Rezension

"Mein Kopf fühlt sich an, als würde er vor Schmerzen zerbersten"

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Symbolbild

Natalie Grams hat ein Buch geschrieben. Das an sich wäre nicht bemerkenswert; es ist ja nicht ihr erstes. Allerdings fand sich kein Verlag, der das Buch drucken wollte: Weil es sich finanziell nicht lohne und inhaltlich sowieso niemanden mehr interessiere. Was für eine unglaubliche Fehleinschätzung! Denn auch wenn alle so tun als ob: Das Covid-Virus ist noch immer existent und relevant. Nur redet keiner mehr darüber. Und auch nicht über die Opfer und die Folgen der Erkrankung.

Das hier kann keine sachliche, objektive Buchbesprechung werden. Ich kenne Natalie Grams nicht nur; ich zähle sie zu meinen Freundinnen. Wir haben uns am Rande der Skepkon 2018 kennengelernt und wollten eigentlich nur ein Interview machen. Daraus wurde eine Freundschaft und Natalie Grams wurde dann einige Jahre Mitglied im Präsidium des Vereins, der unsere Arbeit hier erst ermöglicht.

Und dann kam Covid. Natalie Grams erkrankte an Long Covid und zudem an ME/CFS. Aus einem Menschen, der eine Energie hatte, die für drei gereicht hätte, wurde einer, der sich seine Kraft in winzigen Dosen einteilen muss. Als ich die ersten Videos sah, in denen sie ihre Erkrankung öffentlich machte, schossen mir die Tränen in die Augen.

"Wäre die Pandemie nicht gekommen, würde sich wahrscheinlich heute noch kaum jemand für ME/CFS interessieren. Aber trotz inzwischen großer öffentlicher Wahrnehmung, vieler engagierter Mediziner aber auch Journalisten und Politiker, hat sich für die Betroffenen noch wenig geändert. Außer dass es inzwischen noch viel mehr geworden sind, denn ein Teil der Long COVID-Patienten leidet auch an ME/CFS – alleine in Deutschland sind es inzwischen wahrscheinlich eine halbe Million ME/CFS-Betroffener." (98)

Das Buch richtet sich nach meinem Eindruck zum einen an Ärzte und Menschen in medizinischen Berufen und zum anderen (und das vielleicht noch mehr) an ebenfalls Betroffene. Es ist allgemeinverständlich geschrieben, so dass auch medizinische Laien begreifen können, was das Problem ist, wenn man die Diagnose ME/CFS erhält: "Denn der wahre Schrecken ist nicht nur die Diagnose, sondern wie man als Betroffene damit in unserem modernen, hochspezialisierten und – trotz all seiner Defizite – immer noch leistungsstarken Gesundheitssystem allein gelassen wird." (74) Immerhin hat Natalie Grams das Glück gehabt, selbst Ärztin zu sein und diese Diagnose recht schnell zu bekommen; sie berichtet über Fälle, in denen Betroffene jahrelang ohne Diagnose und damit ohne medizinische Hilfe blieben.

Mehr Informationen über die Erkrankung finden sich auf der Website der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.

Die Myalgische Enzephalomyelitis  / das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen, in Deutschland nach vorsichtiger Schätzung aktuell 500.000 Menschen, darunter rund 80.000 Kinder. "Ungefähr zwei Drittel der ME/CFS-Erkrankten sind nie wieder arbeitsfähig." (135)

Was bedeutet denn eigentlich ME/CFS für den Betroffen? Vor allem das hier: "Betroffene können bisher oft nichts anderes tun, als still im Bett zu liegen, unter maximaler Reizabschottung – über Jahre bis Jahrzehnte hinweg." (108) So wundert es nicht, dass die Suizidrate von Patienten mit dieser Diagnose signifikant höher ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Denn zu wissen, dass möglicherweise ein Leben "in kompletter Bettlägerigkeit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit" vor einem liegen könnte, könnte manchem den Abschied vermutlich leichter machen.

"Mein Kopf fühlt sich an, als würde er vor Schmerzen zerbersten wollen. Ich kann nicht mehr laut sprechen, kann nichts mehr essen (mir ist sooo übel), kann nicht mehr Zähne putzen oder mich ausziehen."

Die Öffentlichkeit tut so, als wäre Corona kein Thema mehr. Doch dabei haben wir uns nur daran gewöhnt wie an die jährlichen Grippewellen. Der Schrecken wurde zur Normalität. "Und vielen ist die akute Infektion zu Recht mittlerweile egal, ja, nur einige Prozent der (Re-)Infizierten entwickeln Long COVID und noch weniger ME/CFS." (402) Natalie Grams fordert, dass wir das nicht ignorieren sollten, "nur weil es nicht so bockt, pandemie-assoziierte Themen überhaupt noch zu besprechen, ohne dass Menschen regelrecht aufeinander losgehen." Denn auch wenn eine halbe Million Betroffener nicht viel erscheint; wir können als Gesellschaft diese Menschen nicht einfach ignorieren.

"Schon vor der Pandemie war ME/CFS eine vergessene Krankheit. Viel zu wenig war darüber bekannt, wie krass diese Krankheit das Leben von oft jungen Menschen verändern kann. Manchen, die seit Jahren bis Jahrzehnten (!) darunter leiden, muss es wie Hohn vorkommen, dass ich zu jedem Zeitpunkt meiner Krankheit, wenn auch unter Mühe und mit Hilfe, das Bett verlassen konnte und wenn ich auch nicht sitzen konnte, so konnte ich doch ein paar wenige Schritte gehen und somit zum Beispiel selbstständig auf die Toilette gelangen. Vielen Betroffenen ist es nicht möglich, selbst basale Selbstversorgung, wie die tägliche Körperhygiene, alleine durchzuführen; sogar das Sprechen oder Essen kann unmöglich werden." (338)

Patienten mit ME/CFS werden häufig Pflegefälle. Und wie es mit dem Zustand der Pflege in Deutschland aussieht… darüber brauchen wir an dieser Stelle nicht reden. Schlimm wäre dabei noch arg untertrieben.

Hinzu kommt, dass schon allein die Kosten für die Diagnostik und für die Behandlung enorm sind. "Allein die vielen Blutuntersuchungen haben mich wahrscheinlich um die 2.000 € gekostet. Dazu kommt ambulante Schlafdiagnostik (650 €), Untersuchung auf Small-Fiber-Neuropathie (550 €), privat bezahlte Untersuchung der Gefäße und Kapillaren (knapp 1.000 €), Folge- und Medikamentenanpassungsgespräche (je zwischen 100-250 €), Medikamentenkosten (ca. 300 €/Monat), die Reise- und Übernachtungskosten zu den Expert*innen… 1.000 € für gute Luftfilter. Und dann natürlich jeden Tag die Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel, Infusionen. Das alles (und noch viel mehr) ist meist komplett aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Auf Jahre. Bei Krankengeld, Erwerbsminderungsrente oder nur noch Grundsicherung. (1856)

Cover

Diese Summen sind für viele Betroffene überhaupt nicht zu stemmen. Und die Krankenkassen übernehmen viele der hier aufgeführten und von Natalie Grams privat finanzierten Kosten nicht. "Wer an Long COVID und ME/CFS erkrankt ist, bekommt, zusätzlich zur Bürde der körperlichen Symptome, gerne noch die Härte unseres Sozialsystems zu spüren. Ein Beispiel: Einen Pflegegrad zu beantragen, selbst wenn man definitiv pflegeabhängig ist, ist gar nicht leicht. Das liegt (auch) daran, dass die Pflegegrad-Kriterien überhaupt nicht auf die Ausfälle ausgerichtet sind, die man bei Long COVID und ME/CFS erleidet." (1941) So wird der Mehrbedarf für Hilfe, wenn Kinder im Haushalt von Pflegebedürftigen leben, durch die aktuellen Kriterien "zu genau null Prozent abgedeckt". Man geht einfach davon aus, dass Menschen mit minderjährigen Kindern kein Pflegefall sind. Punkt.

Die Schäden für die Allgemeinheit, die durch die fehlende Akzeptanz und das mangelnde Wissen über die Erkrankung (wo selbst Ärzte Erkranken raten "sich nicht so zu haben" oder "sich mal zusammenzureißen") entstehen, sind noch längst nicht bekannt. Auch in der Medizin hat sich der Gedanke noch nicht durchgesetzt, dass "bei Long COVID und ME/CFS (…) vieles kontraintuitiv und wider die bekannte Erfahrung" läuft. Die einzelnen Erscheinungsbilder der Krankheiten werden häufig nicht ernstgenommen und verstanden. Zudem gibt es (noch?) keine erprobte medikamentöse Behandlung der Erkrankung, Es werden mehr oder minder wirkungsvoll einzelne Symptome behandelt.

In einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel vom 10. Oktober sagte Natalie Grams: "Ich bin im elften Monat meiner Krankheit. Wir haben einen neuen Modus gefunden, mit dem wir als Familie leben können. (…) Ich habe früher Vollzeit gearbeitet und einen Podcast gemacht. Ich war immer eine sehr arbeitsfreudige Mutter, also für meine Kinder nicht immer erreichbar. Jetzt bin ich zwar da, aber nicht mehr verfügbar."

Natalie Grams versucht mit diesem mühsam diktierten Buch, uns wachzurütteln, uns auf die Not, die Hilflosigkeit, die Angst und die Wut der Betroffenen – dazu zählen auch die Angehörigen der Patienten! – aufmerksam zu machen. Bei mir ist es ihr gelungen.

Und für all jene, die noch immer nicht ganz verstanden haben, was es bedeutet, an ME/CFS erkrankt zu sein, lasse ich abschließend noch einmal Natalie Grams sprechen:

"Nicht lachen. Nicht lesen. Nicht daddeln. Nicht Musik hören. Nicht telefonieren. Nicht ins helle Licht schauen. Nicht das Eintragen der Werte in die App vergessen. Nicht vergessen, mir alles aufzuschreiben, was ich nicht vergessen darf. Nicht denken. Nicht das Fenster öffnen, wenn draußen Geräusche sind (also selten). Nicht die Rollladen hochziehen, wenn es draußen hell ist (also meistens). Nicht die Medikamente vergessen. Nicht alles alleine machen wollen. Nicht mehr unabhängig sein wollen. Nicht undankbar sein. Nicht unglücklich sein. Nicht grübeln. Nicht selber kochen. Nicht mal an Sport denken. Nicht lange aufbleiben. Nicht auf Veranstaltungen der Kinder mitgehen. Nicht zu viele Fragen stellen. Nicht alles hinnehmen. Nicht aufregen. Nicht erstarren. Nicht wütend werden. Nicht zu viel bewegen. Nicht zu wenig bewegen. Nicht zu schnell aufstehen. Nicht zu viel auf sich selbst achten. Nicht verzweifeln. Nicht zu verzweifelt versuchen nicht zu verzweifeln. Nicht beeilen. Nicht zu viele Nachrichten lesen. Nicht die Welt vergessen. Nicht nach den Freund*innen sehnen. Nicht an die Arbeit denken. Nicht die Kolleg*innen vermissen. Nicht den Sinn suchen. Nicht die Hoffnung aufgeben. Nicht zu viel Hoffnung machen. Nicht an die Zukunft denken. Nicht an die Vergangenheit denken. Nicht das Jetzt verteufeln. Manchmal weiß ich nicht mehr, was ich noch nicht machen soll." (1410)


Hinweis: Ich habe das eBook gelesen; deshalb kann ich bei den Zitaten keine Seitenzahlen angeben. Die Ziffern in Klammern sind die sogenannten "Locations".

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