(hpd) Der Sammelband „Politischer Islam im Vorderen Orient. Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand“ enthält allgemeine Analysen und Länderstudien zur Entwicklung des Islamismus. Die Beiträge heben sich durch ihre abgewogene und differenzierte Analyse zu den Handlungsstrategien dieses politischen Lagers wohltuend von vielen oberflächlichen Darstellungen zum Thema in der deutschsprachigen Literatur ab.
Der Islamismus lässt sich nicht nur auf seine terroristische Variante mit den bekannten Anschlägen in London, Madrid oder New York reduzieren. Darüber hinaus bestehen eine ganze Reihe Organisationen in diesem politischen Lager, die als soziale Bewegung oder auf parteipolitischer Ebene agieren. Das Gesamtphänomen Islamismus lässt sich demnach nur bei Beachtung der Vielfalt in Ideologie und Strategie adäquat und differenziert verstehen. Dazu will der von den Politikwissenschaftlern Holger Albrecht und Kevin Köhler herausgegebene Sammelband „Politischer Islam im Vorderen Orient. Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand“ einen Beitrag leisten. Die darin enthaltenen zehn Aufsätze sollen einen tieferen Einblick in die Welt des Islamismus bieten und darüber hinaus eine Lücke zur englischsprachigen Literatur schließen. Hierbei nutzen die Autoren unterschiedliche sozialwissenschaftliche Analyseverfahren aus anderen Kontexten, um sie erkenntnisfördernd auf das Phänomen des politischen Islam anzuwenden.
Einführend gehen die Herausgeber zunächst auf die Handlungsstile des Islamismus und den staatlichen Umgang mit ihm ein. Dem folgt seine Deutung als Soziale Bewegung durch Eva Wegner und eine Erörterung zur Rolle des Islam in innerstaatlichen Konflikten von Alexander De Juan. Die Fallstudien widmen sich demgegenüber der Situation in bestimmten Ländern: Ivesa Lübben analysiert die organisatorisch-strategischen Entwicklung der Muslimbruderschaft in Ägypten, und Henner Fürtig behandelt die Re-Konfessionalisierung im Irak. Die Eindämmung des Islamismus in Jordanien und Marokko und Aufstieg und Mäßigung des politischen Islam in Algerien stehen im Zentrum der Beiträge von Julius Kirchenbauer und Rahid Ouaissa. Kevin Köhler behandelt die Islah-Partei im Jemen zwischen Opposition und Regime, Michael Schmidmayr die Anerkennungsstrategie gegenüber den Islamisten in Bahrain und in Kuwait und Erik Mohns die Gratwanderung der Hizbollah zwischen Mandat und Widerstand im Libanon.
Bilanzierend bemerken die Herausgeber: „Islamisten sind nicht als Akteure sui generis zu begreifen; vielmehr sind sie rationale Akteure, die zwar ihren ideologischen Bezugspunkt in der Religion des Islam finden, unter anderen Aspekten aber durchaus mit ideologisch anders ausgerichteten Gruppen vergleichbar sind“ (S. 12). Diese Einsicht eröffnet auch analytisch neue Perspektiven. Und weiter heißt es zusammenfassend bei Albrecht und Köhler: „Als eines der wichtigsten Ergebnisse wird in allen Beiträgen deutlich, dass islamistische Bewegungen ihre Handlungsoptionen keineswegs prioritär an ideologisch vorgeformten und unverrückbaren Prämissen orientieren, sondern dass sie in ihren Entscheidungsfindungsprozessen ausgesprochen pragmatisch, strategisch und flexibel agieren und sich den sich ständig verändernden Rahmenbedingen anpassen. Eine zweite Quintessenz der Beiträge ist die Feststellung, dass islamistische Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten eine ungeheure Mobilisierungskraft und gesellschaftlichen Rückhalt besitzen“ (S. 27).
Die Beiträge des Sammelbandes heben sich von anderen Darstellungen zum Islamismus positiv durch ihren hohen Informations- und Analysegehalt ab. Insbesondere durch Letzteres vermitteln sie auch methodische Ansätze der englischsprachigen Fachliteratur, welche in den meisten deutschsprachigen mehr oberflächlichen Darstellungen kaum Eingang gefunden haben. Dies gilt insbesondere für die Deutung des Islamismus als soziale Bewegung, die sich sowohl gegen autoritäre Herrschaft wie gesellschaftliche Probleme richtet. Damit soll – entgegen einer oberflächlichen Wahrnehmung – dieses politische Phänomen weder legitimiert noch verharmlost werden. Nur so kann aber die Akzeptanz für derartige Politikangebote in der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern erklärt werden. Dazu liefern die Autoren eine ganze Reihe von wichtigen Anregungen. Dies gilt übrigens auch für die Ausführungen zu Erfahrungen mit Gegenstrategien. Man mag hier jeweils anderer Auffassung sein, aber man muss sich mit den Positionen auseinandersetzen.
Armin Pfahl-Traughber
Holger Albrecht/Kevin Köhler (Hrsg.), Politischer Islam im Vorderen Orient. Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand (Reihe: Weltregionen im Wandel, Bd. 5), Baden-Baden 2008 (Nomos-Verlag), 231 S., 34 €