Notizen aus Belgien

Sterbehilfe bei schwerkranken Babys gefordert.

BRÜSSEL, 15. März. Kinderärzte der Universitätsklinik Brüssel fordern eine Regelung zur Entscheidung

 über das Lebensende von schwerkranken Frühgeborenen und Säuglingen. Die Frage nach dem Sinn einer Weiterbehandlung solcher Patienten darf nach dem heutigen Gesetzesstand nur positiv beantwortet werden. Doch als mögliche neue Lösung könnte man das sogenannte Protokoll von Groningen in Betracht ziehen - eine Vereinbarung zwischen Medizinern und Gerichten mit deutlichen Regeln darüber, wann mit Zustimmung der Eltern die aktive Sterbehilfe bei Neugeborenen ethisch zu verantworten sei und strafrechtlich nicht verfolgt werden dürfe.

In Belgien stellt sich das genannte Problem größer als anderswo. Das Land steht an der Spitze der Anzahl von Mehrlingsgeburten in der Welt und ist daher mit mehr schwerkranken Frühgeborenen konfrontiert. Laut einer Studie gab es in Flandern pro Jahr etwa 17 Fälle von aktiver Sterbehilfe bei Babys unter einem Jahr. Wim Distelmans, einer der Initiatiatoren der Aktion, erklärte, heute müssten Ärzte sich noch notgedrungen zu illegalen Eingriffen entscheiden. Auf einem Symposium erklärten sich bislang nur die Vertreter der Universität Brüssel bereit, das Groninger Protokoll anzuwenden. (Niederländisch) (Niederländisch)

Angriffe auf den Laizismus durch die neue Regierung

BRÜSSEL, 12. März. Die zurückgewonnene politische Machtkonzentration der christlichen Parteien in der neuen föderalen Regierung führt zu Versuchen religiöser Einflussnahme auf die staatliche Gewalt, sagt Sonja Eggerickx, die Co-Vorsitzende des Zentralrats der Freigeistigen. So verlangt der Vorsitzende der flämischen Christdemokraten ein De-facto-Vetorecht für alle ethischen Erklärungen der Regierung. Und der neue christliche Justizminister der Interimsregierung hat im Programmentwurf der neuen Regierung die Aufhebung eines Beschlusses der vorherigen Regierung Verhofstadt erreicht. Danach sollte das System der Pfarrassistenten – staatlich finanzierter Laien, die Aufgaben der Priester übernehmen – auslaufen. Obwohl die Anzahl der vom Staat bezahlten Kultusdiener bereits heute nicht mehr mit der wirklichen Präsenz der Kirche übereinstimmt, soll ihre Zahl um weitere 40 auf etwa 350 Stellen erhöht werden. Frau Eggerickx sieht hier einen Widerspruch zum Prinzip der Gleichbehandlung der Weltanschauungen.

Die staatliche Entlohnung der Kirchendiener geht auf die Anerkennung des Konkordats von Napoleon mit Papst Pius VII. durch den neuen belgischen Staat im Jahr 1830 zurück. Danach kommt das Justizministerium auch auf für die Wohnungen der Priester und die Versammlungsräume der Kirchen auf. (Niederländisch) (Niederländisch)

Religiosität in Wallonien

LÖWEN, 11. März. Laut einer sozialen Umfrage im Auftrag der Katholischen Universität Löwen sei die Annahme falsch, dass die Religiosität in Belgien radikal abnehme. 43 Prozent der frankofonen Belgier bezeichnen sich noch immer als katholisch, während es nur 17 Prozent Atheisten und 10 Prozent Agnostiker gebe. Von den beiden letztgenannten Bevölkerungsgruppen seien nur 0,8 Prozent in säkularen Vereinen organisiert. Bemerkenswert sei der Anteil der Muslime, er betrage 12 Prozent im gesamten Wallonien und sogar mehr als 30 Prozent in Brüssel. Insgesamt bleiben die Wallonen religiös orientiert: 80 Prozent fühlen sich religiösen Traditionen verbunden und 68 Prozent bezeichnen sich explizit als gläubig. Jedoch gehen nur 23 Prozent bis zu 10 Mal im Jahr in die Kirche, 8 Prozent tun dies wöchentlich.

Und wo haben sie Gott gefunden? 64 Prozent suchen ihn in der Natur und nicht im Gebet, 2/3 finden Gott durch ein soziales Engagement. 38 Prozent der frankofonen Belgier sind von der Existenz Gottes überzeugt, 12 Prozent halten seine Existenz für möglich oder auch nicht. Für das Weiterbestehen religiöser Gefühle sorgen laut der Umfrage die Familie und insbesondere die Schule. (Französisch)

Leugnungsprozess vertagt

ANTWERPEN, 14. März. Der rechtsextreme Ex-Senator Roeland Raes von der nationalistischen Partei „Vlaams Belang“ (Flämische Interessen) hat durch einen Berufungsantrag die Vertagung eines Prozesses gegen ihn erreicht. 2001 hatte Raes im Fernsehen den Umfang des Völkermords durch die Nazis angezweifelt und auch die Echtheit des Tagebuchs von Anne Frank negiert.

Nach einem daraufhin entbrannten Sturm der Entrüstung über diese Aussagen gab Raes seine Funktion als Vizevorsitzender der damaligen Partei „Vlaams Blok“ (Flämischer Block) auf. Des Weiteren wurde er von seinen Funktionen als Senator und als Verwaltungsmitglied der Universität Gent entbunden. Nach einer Reihe von Berufungsverfahren bei untergeordneten Gerichten hat Raes nun beim höchsten Gericht Berufung gegen die Prozesseröffnung eingelegt. Die Verhandlung findet erst im Sommer statt. (Niederländisch)

Extremisten-Klüngel

BRÜSSEL, 2. März. Bereits im Januar hatte die Satirezeitschrift „Pan“ über die Teilnahme eines unter den Initialen ML weltweit bekannten Neonazis an einer Konferenz des Vereins „Belgique & Chrétienté (B & C)“ (Belgien und Christentum) in Brüssel berichtet. Der Mann soll Mitbegründer der berüchtigten neonazistischen „Westland New Post Organisation“ sein, die insbesondere in der US-Armee aktiv sei.

Auf der Internetseite der antifaschistischen Organisation „Résistance“ (Widerstand) ist nun zu lesen, dass B & C der belgische Zweig einer internationalen nationalkatholischen Bewegung sei und extremrechte Positionen vertrete. Auf ihren politisch-religiösen Veranstaltungen setze sich die Organisation für die Rechristianisierung der alten christlichen Staaten ein und will sogar die heilige Inquisition neu gründen. Ferner kämpft B & C gegen den Einfluss des Islams und gegen den laizistischen Staat. Über persönliche Kanäle sei die Organisation mit der Priesterbruderschaft des Heiligen Pius X. vom berüchtigten Bischof Lefebvre verbunden.

Neben dem Neonazi ML nahmen auch der Chef der Bewegung „Nation“ und Vertreter anderer extremistischer und gewaltbereiter Gruppen aus Europa an der Konferenz von „Belgien und Christentum“ teil. (Französisch)

UNO besorgt um Menschenrechte in Belgien

FLANDERN, 11. März. Der UNO-Ausschuss gegen Rassendiskriminierung hat sich mit dem sogenannten „Wooncode“ (Wohnungskodex) in Flandern befasst. Laut diesem Kodex erhalten in Flandern Personen nur dann eine Sozialwohnung, wenn sie bereit sind, die niederländische Sprache zu erlernen. Nach Auffassung des UNO-Ausschusses muss aber der belgische Staat garantieren, dass Sprachregelungen nicht indirekt zur Diskriminierung aufgrund einer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit führen. Daher wurde Belgien aufgerufen, endlich die Konventionen zum Schutz der Minderheiten und der Rechte von Immigranten zu ratifizieren. Ferner zeigten sich die Experten des UNO-Ausschusses über die vielen Verstöße gegen die Rechte von Asylbewerbern in Belgien besorgt. (Französisch) (Französisch)

Soziale Hilfseinrichtungen von Fundamentalisten unterwandert

FLANDERN, 12. März. Peter Calluy, Ex-Sozialarbeiter aus Boom, behauptet, dass die Institutionen zur Integration von Ausländern durch muslimische Fundamentalisten infiltriert seien. Weit verbreitete Ansichten in Jugendprojekten und -zentren für Ausländer wie Morddrohungen gegenüber Homosexuellen, Beifallsbekundungen für terroristische Morde oder sexistische Verleumdungen würden von den Leitungen der Institutionen unterstützt. Der flämische Minister für Integration Marino Keulen reagierte geschockt auf die Hinweise und will jetzt das Personal der Zentren zu Kursen über Normen und Werte der belgischen Gesellschaft verpflichten. (Niederländisch)

Bald Imam-Ausbildung an flämischen Universitäten?

FLANDERN, 13. März. Der flämische Bildungsminister Frank Vandenbroecke möchte ab dem kommenden akademischen Jahr eine Imam-Ausbildung an belgischen Universitäten ermöglichen. In Flandern gebe es einen Mangel an Imamen, so dass viele von ihnen im Ausland rekrutiert würden. Der Minister bat daher die Universitäten, Möglichkeiten eigener Bildungsangebote zu prüfen.

Die Universität Antwerpen reagierte bereits positiv und beauftragte das „Zentrum für Migration und interkulturelle Studien“ mit einer Machbarkeitsstudie, deren Ergebnisse im Sommer vorliegen sollen. Zielgruppe der Ausbildung seien an erster Stelle künftige Imame, aber auch Verantwortliche muslimischer Gemeinschaften und Lehrer. (Niederländisch)

Kopftuch- und andere Verbote

GENT, 14. März. Nach einer langwierigen und hitzigen Debatte wird der Gemeinderat von Gent im Mai über ein Verbot zum Tragen weltanschaulicher Symbole abstimmen, das ab September in Kraft treten könnte. Das Verbot würde vor allem für kommunale Bedienstete, uniformierte Personalangehörige und Mitarbeiter in Bereichen mit Publikumsverkehr gelten. Als verboten gelten dann Symbole, die unmissverständlich erkannt werden wie Käppis, Kopftücher, Parteiabzeichen, Kreuze usw. Auch ein Löwe mit schwarzen Krallen, das Zeichen der flämischen Nationalisten, wäre tabu, der Löwe mit roten Krallen - das flämische Wappentier - hingegen weiterhin erlaubt. (Niederländisch)

Neuwahl der Muslimexekutive

BRÜSSEL, 17. März. Die Generalversammlung der Muslimexekutive, die Vertretung der Muslime in Belgien, hat 17 neue Mitglieder in die Exekutive gewählt. In den vergangenen Monaten hatte der Organisation eine Auflösung gedroht, weil seit 2007 gegen mehrere ihrer Mitglieder wegen finanziellen Betrugs ermittelt wird (hpd berichtete). Die Vertretung der Muslime hatte seit 1999 644.000 Euro an Subventionen erhalten, mit denen sie auch künftig rechnet.

In „La libre Belgique“ schrieb Prof. Dasetto Anfang März über die Krise der Exekutive und die Entscheidung des Justizministers Vendeurzen, der Organisation die Subventionen vorerst zu streichen. Dasetto unterstützt die Idee, die ohnehin nur mageren Zuschüsse für die Muslimexekutive zu stoppen. Gleichzeitig weist er auf die Gefahr hin, dass durch diesen Beschluss Tausende von muslimischen Bürgern ins Abseits gestellt würden und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Religion erschwert würden. Anscheinend sind die Muslime in Belgien jedoch noch nicht reif genug, „um im Hof der Großen mitspielen zu dürfen“, so Dasetto. Längerfristig werde die Entscheidung jedoch greifen; die Integration sei auf dem richtigen Weg.

Das sieht Abderrahman El Youssoufi in der Diskussion mit Prof. Dasetto jedoch anders (Artikel). Die jetzige Entscheidung sei unverhältnismäßig, da sie eine ganze Gemeinschaft für die Handlungen einiger weniger verantwortlich mache. Die Gründung der Muslimexekutive als institutionalisierte Form des Islams sei 1990 von der belgischen Regierung initiiert worden. Die Muslime von damals hätten nie solch eine religiöse Autorität gewollt. Die Muslimexekutive sei eine rein theoretische und politische Konstruktion, die nicht die legislativen Erwartungen der Muslime in Belgien widerspiegele. Die Regierung habe sich damit die Möglichkeit geschaffen zu bestimmen, wie sich nichtchristliche Gemeinden zu organisieren haben und sich dem Staat gegenüber vertreten lassen sollen, sagt El Youssoufi. (Niederländisch)

Rudy Mondelaers