Seyran Ates – Zwischen allen Stühlen

Ates mischt sich auch in den sehr aktuellen „Kopftuchstreit“ – sie ist der Auffassung, dass das Kopftuch in vielfacher Weise mehr politische denn religiöse Gründe hat und die Abgrenzung der Parallelgesellschaft gegenüber der Mehrheitsgesellschaft manifestieren will. Das beweist sie unter anderem auch damit, dass die Trägerinnen des Kopftuches immer jünger werden und inzwischen dieses Symbol der Unterdrückung bereits im Alter von 10 Jahren (oder jünger) tragen.

„Für mich steht das Kopftuch, unabhängig davon, ob es eine religiöse Pflicht zur Verschleierung gibt oder nicht, in eklatantem Widerstand zum Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes.“ (Seite 120)

„Das Kopftuch ist untrennbar verbunden mit der Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter. Daher sind nicht nur diejenigen Stellen im Koran interessant, die sich vermeintlich mit der Verschleierung beschäftigen, sondern auch jene, in denen Äußerungen zur Geschlechtertrennung enthalten sind.“ (Seite 125)

„Immer mehr muslimische Frauen tragen ein Kopftuch, und es fällt auf, dass sie es meinst anders tragen als die Frauen der ersten Generation. Das Kopftuch meiner Mutter ließ es zu, dass hier und da mal ein Haar herausschaute. Es war so gebunden, dass es durchaus verrutschen konnte. Heutzutage ist immer öfter die Art der Bindung zu sehen, die wir aus dem Iran kennen. Kein Haar, kein Ohr darf freiliegen. Der Hals ist ebenfalls streng bedeckt. Mit dieser Art, das Kopftuch zu binden, bekennt sich die Trägerin zum fundamentalistischen Islam.“ (Seite 130)

Seyran Ates schreib auch darüber, das es ihrer Meinung nach eine sehr starke Reformbewegung innerhalb des Islam gibt; diese vor allem – im Gegensatz zur (historischen) christlichen – von Frauen ausgeht. Allerdings widerspricht sie sich selbst, wenn sie sich (zu Recht) fragt, was am Islam denn reformierbar sei, wenn dort die Ungleichbehandlung der Geschlechter schon festgelegt sei. „Wie es trotz [...] eindeutig frauenverachtender juristischer Regelungen möglich ist, dass sogar Frauenrechtlerinnen in einigen islamischen Ländern der Ansicht sind, die Benachteiligungen würden abgeschafft, wenn der Islam nur richtig ausgelegt werden würde, ist mir ein Rätsel.“ (Seite 153) „Dass der Islam nicht reformierbar sei, sagen die Orthodoxen, die Fundamentalisten, auch einige Islamkritiker.“ (Seite 215)

Da ist es dann für mich ein auch Widerspruch, wenn sie selbst über ihre privat gelebte Religion spricht und diese als ritual und familiär beschreibt. Doch vielleicht mangelt es mir dafür als Atheist an Einfühlungsvermögen: ich verstehe nicht, wie man eine Religion und die in ihr angelegte Unterdrückung aufzeigen und kritisieren kann, um dann darauf zu verweisen, dass man trotzdem glaubt.

Allerdings sieht Seyran Ates Religion als etwas definitiv Privates an. Und spricht sich für die strikte Trennung von Staat und Religion – Schule und Religion aus: „Ich bin entschieden dagegen, dass unsere Kinder in der Schule konfessionellen Religionsunterricht erhalten. Es sollte unser Ziel sein, mündige, selbstständige Bürgerinnen und Bürger heranzuziehen, die sich zu gegebener Zeit selbst für oder gegen einen Glauben entscheiden können. Es kann nicht sein, dass Eltern unter Missachtung individueller Persönlichkeitsrechte, die auch Minderjährigen zustehen, ihren Kindern die eigene Religion aufzwingen.“ (Seite 217)

Meiner Meinung nach ist das Buch ein manchmal vielleicht sehr subjektiver, manchmal sogar übereifriger und zorniger, nichtsdestotrotz jedoch wichtiger Teil der aktuellen politischen Debatte. Und ehe wieder einmal ein paar selbsternannte Gute der Welt erklären wollen, wie diese zu funktionieren habe, sollten sie dieses Buch lesen. Allerdings ist Seyran Ates nicht sehr beliebt bei gerade denen. Denn immerhin wagt sie es, auch diese „Gutmenschen“ für ihre Blauäugigkeit zu kritisieren.

Ich empfehle den „Multikulti-Irrtum“ uneingeschränkt Jedem, der es wagt, selbst zu denken und sich ein Bild zu machen von der Gesellschaft, in der wir leben. Mit dem Islam, mit „Menschen mit Migrationshintergrund“.

Frank Navissi