(hpd) Das „Jahrbuch für Antisemitismusforschung“ liegt in seiner einundzwanzigsten Ausgabe vor. Einen Themenschwerpunkt bilden Beiträge zum Antisemitismus in Litauen, darüber hinaus findet man aber in bewährter Qualität auch beachtenswerte Abhandlungen zur Judenfeindschaft in anderen Ländern und zu anderen Zeiten.
Das „Jahrbuch für Antisemitismusforschung“ versteht sich als Forum für wissenschaftliche Beiträge, die sich sowohl auf die Feindschaft gegen Juden wie auch gegen andere Minderheiten beziehen. Es erschien in den bisherigen zwanzig Ausgaben unter der Herausgeberschaft des Historikers Wolfgang Benz, dem langjährigen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Die nun vorliegende einundzwanzigste Ausgabe hat seine Nachfolgerin in dieser Funktion, Stefanie Schüler-Springorum, herausgegeben. Inhaltlich und strukturell änderte sich dadurch aber nichts an dem bewährten Konzept: Weiterhin bleibt das Jahrbuch sowohl inhaltlich international wie perspektivisch interdisziplinär ausgerichtet, wobei insbesondere der letztgenannte Gesichtspunkt ihm eine besonders interessante und reflexionswürdige Dimension verleiht. Wie auch in den vorherigen Ausgaben finden sich die 17 Beiträge unterschiedlichen Themenschwerpunkten im Sinne einer kapitelbezogenen Einteilung zugeordnet.
Die ersten zehn Abhandlungen, die auf einen Workshop am Londoner Institute of Jewish Studies zurückgehen, konzentrieren sich auf Antisemitismus und Judentum in Litauen: Francois Gusnet/Darius Staliunas geben einen Überblick zu den litauisch-jüdischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert und Werner Bergmann widmet sich für diese Zeit der Zunahme des Gewaltniveaus. Darius Staliunas geht antisemitischen Tendenzen während der Revolution von 1905 nach, und Klaus Richter untersucht das Verhältnis von Antisemitismus und Intelligenzija. Die Motive für die politische Kooperation von Juden und Litauer im Ersten Weltkrieg stehen bei Sarunas Liekis und der Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit bei Vladas Sirutavicius im Zentrum. Mordechai Zalkin untersucht die Rolle von hebräischen Übersetzungen und Joachim Tauber das Verhältnis von Hitler, Stalin und dem Antisemitismus in Litauen. Und schließlich behandeln Christoph Dieckmann Pogrome in Litauen 1941 und Saulius Suzidelis Erinnerungen an den Holocaust in dem Land.
Die zweite Rubrik enthält allgemein Beiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten des Antisemitismus, die sich auf verschiedene Länder und Zeiten beziehen: Daniel R. Schwartz geht auf die Entwicklung hin zum Berliner Antisemitismusstreit ein, und Andrea Hopp untersucht anhand von zwei Fallbeispielen die antisemitischen Einstellungen adeliger Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Der Antisemitismus in deutschsprachigen Lexika des Kaiserreichs und der Weimarer Republik steht bei Wiebke Wiede und der Antisemitismus in empirischen Studien in Deutschland 1996 und 2006 in vergleichender Perspektive bei Werner Bergmann und Anna Verena Münch im Zentrum. Und schließlich fragen Sina Arnold nach dem Antisemitismus in der „Occupy“-Bewegung in den USA und Rainer Erb nach den Besonderheiten des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrundes“ in Deutschland. Im Anhang findet sich dann noch ein Besprechungsessay von Susanne Urban über neuere Literatur zum Thema Jüdische Displaced Persons.
Da die einzelnen Beiträge nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Perspektive her unterschiedlich ausgerichtet sind, können sie auch nicht in der Gesamtschau gewürdigt werden. Mitunter fehlt es ein wenig an analytischen Aussagen in den stark historisch ausgerichteten Abhandlungen. Eine Ausnahme ist hier der Beitrag von Werner Bergmann zur Gewaltentwicklung, arbeitet er doch gegen Ende die jeweiligen Bedingungsfaktoren dafür überzeugend heraus. Andrea Hopp kann in ihrem Beitrag zu antisemitischen Einstellungen adeliger Frauen anhand von nur zwei Personen gut aufzeigen, welchen Erkenntnisgewinn auch solche scheinbar „exotischen“ Studien erbringen. Bei Sina Arnolds Untersuchung des Antisemitismus in der „Occupy“-Bewegung bleibt ein wenig unklar, ob die geschilderten Einzelfälle nur Einzelfälle sind oder ob sie für eine allgemeinere Tendenz in der Protestbewegung stehen. Allein diese drei Beiträge lohnen die Lektüre der auch ansonsten wieder gelungenen Ausgabe des „Jahrbuchs für Antisemitismusforschung“.
Armin Pfahl-Traughber
Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 21, Berlin 2012 (Metropol-Verlag), 448 S., 21 €.