Bedingungsloses Grundeinkommen und Gender

hpd: Das Grundeinkommen würde von unserem Staat erstmal an die Menschen ausgezahlt, die auch StaatsbürgerInnen sind. Das würde heißen, dass diejenigen, die die Staatsbürgerschaft nicht besitzen, eventuell in Arbeitsbereiche abgeschoben würden, die sonst niemand mehr machen will und machen muss. Da gäbe es bestimmt auch viel Arbeits- und Korrigierbedarf?

K.H.: Ja. Das BGE ist in seiner Konsequenz ein Weltgrundeinkommen, d.h. implizit fordern wir, auch wenn wir es nicht ständig sagen, ein Weltgrundeinkommen. Und infolgedessen, da gehe ich mit dem Kandidaten von Wahlkreis 84 in Berlin (Kreuzberg-Friedrichshain), Thomas Feldhaus (parteilos), d’accord, fordern wir auch offene Grenzen. BGE und offene Grenzen sind zusammen sinnvoll. Es ist eine weitreichende Idee, was kann man mehr fordern als eine existenzsichernde Summe Geldes für jeden Menschen auf der Welt und offene Grenzen noch dazu? Das klingt total utopisch. Es ist zunächst aber konsequent und zeigt die Tragweite der Idee auf. Interessant ist was Thomas Feldhaus dazu sagt und auf welche Untersuchungen er sich bezieht: offene Grenzen sind durchführbar, nach und nach. Die Staaten müssten sich multilateral zusammentun und ihre Grenzen öffnen. So könnte man das allmählich steigern. Die Befürworter des BGE müssen sich unbedingt mit diesem Thema befassen, weil es natürlich absolut unbefriedigend ist, sich vorzustellen, dass das BGE nur für deutsche Staatsbürger gilt. Das wäre fatal.

hpd: Viele KritikerInnen des BGE befürchten, dass mit Einführung von BGE und offenen Grenzen Deutschland eine Einwanderungswelle erführe, die es nicht mehr aufnehmen könnte.

K.H.: Die Einführung ist mehr prozessual zu denken. Wenn die Einführung für Kinder ab einem bestimmten Jahrgang beginnt, ist der Anreiz der Einwanderung vermutlich noch nicht gegeben. Außerdem glaube ich nicht, dass viele Menschen nur aus finanziellen Erwägungen heraus bereit sind, ihre Heimat zu verlassen. Diese Befürchtung teile ich nicht. Ich sehe auch keine Migrantenströme auf uns zukommen, nur weil es hier vielleicht für Kinder ab Jahrgang sowieso Geld gibt, das mehr wäre als das Kindergeld.

Ich möchte diese Frage zum Anlass nehmen, auf eine andere Ebene der Überlegungen zu wechseln. Wir haben jetzt das BGE auf der sozialen Ebene diskutiert. Ich bin aber der Meinung, wir sollten einmal versuchen, es politisch-philosophisch zu sehen und zwar die Bedingungslosigkeit zu denken. Die berechtigten Fragen sollen nicht beiseite geschoben werden, sondern ich will auf eine Ebene, die diesen Fragen etwas hinzufügen kann, das BGE zu verstehen hilft und Ängste gegenüber einer möglichen Einführung bekämpft. Die Bedingungslosigkeit ist der Clou bei der Debatte. Auf sie kommt es an. Es geht nicht um weniger als einen Rechtsanspruch für jeden und unter allen Umständen. D.h. Männer, Frauen, Kinder sowieso, aber – da kann man unter Gerechtigkeitsaspekten zusammenzucken – es würde auch Straftätern ausgezahlt werden sowie denjenigen, die das Geld nicht in gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit umsetzen, die der Gesellschaft nichts zurückgeben. Es ist übrigens sehr schwierig, dieses Nichts-Zurückgeben zu definieren, es wäre uns wohl sehr unbehaglich damit. Manche Befürworter knüpfen an die Forderung nach dem Grundeinkommen eine Art Bringschuld. Was soll das heißen? Ich denke, diese Bringschuld darf es nicht geben. Wir dürfen an der Freiwilligkeit überhaupt nicht rütteln.

Ich möchte eine prominente Vordenkerin der politischen Philosophie bemühen. Es gibt mehrere, aber zunächst einmal: Hannah Arendt. Sie hat den Begriff „Natalität“ ins Feld geführt, der mit „Gebürtlichkeit“ oder „Geboren-Sein“ übersetzt werden kann, als es ihr darum ging, die Möglichkeit von Handeln ontologisch zu denken. Das klingt zunächst nach einem Gedankensprung, erklärt sich aber aus einem emphatischen Verständnis für das Geboren-Sein des Menschen. Der Begriff ist mit spirituellen Konnotationen versehen, und das ist gut, wenn es um die Tragfähigkeit einer umwälzenden Veränderung geht, die eine kulturelle Basis braucht. Mir selbst und Hannah Arendt ist der Bezug zur christlichen Kirche nicht wichtig, darum geht es nicht. Wenn ich Neuerung als etwas Positives begreife, als Möglichkeit von Veränderung, dann kommt mit jedem neuen Leben die Möglichkeit von Veränderung und Erneuerung in die Welt, dann wird Handeln überhaupt möglich. Bei Hannah Arendt ist übrigens politisches Handeln gemeint. Ein handlungsfähiges Leben wäre unter den Bedingungen des BGE adäquat begrüßt und finanziell mit dem Nötigen ausgestattet. Es wäre auf der gesellschaftlichen Ebene willkommen geheißen.

hpd: Ich hätte das zunächst anders aufgezogen. Wenn in der deutschen Verfassung die Würde des Menschen und damit auch ein würdevolles Leben sowie das Recht auf Leben so entscheidend eingefordert werden, dann ist eine finanzielle Absicherung des würdevollen Lebens nur konsequent. Es gibt doch bestimmt auch menschenrechtliche Begründungen des BGE?

K.H.: Ich versuche beides zusammen zu denken. Der bereits erwähnte Thomas Feldhaus beruft sich zur Einführung des BGE nur auf die Menschenrechte. Er nennt das BGE ein Menschenrecht, mit dem ernst gemacht werden müsse. Denn in einer Welt, in der ich für das Überleben Geld brauche, müsste ich es folgerichtig auch bekommen, und zwar in einer existenzsichernden Höhe. Meine kleine Tochter war, als sie drei Jahre alt war, der Meinung, Geld müsse an den Bäumen wachsen, ganz einfach weil man es braucht, und dann muss es auch da sein.

hpd: Du wolltest dich vorhin noch auf eine andere Vordenkerin beziehen?

K.H.: Ich wollte darauf hinweisen, dass es eine Gruppe gibt, die das Geboren-Sein des Menschen im Zusammenhang mit der Befürwortung des BGE ebenfalls betont: Die Gruppe Gutes Leben, die das Manifest „Sinnvolles Zusammenleben im ausgehenden Patriarchat“ verfasst hat. Die Autorinnen äußern übrigens gleichfalls die Sorge, dass die durch die Erwerbsarbeit erreichte Unabhängigkeit mit der Einführung des BGE zurückgeschraubt werden und es zu einer Verstärkung traditioneller Rollen kommen könnte. Die Befürchtung des Backlash ist also sehr präsent. Aber, wie ich vorhin schon sagte, einer jeden emanzipatorischen Forderung ist eine gewisse Ambivalenz inhärent.

hpd: Du interessierst dich auch für die Implikationen des BGE auf der symbolischen Ebene und hältst das BGE für eine Fortsetzung des mütterlichen Prinzips? Würdest du das erläutern?

K.H.: Ich möchte die Bedingungslosigkeit als Fortsetzung des „Werkes der Mutter“ verstehen, mit Luisa Muraro gesprochen. „Werk der Mutter“, damit ist die frühkindliche Bindung von Mutter und Kind als Prototyp für Bindungen überhaupt gemeint. In der Sprache der psychoanalytisch beeinflussten Philosophie heißt es, in der kindlichen Entwicklung komme irgendwann der Punkt, an dem man sich aus der Bindung zur Mutter lösen und in die „Ordnung des Vaters“ übergehen muss, die die gesellschaftliche Ordnung bestimmt. Die symbolische Ordnung der Mut-ter trete in den Hintergrund. Insbesondere die Mutter-Tochter-Beziehung wird dadurch ausgelöscht oder gestaltet sich extrem schwierig. Dies ist ein problematisches Verhältnis innerhalb des Patriarchats, es ist nicht „natürlich“ schwierig. Nun kann es aber diesen Ort, der nicht von der Norm durchdrungen ist, innerhalb der bestehenden Ord-nung nicht geben. Es stellt sich die Frage: Wie führt man denn dann überhaupt weibliche Erfahrung in diese symbolische Ordnung ein, Erfahrung, die ja gemacht wird und artikuliert werden soll und muss, um nicht in Krankheit umzuschlagen?

Zum Denken der Geschlechterdifferenz gibt es tolle Vorschläge aus der italienischen Frauenbewegung, die ich immer noch aktuell finde. Ist also das BGE etwas Mütterliches? Mit „mütterlich“ meine ich eine Gabe ohne die Verpflichtung zur Gegengabe. Das haben wir als Säuglinge und Kleinkinder erfahren – mal vorausgesetzt alles ist gut gegangen. Dieses Verhältnis stellt auf der symbolischen Ebene einen Prototyp dar. Es geht um Repräsentationen in unserem kulturellen Wissen, die ein uranfängliches Bezogensein des Menschen aufnehmen. In der Mütterlichkeit und auch umgekehrt, in unser aller Kindsein und dem damit verbundenen, natürlichen Annehmen von Lebensnotwendigem läge als Denkfigur des BGE eine feministische Sprengkraft, die die Leistungsnormen des Patriarchats und die Illusionen des autonomen Subjekts angreifen könnte.

hpd: Machst du damit nicht eine Gleichsetzung von Patriarchat und Kapitalismus? Ich gehe davon aus, dass sie nicht identisch sind, sondern dass beide „Systeme“ auch unabhängig voneinander existieren können, auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen. Und würdest du etwas zum Ideal des autonomen Subjekts sagen?

K.H. Patriarchat und Kapitalismus können nicht identisch sein, Patriarchat ist eine Herrschaftsform, Kapitalismus ein ökonomisches System. Den Zusammenhang kann ich im Rahmen dieses Interviews nicht aufzeigen, der Hinweis möge genügen, dass ihr jeweiliges Gegenteil, miteinander zusammenhängend, die längere Zeit der Menschheitsgeschichte bestimmt hat. In den matrifokalen oder matrilinearen Gesellschaften, von denen es übrigens immer noch einige gibt, lebten die Geschlechter egalitär ihre je eigenen Potenzen. Biologische Vaterschaft hatte keine soziale Bedeutung - genau darauf basiert die patriarchale Bemächtigung. Diese Gesellschaften waren oder sind friedlich, nicht expansiv und Jahrtausende alt. Unter Matriarchaten stellt man sich gemeinhin etwas anderes vor, eine Art Umkehr der Verhältnisse unterm selben Signum der Herrschaft. Das ist ganz falsch und liegt zum Teil an der anachronistischen Ableitung des Wortes „Matriarchat“ von „Patriarchat“. Um Herrschaft geht es gar nicht. Griechisch arché bedeutet auch gar nicht Herrschaft, sondern Anfang, Ursprung. Von diesen Gesellschaften können wir einiges lernen.

Das autonome Subjekt ist eine Konstruktion des Männlichen. Der Mann denkt sich autonom. Die feministische Kritik hat in die Konstruktion des Weiblichen, zunächst als Kritik des objekthaften Status, den die Frau darin hat, und dann darüber hinaus, die Beziehung eingeführt, vor allem die Beziehung zu anderen Frauen und zum Tochter-Kind, die weibliche Genealogie. So enthält die Konstruktion des Weiblichen in seiner Bezogenheit ein symbolisches Bild natürlicher Abhängigkeit, die vom Körper ausgeht. Und etwas anderes als den Körper haben wir ja nicht!

Die Fragen stellte Katharina Eichler

Die Bilder sind Inszenierungen von Evelin Frerk