Christopher Hitchens über die Frage aus den Gebrüdern Karamasow: Ist ohne Gott alles erlaubt? Oder ist es umgekehrt?
Ich erinnere mich daran, wie Professor Leszek Kolakowski, einer der großen polnischen intellektuellen Abweichler der Stalin-Zeit, sagt, dass er sich oft auf der Verliererseite wiederfindet, wenn er mit Apologeten des Systems spricht. Das lag an den Argumenten seiner Gegner, die so antiquiert waren, dass er die ursprünglichen Widerlegungen schon vergessen hatte. (Er drückte den Sachverhalt noch auf eine andere Weise aus, als er meinte, das wäre so, als würde man sich einen langweiligen Film im Kino ansehen, im Vergleich mit dem Gefühl der Erleichterung, wenn man sich daran erinnert, ihn schon einmal gesehen zu haben und das Ende bereits zu kennen, weshalb man das Kino früh verlassen kann.)
Ich hatte manchmal dasselbe Gefühl, als ich im Land herumkrebste und mit diversen Stellvertretern der Gläubigen debattierte. Ich teile nicht Kolakowskis intellektuelle Geschichte und Autorität, aber ich erkenne ein abgestandenes und verbrauchtes Argument, wenn ich es sehe und bin gelegentlich in der Lage, den Nebel der Langeweile zu durchstoßen und mich an das Gegenargument zu erinnern. Tatsächlich denke ich darüber nach, eine nützliche Beratungsreihe zu diesem Thema zu schreiben.
Mein erstes Ausstellungsstück könnte die Überzeugung sein, die oftmals Dostojewsky unterstellt wird und mit Gewissheit Smerdyakow in den Mund gelegt wurde, einem der Charaktere in Die Gebrüder Karamasow, dass ohne Gott alles erlaubt sei. Mit anderen Worten würden sich die Menschen in einer gottlosen Welt frei fühlen, sich genauso zu verhalten, wie sie das wollen, und sie würden sich jeden Egoismus und Exzess erlauben. „Tu was du willst sei das ganze Gesetz“ – so lautet das Credo der Satanisten, wie ich einmal gelesen habe.
Für Anfänger sei noch einmal darauf hingewiesen, dass man nicht behaupten kann, Satanisten würden nicht an eine übernatürliche Autorität glauben. Wenn wir jedoch diesen offensichtlichen Einwand hinter uns lassen, sehen wir, dass der Rest des Arguments entweder sehr schwach ist oder sehr enthüllend. Zunächst einmal: Was erzählen uns die Gläubigen über sich selbst? Sagen sie: Falls sie das Höllenfeuer nicht fürchteten oder das Paradies nicht herbeisehnten, dass sie dann Vergewaltigen, Stehlen, Brandschatzen und Lügen würden? Falls ja, dann erzählen sie uns etwas Wissenswertes über „glaubensbasierte“ Moral. Untersuchen Sie Ihr eigenes Gewissen, Leser dieses Magazins für säkularen Humanismus. Was hält Sie wirklich davon ab, Ihre Kinder zu missbrauchen, Ihre Nachbarn zu bestehlen und Ihre Kollegen zu belügen? Ist es der Glaube an ein überlegenes Wesen, das Sie für Gedankenverbrechen rund um Ihre sündhaften privaten Begehren verurteilen kann? Oder ist es der Gedanke einer menschlichen Solidarität und die vage, aber klare Vorstellung, dass wir ein gemeinsames Interesse daran haben, uns gegenseitig so gut wie möglich zu behandeln?
Wenn man davon ausgeht, dass die zweite Wahl viel realistischer und wahrscheinlicher ist, dann könnte man auch hinzufügen, dass die erste Wahl sogar noch weniger „moralisch“ ist, als sie aussieht. Stellen wir nicht immer wieder fest, dass die schrecklichsten, selbstzerstörerischsten und antisozialsten Verbrechen von jenen verübt werden, die auf göttliche Anweisungen hören? Smerdyakow hatte Unrecht, oder zumindest war er äußerst einseitig. Tatsächlich sind nur mit Gott einige ansonsten undenkbare Grausamkeiten möglich.
Wir scheinen keine gottlosen Despoten und Eroberer aus der Antike zu kennen, aber nehmen wir an, es hätte solche gegeben; man könnte sich einen Despoten vorstellen, der sich dazu entschließt, alle Zivilisten in einer Stadt, die er gerade eingenommen hat, zu erschlagen. Bloßes Eigeninteresse könnte eine solche Politik erfordern, oder das Setzen eines solchen Zeichens. Wie dem auch sei: Stellen Sie sich nur einmal diese Szene in der Stadt vor, sobald die Gesandten des Papstes eintreffen, so wie man es sich über die Stadt erzählt, in der die Albigenser Unterschlupf gefunden hatten. Sie sagten: „Tötet sie alle. Gott wird die Seinen erkennen.“ Das Massaker würde nun keinem Zweck mehr dienen und in Hysterie ausarten. Ein Ungläubiger könnte schon einen Feind foltern, um zu erfahren, wo der Schatz vergraben ist, aber die Folter artet wirklich aus, wenn sich die Autoritäten davon überzeugt haben, die Seele des Gefolterten zu retten. Dann gibt es keine Grenzen. Ich habe schon mehrmals von iranischen Oppositionellen gehört, dass der Islam die Exekution einer Jungfrau verbietet. Umso besser, dann wird eine schuldige Jungfrau einfach zunächst von Herr Ahmadinejads gottesfürchtigen „revolutionären Garden“ vergewaltigt und erst an den Henker weitergereicht, sobald sie mit ihr fertig sind. Sobald Gott auf Ihrer Seite ist, gibt es kein Verbrechen, dass Sie nicht verüben könnten und keine Grausamkeit, die Sie sich nicht selbstgerecht ausdenken könnten.
Die Genitalverstümmelungs-Lobby ist ausschließlich religiös. Die Selbstmordattentats-“Gemeinschaft“ ist fast ausschließlich religiös. Die „Endzeit“- und Weltuntergangsbewegungen, die frohen Gemüts auf die völlige Zerstörung der einzigen Welt hoffen, die wir kennen oder jemals kennen werden, sind religiös laut Definition. Ohne ein billiges Argument anführen zu wollen: Die Serienmörder oder „Stimmen sagten mir, dass ich es tun soll“-Gemeinschaft ist wohl kaum säkular oder atheistisch. Wir sehen also wieder einmal, dass es nicht nur logisch unmöglich ist, Ethik und Moral von dem Übernatürlichen abzuleiten; tatsächlich ist es viel wahrscheinlicher, dass wir unsere moralischen Grundsätze von einer Untersuchung unseres gemeinsamen menschlichen Zustands ableiten können – oder hoffen können, sie von dort zu erhalten – als dass wir sie vom Himmel bekommen. Wer das Gegenteil behauptet, will nicht erkennen, welche Rolle Religion und Aberglauben spielen, wenn sie nicht nur unfähig sind, Menschen dazu zu bringen, sich besser zu verhalten, sondern wenn sie sie auch noch dazu aufhetzen, sich schlechter zu verhalten.
Übersetzung: Andreas Müller
Quelle: Free Inquiry. Ausgabe Februar/März 2008. S. 18-19. (Nur Druckfassung).
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