzeit handele, sind vom Antragsteller zu erbringen. Bargeldzahlungen sind nicht vorgesehen.

Im Arbeitskreis „Leistungs-Richtlinie“ wurde dem Antrag der drei Betroffenen-Vertreter nicht entsprochen, dass aus der Position der Sachleistung von 10.000 Euro auch eine Zusatzversicherung abgeschlossen werden könne, die beispielsweise im Bedarfsfall stundenweise Haushaltshilfe analog der Pflegestufe 1 abdeckt. Dieser Wunsch war speziell von behinderten Menschen vorgelegt worden, die aller Voraussicht nach im Alter eher auf Pflegehilfe angewiesen sind und deren Anliegen, solange wie möglich autark in einer Wohnung bleiben zu können und so nicht in ein Heim gehen zu müssen, verständlich ist.

In den vergangenen Wochen wurde ein erster Boykott von Seiten der ehemaligen Heimkinder ausgerufen, die Anträge auf Entschädigungs-Leistungen zu ignorieren, solange die Verzichtserklärung abverlangt wird, gegen die Festlegungen der Leistungsrichtlinie.

Unruhe ist ein schmales Wort für das, was dem Aufruf der ehemaligen Heimkinder zu der Demonstration am 10.12.2011 in Münster zugrunde liegt. Hatte doch der Direktor des Landschaftsverbandes, Dr. Wolfgang Kirsch, vor fast genau einem Jahr (am 14.12.2010) und vor geladenen Gästen Worte an sie gerichtet: „Ich bitte alle ehemaligen Heimkinder, die in westfälischen Heimen statt einer geschützten Kindheit, Gewalt und Erziehung durch Arbeit erfahren haben, um Entschuldigung“.

Seitdem ist ein Jahr vergangen. Eine Entschuldigung allein genügt den Heimkindern nicht, da waren sich eigentlich alle einig. In den Fonds mit der Gesamtsumme von 120 Millionen Euro, die je zu einem Drittel von Bund, Ländern und Kirchen übernommen werden, hat NRW 1,5 Millionen Euro beigetragen. Geht man von den im Abschlussbericht Runder Tisch Heimerziehung genannten 700.000 bis 800.000 Betroffenen aus, ist eine Zahl von 37.000 ehemaligen Heimkindern für das Bundesland Nordrhein-Westfalen anzunehmen.

Sie werden morgen, ein Jahr nach den guten Worten, nicht alle vor der Tür des Landschaftsverbandes in Münster stehen, aber sie werden ihre Resolution übergeben.

Evelin Frerk