Eine Dokumentation als Sammelband

Debatten über Verfassungspatriotismus

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Vor 45 Jahren prägte Dolf Sternberger den Terminus "Verfassungspatriotismus". Über dessen Bedeutung sollte in Krisenzeiten für den demokratischen Verfassungsstaat mehr reflektiert werden. Anlass und Inhalte dazu liefert ein neuer Sammelband "Verfassungspatriotismus. Konzept, Kritik, künftige Relevanz".

Das Grundgesetz trat am 23. Mai 1949 in Kraft, die 75-Jahr-Feier erfolgte entsprechend am 23. Mai 2024. Dieser formale Anlass motivierte die Herausgabe eines Sammelbandes, welcher der Debatte um die Konzeption eines Verfassungspatriotismus gewidmet ist. Auch dabei war ein 23. Mai wichtig, denn an diesem Tag wurde er 1979 geprägt. Dolf Sternberger, einer der Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft, entwickelte diesen Terminus. Für eine daran ausgerichtete traditionelle Bürgertugend plädierte er anlässlich des damaligen 30. Jahrestages des Grundgesetzes. Einige Jahre später, genau 1986, griff der Philosoph Jürgen Habermas das angesprochene Konzept erneut auf und gab ihm eine eigene Prägung, hier dann bezogen auf eine erwartete postnationale Ära in einer westorientierten Bundesrepublik Deutschland. Bei all dem handelt es sich nicht nur um ideen- und realhistorisch interessante Entwicklungen, geht es doch auch und gerade in der Gegenwart um eine identitätsstiftende Orientierung in einem demokratisch-rechtstaatlichen Sinne in einer immer komplexer werdenden Welt.

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Steffen Augsberg, Professor für öffentliches Recht in Gießen, gab dazu den erwähnten Sammelband "Verfassungspatriotismus. Konzept, Kritik, künftige Relevanz" heraus. Ihm hat er auch eine ausführlichere Einleitung vorangestellt, worin viele formale und inhaltliche Aspekte angesprochen werden. Eigentlich handelt es sich aber mehr um eine Dokumentation, denn gesammelt sind grundlegende ältere Texte. Dazu gehören auch zwei Beiträge jeweils von Jürgen Habermas wie von Dolf Sternberger. Bei deren heutiger Lektüre fällt übrigens auf, wie diffus die beiden "Klassiker" hier blieben. Einer der folgenden Autoren, Peter Molt, bemerkte zu Sternberger durchaus treffend: "Seine Konzeption und Einsichten wurden assoziativ und interpretierend entwickelt … Manche Ausführungen wirken auch eher als nachgeschobene Begründungen und sind nicht durch ein eingehendes Studium der Quellen belegt." Insofern dürften eher die späteren Erörterungen von Habermas und Sternberger und weniger deren eigene Texte inhaltlich und konzeptionell interessant sein.

Anschließend finden sich derartige Analysen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und auch gelegentlichen Wiederholungen. Dazu zählen etwa Beiträge wie von Dieter Grimm, langjährig am Bundesverfassungsgericht als Richter tätig, zum "Verfassungspatriotismus nach der Wiedervereinigung". Es gibt aber auch Abhandlungen detailliert zu Sternbergers Verständnis, etwa von der Politikwissenschaftlerin Rebekka Fleiner, die drei Dimensionen des Sternbergerschen Verfassungspatriotismus unterscheidet. Dabei verweist sie differenziert auf eine agitive, emotive und kognitive Dimension und macht dabei die dazu jeweils passenden Ebenen und Inhalte deutlich. So wird das jeweils Gemeinte klarer als bei dem genannten "Klassiker" selbst. Indessen zeigt sich bei den Betrachtungen und Erörterungen auch, dass man nicht bei Habermas und Sternberger stehen bleiben sollte. Denn bedeutsam ist hier auch die innovative Erörterung in einem grundsätzlichen Sinne, aber eben auch bezogen auf die in der Gegenwart bestehenden Probleme.

Dazu liefern dann aber die folgenden Beiträge jeweils Inhalte und damit Stoff. So fragt etwa der Jurist Otto Depenheuer, ob eine Integration durch Verfassung möglich ist, sie also ein Identitätskonzept als Verfassungspatriotismus beinhalten kann. Der Politikwissenschaftler Volker Kronenberg erinnert demgegenüber daran, dass der Begriff auch im Kontext des "Historikerstreits" der 1980er Jahre gesehen werden müsse. Und aus ideengeschichtlicher Blickrichtung fragt Daniel Schulz für den Verfassungspatriotismus nach seiner Zukunft. Aber auch hier handelt es sich schon wieder um ältere Beiträge. Gern hätte man noch Deutungen vor dem Hintergrund aktueller politischer Umbrüche gelesen. Und dann verwundert ein wenig das Fehlen einer Kritik an der seinerzeitigen Kritik, wo etwa mit angeblicher "Blutarmut" als Stichwort gegen den Verfassungspatriotismus agiert wurde. Warum nicht auch der Grundgesetztext, der auf Freiheit und Recht verweist, nicht auch Ergriffenheit und Leidenschaft vermitteln kann, erschließt sich gerade nicht notwendigerweise.

Steffen Augsberg (Hrsg.), Verfassungspatriotismus. Konzept, Kritik, künftige Relevanz, Hamburg 2024, Europäische Verlagsanstalt, 284 Seiten, 24 Euro

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