Kann ein Atheist ein Fundamentalist sein?

AC Grayling über einen Dauerrenner religiöser Apologetik: Fundamentalistische Atheisten. Existieren sie wirklich? Und: Was soll das überhaupt sein?

Es ist an der Zeit, die Fehler und Vermutungen hinter dem Schlagwort, das einige religiöse Menschen benutzen, wenn sie von denen sprechen, die ihren Unglauben an irgendeine religiöse Behauptung offen ausdrücken, zur ewigen Ruhe zu betten: Das Schlagwort „fundamentalistischer Atheist". Wie würde ein nicht-fundamentalistischer Atheist aussehen? Wäre das jemand, der nur so irgendwie glaubt, dass es keine übernatürlichen Wesen im Universum gibt - vielleicht, dass es nur einen Teil von Gott gibt (einen göttlichen Fuß oder einen göttlichen Hintern)? Oder dass Götter nur gelegentlich existieren - etwa nur Mittwochs und Samstags? (Das wäre gar nicht so ungewöhnlich: Für viele nicht-denkende Quasi-Theisten existiert Gott nur Sonntags.) Oder könnte es sein, dass es sich bei einem nicht-fundamentalistischen Atheisten um jemanden handelt, der kein Problem damit hat, dass andere Menschen zutiefst falsche und primitive Dinge über das Universum glauben, auf dessen Basis sie Jahrhunderte damit verbrachten, andere Menschen massenhaft zu ermorden, die nicht ganz genau die selben falschen und primitiven Dinge glauben wie sie selbst - und das noch immer tun?

 

Christen meinen mit „fundamentalistischen Atheisten" unter anderem jene, die Menschen den Trost des Glaubens verweigern würden (vor allem den Alten und Einsamen), sowie die Begleitung durch einen erhabenen, unsichtbaren Beschützer in einer dunklen Seelennacht - und solche, die (absichtlich) die atemberaubende Schönheit glaubensinspirierter Kunst nicht sehen wollen. Allerdings ist das Christentum in seiner sentimentalen Form eine sehr moderne und höchst modifizierte Version von etwas, das für den größten Teil seiner Geschichte oft eine gewalttätige und immer unterdrückende Ideologie gewesen ist - denken Sie an die Kreuzzüge, Folter, Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, die Versklavung von Frauen zur stetig wiederholten Kindsgeburt und zu nicht scheidbaren Ehemännern, die Verwerfung menschlicher Sexualität, der Gebrauch von Furcht (vor Höllenfolter) als eine Kontrollinstanz und die grausamen Folgen falscher Anschuldigungen gegen das Judentum. Heutzutage hat sich das Christentum dagegen auf weichgespülte Stimmungsmusik spezialisiert; seine Höllendrohungen, sein Verlangen von Armut und Keuschheit, seine Doktrin, dass nur Wenige gerettet und Viele verdammt werden, sind allesamt verworfen und wurden ersetzt durch klimpernde Gitarren und ein zuckersüßes Lächeln. Es hat sich selbst so oft, mit dem Ziel seine Macht über Leichtgläubige zu erhalten, neu erfunden und das mit einer solch atemberaubenden Heuchelei, dass ein mittelalterlicher Mönch, würde er heute erwachen wie Woody Allens „Der Schläfer", den Glauben nicht wiedererkennen könnte, der den selben Namen trägt wie sein eigener.

 

Zum Beispiel: Man erzählt großen nigerianischen Gemeinden, dass der Glaube ein hohes Einkommen garantieren würde - tatsächlich erzählt ihnen Hochwürden X, dass sie glücklicher und reicher sein werden, wenn sie seiner Gemeinde beitreten, als wenn sie der Gemeinde von Hochwürden Y beitreten. Was ist mit dem Nadelöhr passiert? Ach ja, richtig: Dieses kleine Schlupfloch haben sie ja schon vor langer Zeit gestopft. Was ist dann mit „Mein Königreich ist nicht von dieser Welt"? Was ist mit der Seligkeit von Armut und Demut? Die britische Staatskirche hat offiziell die Hölle durch einen synodischen Beschluss in den 1920ern verboten und die Einschränkungen für den Platz von Frauen in Kirchen vom heiligen Paulus (der sagte, sie müssten still im hinteren Bereich sitzen, mit bedeckten Köpfen) werden schon so weit ignoriert, dass es bereits weibliche Pfarrer gibt und bald wird es auch weibliche Bischöfe geben.

 

Man muss nicht bis nach Nigeria fahren, um die Heuchelei der eigenen Neuerfindung bei der Arbeit zu beobachten. Rom genügt bereits, wo die aktuelle ewige Wahrheit der Limbus-Doktrin aufgegeben werden soll - der Ort, wo die Seelen ungetaufter Babies hinkommen. Inzwischen verbreiten einige Kardinäle die Erkenntis, dass die Idee mit den Kondomen akzeptabel ist, natürlich nur in einer Ehe, und das in Ländern mit sehr vielen HIV-Infizierten. Das letzte, für jeden außer einem wachsamen Katholiken nicht nur ein klarer Fall für den gesunden Menschenverstand, sondern ein humanitärer Imperativ, ist in seinem Kontext eine aufregende Entwicklung. Vernünftige Katholiken ignorieren schon seit Generationen die Ansichten über Verhütung, die reaktionäre alte Männer im Vatikan teilen, aber gut, da es Ziel aller religiösen Doktrinen ist, ihre Verehrer in einem Zustand intellektueller Infantilität zu bewahren (wie sonst gelingt es ihnen, Absurditäten für glaubwürdig zu halten?), haben es nur unzureichend viele Katholiken geschafft, vernünftig zu sein. Werfen Sie nur einen Blick nach Irland bis vor kurzer Zeit, wenn Sie ein Beispiel dafür sehen möchten, welches Leid der Katholizismus auslöst, wenn er nur kann.

 

„Intellektuelle Infantilität": Dieser Begriff erinnert uns daran, dass Religionen vor allem durch Gehirnwäsche bei Kindern überleben. Drei Viertel der Schulen der britischen Nationalkirche sind Grundschulen; Alle Religionen, die sich gerade um unsere Steuergelder schlagen, um ihre "glaubensbasierten" Schulen zu betreiben, wissen, dass sich ihr Griff allmählich lockern wird, wenn sie keine intellektuell wehrlosen Drei- und Vierjährigen missionieren. Die Einschärfung der verschiedenen konkurrierenden - ich betone konkurrierenden - Glaubensvorstellungen der drei Weltreligionen in die Köpfe kleiner Kinder ist eine Form von Kindesmissbrauch und ein Skandal. Lasst uns die Religion herausfordern, Kinder in Ruhe zu lassen bis sie Erwachsene sind, wenn man ihnen die Grundbestandteile der Religionen zur persönlichen Erwägung präsentieren kann.

 

Erzählen Sie zum Beispiel einem durchschnittlich intelligenten Erwachsenen, der bislang von religiöser Gehirnwäsche verschont wurde, dass irgendwo ein unsichtbares Wesen existiert, das irgendwie so ist wie wir, mit Wünschen, Interessen, Zielen, Erinnerungen und Gefühlen wie Zorn, Liebe, Rachedurst und Eifersucht, einem beschränkten Wissen und beschränkter Einsicht; und dass dieser Gott auf magische Art eine sterbliche Frau schwängert, die dann ein besonderes Wesen gebiert, das diverse erstaunliche Kunststücke vollbringt, bis es zum Himmel fährt. Suchen Sie sich eine Version dieser Geschichte heraus: Lassen Sie einen himmlischen König - mal sehen - Danae oder Io oder Leda oder die Jungfrau Maria (etc, etc) schwängern und lassen Sie sie eine für den Himmel bestimmte Nachkommenschaft haben (Herakles, Castor und Pollux, Jesus etc, etc) – oder irgendeine der anderen Versionen exakt solcher Geschichten in Babylon, Ägypten und in anderen Mythologien – dann fragen Sie ihn, an welche davon er glauben möchte. Man kann garantieren, dass eine solche Person sagen würde: An keine von ihnen.

 

Um also ein „fundamentalistischer" Atheist zu sein, welche dieser gerade aufgezählten Absurditäten sollte ein Atheist abwarten? Sollte ein „moderater Atheist" jemand sein, den es nicht kümmert, wie viele Millionen Menschen im Verlaufe der Geschichte schwer durch die Religion geschädigt wurden? Sollte er oder sie jemand sein, der nachgiebig kichert über die Abneigung von Sunniten gegenüber Schiiten, Christen gegenüber Juden, Muslimen gegenüber Hindus, und alle von ihnen gegenüber jedem, der nicht glaubt, dass das Universum von unsichtbaren Kräften gelenkt wird? Ist ein akzeptabler Atheist (für die Gläubigen) jemand, der meint, es sei vernünftig von den Menschen zu glauben, dass die Götter gelegentlich die Naturgesetze aufheben, um persönliche Gebete zu beantworten, oder solche, die sich um die Rettung seiner Seele vor weiterer Sünde (besonders die Sünde der Häresie) drehen und es in seinem eigenen Interesse liegt, dafür ermordet zu werden?

 

So wie es aussieht, sollte sich niemand Atheist nennen. Diese Bezeichnung gibt Theisten bereits einen Punktevorsprung, weil sie zu einer Debatte in ihrem Bereich einlädt. Ein angemessener Begriff ist „Naturalist". Er bezeichnet jemanden, der die Natürlichkeit des Universums akzeptiert, also seine Beherrschung durch Naturgesetze. Dies verweist korrekterweise darauf, dass es nichts Übernatürliches im Universum gibt - keine Feen oder Kobolde, Engel, Dämonen, Götter oder Göttinnen. Ein solcher könnte sich genausogut „A-Feenist" oder „A-Koboldist" nennen, wie er sich „Atheist" nennt; es wäre gleichermaßen bedeutungsvoll oder bedeutungslos, dies zu tun. (Die meisten Menschen vergessen allerdings, dass der Glaube an Feen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet war; die Kirche kämpfte lange und hart gegen diesen Konkurrenz-Aberglauben und trug den Sieg davon, vor allem aufgrund der - sie erraten es - kirchlichen Vorschulen und Grundschulen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden.)

 

Im gleichen Sinne sollten Menschen mit einem theistischen Glauben Supernaturalisten [„Supers"; Anm. des Übers.] genannt werden und man kann es dann ihnen überlassen, die Entdeckungen der Physik, der Chemie und der biologischen Wissenschaften in einem Versuch zu widerlegen, ihre alternative Behauptung zu rechtfertigen, dass das Universum von übernatürlichen Wesen erschaffen wurde und am Laufen gehalten wird. Supernaturalisten sind stolz darauf, dass einige nichtreligiöse Menschen beten, wenn sie sich in Lebensgefahr befinden. Naturalisten können jedoch antworten, dass Supernaturalisten für gewöhnlich der Wissenschaft großes Vertrauen schenken, wenn sie sich etwa in einem Krankenhaus oder in einem Flugzeug befinden – und das viel öfter. Natürlich können Supernaturalisten als Vertreter der Ansicht, dass alles mit ihrem Glauben kompatibel sei – sogar scheinbare Widerlegungen davon – behaupten, dass die Wissenschaft selbst ein Geschenk Gottes sei und auf diese Weise rechtfertigen, so zu handeln. Dann sollten sie sich jedoch an Popper erinnern: „Eine Theorie, die alles erklärt, erklärt nichts."

 

Zuletzt lohnt es sich, auf eine verwandte und typische Ausweichstrategie vom gläubigen Volk aufmerksam zu machen. Es handelt sich um ihren Versuch, den Naturalismus (Atheismus) selbst als „Religion" auszugeben. Per Definitionem dreht sich eine Religion jedoch um die Existenz übernatürlicher Agenten oder Wesenheiten im Universum; und nicht nur um ihre bloße Existenz, sondern um ihr Interesse an menschlichen Wesen auf diesem Planeten; und nicht nur um ihr bloßes Interesse, sondern um ihr besonders detailliertes Interesse an dem, wie sich Menschen kleiden, was sie essen, wann sie es essen, was sie lesen oder ansehen, was sie als rein oder unrein behandeln, mit wem sie Sex haben und und wie und wann; und an einer Vielfalt weiterer Dinge, wie dem Unsichtbarmachen von Frauen unter umhüllender Kleidung, dem Anschnallen kleiner Boxen an ihrer Stirn oder an dem routinemäßigen unendlichen Wiederholen immergleicher Formeln fünf Mal am Tag; mit der Androhung von Strafe, wenn man eine davon falsch ausspricht.

 

Der Naturalismus (Atheismus) setzt jedoch laut Definition keinen solchen Glauben voraus. Jedes Weltbild, das die Existenz von etwas Übernatürlichem nicht voraussetzt, ist eine Philosophie, oder eine Theorie, oder schlimmstenfalls eine Ideologie. Wenn es die Form von einem der ersten beiden annimmt, wägt es bestensfalls die Belege dafür und dagegen ab, weiß, was es widerlegen könnte und ist bereit, sich im Lichte neuer Belege zu verändern. Das ist die Essenz der Wissenschaft. Es ist keine Überraschung, dass über gegnerische Theorien in Biologie oder Astrophysik keine Kriege geführt wurden, es keine Pogrome und keine Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen gegeben hat. Und man kann eingestehen, dass das Wort „fundamental" letztlich doch darauf zutrifft: Wie im Ausdruck „fundamental vernünftig".

 

Quelle: acgrayling.com
Übersetzung: Andreas Müller

 

Der Autor: AC Grayling ist Philosophieprofessor am Birkbeck College, University of London, und außerplanmäßiger Professor am St. Ann's College, Oxford. Er ist unter anderem bekannt für sein Buch Against All Gods (Gegen alle Götter), sein Beitrag zum Neuen Atheismus.

 

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