Rezension

Über Wissenschaft und Verantwortung

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Ein Hammer kann ein Werkzeug oder eine Waffe sein
Hammer

Wir leben in einer Zeit, in der Fakten geleugnet werden und Verschwörungstheorien florieren. Wie können wir zwischen seriöser Forschung und pseudowissenschaftlichen Behauptungen unterscheiden? Welche Rolle spielt die Wissenschaft in unserer Gesellschaft?

Bereits in dritter Auflage ist das Lehrbuch "Theorien und Methoden der Wissenschaft" von Prof. i. R. Wolfgang Balzer erschienen. Es will in die Wissenschaftstheorie einführen. "Wissenschaftstheorie" ist ein Begriff, der im Englischen nicht existiert, weshalb es nach Ansicht des Autors durchaus passieren könnte, dass das deutsche Wort langfristig durch Anglizismen (etwa "Metascience") ersetzt wird.

Besonders hervorzuheben ist die Aktualität der dritten Auflage. Durch die rasante Entwicklung von Technologien wie dem Internet und der Künstlichen Intelligenz seit der zweiten Auflage vor 15 Jahren hat sich die wissenschaftliche Landschaft grundlegend verändert. Balzer trägt diesen Entwicklungen Rechnung und integriert sie in seine Ausführungen. Er thematisiert kritisch die Herausforderungen, die sich aus der digitalen Revolution für die Wissenschaft ergeben, wie etwa die Filterblasen in Suchmaschinen oder die Frage nach der Langzeitverfügbarkeit von digitalen Inhalten.

Ausgewählte Aspekte und Diskussion

Für Humanist*innen ist Balzers Werk aus mehreren Gründen von besonderem Interesse. Zum einen bietet es eine kritische Auseinandersetzung mit den Methoden der Wissenschaft, was das Vertrauen in seriöse Forschung stärkt. Zum anderen setzt der Autor die Wissenschaft in einen gesellschaftlichen Kontext und beschreibt in einem nüchternen, wissenschaftlichen Duktus Wechselwirkungen mit der Gesellschaft.

Buchcover

Eindrücklich ist Balzers Analyse der Verantwortung von Wissenschaftler*innen. Er argumentiert, dass auch Wissenschaftler eine Mitverantwortung für die Folgen ihrer Forschung tragen, und kritisiert die bequeme und weitverbreitete Antwort vieler Wissenschaftler*innen auf die Frage nach Verantwortung. Diese wollen zwischen der Herstellung und Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse unterscheiden. Das wissenschaftliche Produkt sei wie ein Werkzeug "ethisch neutral". Es liege allein am Nutzer, ob eine wissenschaftliche Erkenntnis für gute oder für schlechte Zwecke eingesetzt werde. Sie verweisen auf andere Werkzeuge, wie etwa einen Hammer. Der Hammer sei erfunden worden, um Nägel an die Wand zu schlagen, könne aber ebenso gut den Kopf eines Mitmenschen einschlagen. Der Hersteller des Hammers lehne jede Verantwortung für diese Nutzung des Hammers ab und schiebt sie auf den Nutzer, was die Allgemeinheit nicht kritisiere. Was für den Hammerproduzenten anerkannt ist, müsse auch für Produzenten wissenschaftlicher Erkenntnisse gelten. Der Autor vertritt hingegen eine andere Ansicht. Jeder an der Gesamthandlung beteiligte Akteur habe für den entstandenen Schaden Verantwortung in dem Maß zu übernehmen, in dem er zu einer Teilursache beigesteuert hat.

Das Beispiel des Vergleichs einer wissenschaftlichen Erkenntnis (z.B. Vernichtungswaffe) mit dem Werkzeug eines Hammers sollte uns allen die Notwendigkeit verdeutlichen, die Verantwortung für eigene Handlungen zu reflektieren. Die Ausführungen des Autors erinnern an die in Deutschland großes Aufsehen erregende Strafsache Irmgard F. Sie war zwischen Juni 1943 und April 1945 als Schreibkraft in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig beschäftigt. Zu Beginn dieser Tätigkeit war sie erst 18 Jahre alt. Der deutsche Bundesgerichtshof hat unlängst das erstinstanzliche Urteil gegen die inzwischen 99-Jährige bestätigt, das sie wegen Beihilfe zum Massenmord in 10.505 Fällen verurteilt hatte (auf Jugendstrafe mit Bewährung). Durch ihre Sekretariatsarbeit habe die damals noch junge Frau den Verantwortlichen des Konzentrationslagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet. Auch unterstützende Tätigkeiten können rechtlich als Beihilfe zum Mord angesehen werden. Dieses Beispiel macht deutlich, dass auch indirekte oder untergeordnete Handlungen schwerwiegende Folgen haben können und dass jeder Einzelne für seinen Beitrag zu einem größeren Ganzen verantwortlich ist. Wissenschaftler*innen bilden hierbei keine Ausnahme. Nicht nur der leitende Wissenschaftler, auch der Hilfslaborant trägt zum Ergebnis eines wissenschaftlichen Projekts bei und sollte daher aufgrund eigener Verantwortung für die Gesellschaft über ein wissenschaftliches Vorhaben reflektieren.

Die hermeneutische Methode

Ein eigenes Kapitel widmet der Autor der hermeneutischen Methode, die in den Sozial-, Literatur- und Rechtswissenschaften praktiziert wird. Sie ist die älteste Wissenschaftsmethode, die der Autor in seinem Werk behandelt. Bei der hermeneutischen Methode spielt das Vorverständnis eine zentrale Rolle: Es muss mit Fakten und den Vorverständnissen anderer Interpreten in Einklang stehen. Wenn die Vorverständnisse zu unterschiedlich sind, können "emotionsgeladene Weltsichten" entstehen, die sich nicht mehr durch bloße Begriffserklärungen bewältigen lassen – im schlimmsten Fall sogar zu Streit und Krieg führen. Im positiven Fall kann sich das Vorverständnis durch neues Verständnis zu einem veränderten Vorverständnis wandeln.

Balzer liefert damit Humanist*innen ein wissenschaftlich fundiertes Argument für ihre Forderung, dass Religionskritik und Ethik gleichzeitig mit dem Beginn des Religionsunterrichts angeboten werden müssen. Denn wie Balzer in Bezug auf die literarische Hermeneutik betont: "Auch hier kann eine Antithese, jedenfalls wissenschaftlich gesehen, zu fruchtbaren Diskussionen führen." Ein solcher Dialog zwischen Glauben und Kritik ist nicht nur wünschenswert, sondern auch für eine umfassende Bildung unerlässlich.

Das Lehrbuch "Theorien und Methoden der Wissenschaft" enthält keine religionskritischen Aspekte und bietet stattdessen eine herausfordernde, wissenschaftliche Auseinandersetzung. Anhand eines Beispieltextes zur Problematik der hermeneutischen Methode soll verdeutlicht werden, was Leser*innen an wissenschaftlichem Lesegenuss erwartet, aber auch, welche Anforderungen der Autor an die Verständnisfähigkeit seines Publikums hat: 

"Im Prinzip können These und Antithese in disjunktem Vokabular formuliert sein, besonders in Fällen, wo sich beide Sichtweisen in 'inkommensurabler' Weise gegenüberstehen. Normalerweise wird es aber doch gewisse, minimale Gemeinsamkeiten geben, etwa bei einzelnen Fakten, die von beiden Parteien gleichermaßen wahrgenommen und anerkannt werden. Bei völlig disjunktem Vokabular wäre ja aus rein logischen Gründen auch kein Widerspruch möglich. Wir können die Überlappung bei den Fakten aber nicht allgemein fordern, weil sie in Fällen, wo die These und Antithese nur aus jeweils einem Atomsatz bestehen, nicht vorliegt."

Ungeachtet seines Untertitels "Eine Einführung" ist dieses anspruchsvolle Werk keine Lektüre für Laien oder Einsteiger. Es wendet sich an Forscher, Lehrende und Studierende aller Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit Grundlagenfragen und methodischen Problemen auseinandersetzen. Die dichte Sprache und die komplexen Beschreibungen erfordern vom Leser Konzentration und ein hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit. Das Buch ist auch sehr gut für Menschen geeignet, die Freude an Logikbeispielen haben. Hingegen werden Leser*innen, die in der Interpretation von Formeln, Funktionen, Diagrammen oder Skizzen ungeübt sind, vermutlich keine rechte Freude an dem Buch entwickeln. Für das fortgeschrittene Zielpublikum: 100-prozentige Kaufempfehlung. Für Einsteiger: Empfehlenswert als Nachschlagewerk, aber nicht zur Erstlektüre geeignet.

Wolfgang Balzer, "Theorien und Methoden der Wissenschaft – Eine Einführung", 2024, dritte aktualisierte Auflage, Verlag Karl Alber (ein Verlag der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG), 297 Seiten, Paperback (ISBN 978-3-495-99396-5) und E-Book (ISBN 978-3-495-99397-2) beide 24,90 Euro.

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