Den Niedergang des Westens haben schon viele vorausgesagt. Allerdings hat Emmanuel Todd in seinem Buch "La chute finale" (deutsch: "Vor dem Sturz: Das Ende der Sowjetherrschaft") bereits 1976 den Niedergang der Sowjetunion richtig vorausgesagt. Unter anderem anhand der steigenden Kindersterblichkeit. Daher sollte man sich vielleicht mal genauer anschauen, was dieser französische Historiker in seinem neuen Buch "Der Westen im Niedergang – Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall" zu sagen hat. Zumal er auch die Niederlage der Ukraine voraussagt.
Der Demograf Todd (Jahrgang 1951) analysiert des Weiteren die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den USA, im Vereinigten Königreich ("träge, erloschene oder prostituierte Nation", S. 199), Skandinavien, Deutschland, Frankreich, den osteuropäischen Staaten sowie Russland und der Ukraine. Allerdings: "Der Fall des Westens wird nicht durch einen russischen Sieg, sondern durch einen Zerfall der USA von innen heraus erfolgen." (S. 12)
Den Niedergang des Westens sieht Todd im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Nationalstaaten, des Protestantismus sowie dem der Mittelschicht. ("Der entscheidende Faktor für den Aufstieg des Westens war das Festhalten des Protestantismus an der Alphabetisierung", S. 187 – "Mit dem Protestantismus traten Völker auf den Plan, die durch zu viel Bibellektüre glaubten, von Gott auserwählt zu sein", S. 126) Als Anthropologe lässt Todd auch die unterschiedlichen Familienstrukturen und die Entwicklung der Kindersterblichkeitsrate als Seismograph des schwächsten Gliedes der Gesellschaft in seine Überlegungen einfließen.
Aber auch an dem Rückgang der IQ-Werte seit 1995 und die "Flucht der klugen Köpfe in unproduktive Berufe" (S. 248) macht Todd den Niedergang fest. Banker, Steueranwälte und Lobbyisten statt Ingenieure. Dabei verweist Todd auch darauf, dass Russland nur über gut die Hälfte der Bevölkerung der USA verfügt, aber trotzdem insgesamt eine höhere Zahl von einheimischen Ingenieurinnen und Ingenieuren ausbildet.
Todd beschreibt Russland als autoritäre Demokratie. Dennoch weise Russland in zahlreichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen (alkoholbedingte Todesfälle, Selbstmordrate, Tötungsrate) positive Entwicklungen auf. Dass Russland seit 2020 Nettoexporteur von Agrarprodukten wurde, kann definitiv nichts mit der im Westen oft betonten russischen Kriegswirtschaft ab 2022 zu tun haben. Todd wirft die Frage auf, warum der Westen diese russische Realität nicht bei seiner Sanktionspolitik berücksichtigte. Der ausbleibende Zusammenbruch der russischen Wirtschaft angesichts der westlichen Sanktionen hätte den westlichen Staatenlenkern von Anfang an bewusst sein müssen. ("Das westliche Lager fuhr trotzdem fort, zu denken und zu handeln, als sei es immer noch Herr der Welt, und seine Medien haben es sich in den Kopf gesetzt, aus ihm allein die 'internationale Gemeinschaft' zu machen" – S. 268)
Dass Russland nicht plane weitere europäische Staaten anzugreifen, macht Todd an der Fertilitätsrate pro russischer Frau fest, die ungefähr auf dem vergleichsweise niedrigen westlichen Niveau liege. Russland könne sich angesichts seiner stagnierenden Bevölkerungszahl keine großen menschlichen Verluste in Kriegen leisten. Andernfalls würde auch Putin massiven gesellschaftlichen Gegenwind in Russland erfahren. Die russische Bevölkerung könne schon heute das Riesenreich kaum bevölkern. Russland sei wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch stabil, demografisch aber schwach.
Das Dreiecksverhältnis zwischen Europa, den USA und Russland sieht Todd letztlich als aktuelle Bestätigung des alten Leitsatzes des britischen Generals Hastings Lionel Ismay aus den 1950er Jahren: "To keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down." Die USA, die Todd als "liberale Oligarchie" bezeichnet, seien darauf bedacht, auf jeden Fall den eigenen weltweiten Machtverlust zu verhindern. Dieser Verlust drohe durch das Aufstreben Chinas und durch ein Bündnis zwischen Europa, insbesondere des technisch versierten Deutschlands und seinem französischen Verbündeten, mit einem rohstoffreichen Russland, das dieses Europa günstig mit eben jenen Rohstoffen versorgt. Mit der aktuellen Entwicklung würde der Niedergang der USA derzeit auf Kosten der Europäer lediglich verlangsamt.
Das durchaus mit einer Prise Humor geschriebene Buch bietet durch zahlreiche geopolitische, gesellschaftliche und historische Details ausreichend Anregungen mit dem eigenständigen Denken fortzufahren und den eigenen Blick auf diese Welt zu prüfen.
Emmanuel Todd, Der Westen im Niedergang – Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall, Westend Verlag, Frankfurt 2024, 352 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3-86489-469-5