Sonderheft zu John Stuart Mill

Aufklärung und Kritik 1/2023 erschienen

Das aktuelle Heft von Aufklärung und Kritik (A&K), der umfangreichen Vierteljahreszeitschrift der Gesellschaft für Kritische Philosophie Nürnberg (GKP), ist erschienen. Die Redaktion hat dem hpd wieder das Vorwort zur Verfügung gestellt.

John Stuart Mill (1806-1873) gehört im englischsprachigen Raum zu den maßgebenden und einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, dessen Bedeutung dort weit höher eingeschätzt wird als die von Zeitgenossen wie Marx oder Nietzsche. Friedrich August Hayek, einer der Granden des modernen Liberalismus, bezeichnet ihn zu Recht als "eine der wirklich großen Figuren seines Zeitalters." In der deutschsprachigen Philosophie dagegen wird ihm der Status eines Klassikers hartnäckig verweigert. Liegt es daran, dass Mill sich außerhalb der akademischen Welt bewegte und vor allem als philosophischer Publizist wirkte? Oder fehlt ihm die in der deutschen Philosophie so beliebte metaphysische Weihe, mit der sich Formen obskurantistischen Tiefsinns immer wieder zu schmücken pflegen?

Mill jedenfalls ist ein durch und durch nüchterner, analytischer und problemorientierter Philosoph, der nicht durch Rhetorik, sondern durch die Klarheit und Überzeugungskraft seiner Argumente besticht. Seine Bedeutung in systematischer Hinsicht kann gar nicht überschätzt werden. In jedem seiner Hauptwerke hat er sich als Vordenker und Impulsgeber für jene Positionen erwiesen, die das Denken der westlichen Philosophie im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ganz wesentlich mitbestimmt haben. In den Schriften Über die Freiheit und Betrachtungen über die Repräsentativregierung skizziert Mill die Grundlagen einer liberalen und pluralistischen Demokratie, die dem Individuum Freiräume zur Selbstentfaltung bietet. Was Mill demokratietheoretisch vertritt, deckt sich in vielen Punkten mit dem, was Popper Jahrzehnte später als "offene Gesellschaft" bezeichnete. In seinen Prinzipien der politischen Ökonomie legt er den Versuch vor, Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden und ergänzt seinen Liberalismus mit sozialstaatlichen Elementen. In Utilitarismus stellt er die bis heute einflussreiche Nützlichkeitsethik auf eine neue Grundlage, und in seinem System der Logik diskutiert er genau jene Fragen der Erkenntnisbegründung, die für den modernen Empirismus wegweisend wurden. Mill wurde so nicht nur zum Vater des modernen Liberalismus und einer erneuerten teleologischen Ethik, sondern auch zu einem wichtigen Stichwortgeber einer wissenschaftsorientierten Philosophie der Moderne.

Während Mill mit seinen Werken zur Ökonomie und zur Logik Bestsellerstatus erlangte, wurde er mit seinem konsequenten Eintreten für Frauenrechte und für die Gleichberechtigung der Geschlechter zu einer höchst kontroversen Figur. In der aus dem Nachlass veröffentlichten Schrift Die Unterwerfung der Frauen steht er in der Tradition radikal englischer Aufklärer wie William Godwin (1756-1836) und Mary Wollstonecraft (1759-1797), aber auch von Frühsozialisten wie Charles Fourier (1772-1837). Er wurde zu einem der ersten wirklich "feministischen" Denker der Philosophiegeschichte. Dabei hatte die Zusammenarbeit mit seiner Partnerin und späteren Frau Harriet Taylor Mill einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Herausbildung seiner philosophischen Positionen. Inzwischen wird immer deutlicher, dass Harriet Taylor Mill auch an der Entstehung und Abfassung anderer Schriften Mills – wie z.B. der Freiheitsschrift – maßgeblich mitgewirkt hat. Wir haben es mit einem Autorentandem zu tun, das im konservativen viktorianischen Zeitalter jedoch nur unter der Marke "John Stuart Mill" an die Öffentlichkeit trat. Mill hat den großen Einfluss, den Harriet Taylor Mill auf ihn ausgeübt hat, in seinen Schriften selbst immer wieder zur Sprache gebracht.

Deshalb ist es nicht mehr als konsequent, wenn Harriet Taylor Mill neben Mill zum Gegenstand dieses Schwerpunktheftes wird und nicht nur als Mitdenkerin und Mitautorin, sondern auch als eigenständige Philosophin gewürdigt wird. Sie war es, die Mills Position in Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der freiheitlichen Lebensform und der Frauenemanzipation entscheidend bestimmte – und die, wie ihre eigenen Texte zeigen, in vielen Punkten über Mill hinausging. Wer sich mit Mill beschäftigt, kommt um eine Beschäftigung mit Harriet Taylor Mill nicht herum.

Beide waren Aufklärer im klassischen Sinne: Sie glaubten an den Fortschritt, an die Erziehungs- und Bildungsfähigkeit des Menschen und setzten der metaphysischen Spekulation die Kraft wissenschaftlicher Erkenntnisse entgegen. Das von beiden geschaffene Werk ist das philosophisch wichtigste Bindeglied zwischen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der wissenschaftsorientierten Philosophie des 20. Jahrhunderts. Dies stärker auch im deutschsprachigen Raum ins Bewusstsein zu rücken, ist das Anliegen des vorliegenden Schwerpunktheftes, das im 150. Todesjahr John Stuart Mills erscheint.Im ersten, vom Herausgeber verfassten Beitrag dieses Bandes wird versucht, entlang der von Mill verfassten Autobiographie die Physiognomie des Denkers und der Person Mills zu skizzieren. Als Produkt einer von seinem Vater James Mill betriebenen exzentrischen, auf die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten konzentrierten Erziehung, die den jungen Mill in schwere Krisen trieb, erscheint Mills Persönlichkeitsentwicklung als eine Befreiung und Öffnung im Sinne einer éducation sentimentale und einer philosophischen Selbstfindung. Am Beispiel seines eigenen Lebens wird deutlich, wie stark der Bildungsgedanke im Zentrum des Millschen Denkens steht.

Wie Mill als Person in der unmittelbaren, konkreten Begegnung gewirkt hat, erfährt man in dem von Helmut Walther für die Publikation bearbeiteten Essay von Georg Brandes (1842-1927). Brandes, Kosmopolit und wohl der bedeutendste Literatur- und Philosophievermittler Dänemarks im 19. Jahrhundert, begegnete Mill 1870 in Paris und entwirft uns das Bild eines freundlichen, völlig unprätentiösen Denkers, aber doch auch das eines "eigensinnigen" "Mannes aus einem Guss", den eine unbestechliche Wahrheitsliebe auszeichnet. Brandes‘ Porträt erlaubt uns einen sonst kaum zugänglichen Einblick in Mills Gedankenwelt und in sein Verhältnis zur kontinentalen europäischen Kultur.

Gerda Rosenberger wiederum zeichnet ein engagiertes Porträt von Harriet Taylor Mill, einer brillanten und unkonventionellen Intellektuellen, deren Leben von "einem immensen Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Freiheit" bestimmt war, die aber im Zeitalter des Viktorianismus aufgrund ihres Geschlechts daran gehindert wurde, als Philosophin in der Öffentlichkeit Anerkennung zu finden. Rosenberger kann dabei auch überzeugend nachweisen, wie groß der Einfluss Harriets auf Mill war und wie viele der von Mill vorgetragenen Argumente sich bereits in den Texten finden, die man Harriet Taylor Mill zuordnen kann. Der Beitrag plädiert deshalb auch nachdrücklich dafür, Harriet Taylor Mills entscheidende Rolle bei der Publikation und der Bewertung der Millschen Schiften zu würdigen.

Ein Plädoyer für die philosophische Würdigung Harriet Taylor Mills und ihre Aufnahme in den Kanon liberaler Klassiker legt auch Ringo Narewski in seinem Beitrag vor, der sich ganz den von Harriet Taylor alleine verfassten Schriften widmet und deren Eigenständigkeit herausarbeitet, auch wenn, wie er selbst darlegt, die Quellenlage "aufgrund des fragmentarischen Charakters des überlieferten Werks" sich als komplex erweist. Narewski betont, dass Taylor Mills Auffassungen sich schon vor ihrer Begegnung mit Mill herausgebildet haben und sie eine gegenüber Mill durchaus eigenständige und durchgängig radikalere Position bezieht. Dabei weist er zu Recht daraufhin, dass ihr Beitrag nicht auf eine Kritik der Geschlechterverhältnisse reduziert werden darf, sondern Teil einer umfassenden, aufklärerischen Gesellschaftskonzeption ist, die von Prinzipienbewusstsein, Toleranz, Wahrheit und Gerechtigkeit ("gerechter Gleichheit") bestimmt ist, und dem Individuum die größtmöglichen Entfaltungsspielräume bietet. Es gehe hier nicht nur um Frauenrechte, sondern um Menschenrechte.

Um ein besonders auffälliges Bespiel der Zusammenarbeit zwischen Mill und Taylor Mill geht es in dem Beitrag Dieter Birnbachers, der jüngst eine neue Übersetzung der im Nachlass erschienenen Schrift Die Unterwerfung der Frauen besorgt und herausgegeben hat. Birnbacher sieht berechtigterweise beide als Autoren der Schrift an und plädiert dafür, die in ihr vertretenen Thesen aus der Perspektive mehrerer Kontexte zu lesen: dem Kontext einer utilitaristischen Grundposition, dem Kontext der publizistischen und politischen Tätigkeit Mills, und nicht zuletzt dem Kontext der "Gesprächsgemeinschaft" zwischen Mill und Harriet Taylor Mill.

Für Mill und Taylor Mill, so Birnbacher, war die geforderte Gleichberechtigung der Geschlechter mehr als ein Rechtsakt: Sie war der Hebel zu einer umfassenden Humanisierung der Gesellschaft. Doch Mill war kein reiner Theoretiker. Eine der wichtigsten Thesen des Beitrags ist, dass „Mills Schriften in einem engen Zusammenhang mit seinen Aktivitäten als Kommunikator und Politiker“ stehen und dass von daher verständlich wird, dass der Text der Unterwerfung, im Gegensatz zu der von Harriet Taylor verfassten Schrift Enfranchisement of Women (Über Frauenemazipation), die ihr offensichtlich als Vorlage diente, einige deutlich konservativere Akzente setzt. Grund dafür sind wohl, so die Vermutung Birnbachers, pragmatische Überlegungen Mills, der als Publizist und Politiker immer im Auge hatte, wie viel er seinem Publikum zumuten konnte und wie viel nicht. Mill kann zwar durchaus als Feminist avant la lettre gelten, doch hat er im Gegensatz zu Taylor Mill seine Position in Rücksicht auf die Leserschaft immer wieder abgemildert.

Ein weiteres, offensichtliches Beispiel für die philosophische Symbiose zwischen Mill und Taylor ist die Freiheitsschrift ("On Liberty"), die bis heute populärste Schrift Mills. Der darin explizierte Freiheitsbegriff und das darin enthaltene Plädoyer für individuelle Selbstbestimmung haben jedoch nicht nur politische und moralische Implikationen, wie Robert Zimmer in seinem zweiten Beitrag zeigt. Sie betreffen ganz wesentlich auch die individuelle Lebensgestaltung und gehören von daher in den Bereich, den wir heute als "Philosophie der Lebenskunst" bezeichnen. Es geht nicht nur um Freiheit im Sinne gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten, sondern auch um das Thema des gelungenen Lebens. Mill und Taylor Mill sind nach Zimmer unter den Ersten, die die Eigenständigkeit dieses Bereichs thematisiert haben. Dabei plädieren beide für eine Lebensführung, die in ihrer experimentellen und unkonventionellen Ausrichtung Züge eines Falsifikationismus avant la lettre aufweist: Ein gelungenes Leben wird als offener Prozess der Selbstbildung und ständigen Selbstkorrektur verstanden. Mills Bedeutung für eine Philosophie der Lebenskunst sei aber bisher weitgehend unbeachtet geblieben und erst zu entdecken.

Nicht nur in seiner Partnerschaft mit Harriet Taylor Mill, auch in seiner distanzierten Haltung zur Religion nahm Mill in der viktorianischen Gesellschaft eine Außenseiterstellung ein. Mill wurde von seinem Vater atheistisch erzogen und hat auch in seinen Schriften religionskritische Positionen bezogen. Sie sind der Gegenstand im ersten Beitrag Martin Morgensterns, der sich mit den posthum erschienenen drei Essays "Natur", "Die Nützlichkeit der Religion" und "Theismus" auseinandersetzt, in denen sowohl der Wahrheitsanspruch als auch die praktische Funktion der Religion zum Thema werden. Für Morgenstern sind dabei Mills Anknüpfungen an den Skeptizismus Humes besonders deutlich, sowohl was seine Kritik der Gottesbeweise als auch seine Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem angeht. Im Unterschied zu Hume habe Mill aber vor allem im Theismus-Essay eine moderat positive Haltung zur Religion entwickelt, die sich dem Theismus annähert und auch die positive Funktion der Religion als "motivierende Kraft" anerkennt. Mills "pragmatische Rechtfertigung des Glaubens" lässt aber, so Morgenstern, viele kritische Fragen offen und gerät in den Verdacht, Wünschbarkeit und Rücksichtnahme auf Trostbedürftigkeit mit begründeten "metaphysischen Optionen" zu verwechseln.

Mill war ein Schüler Jeremy Benthams (1748-1832), des Begründers des Utilitarismus, doch hat er dessen quantitativen Utilitarismus zu einem qualitativen Utilitarismus verändert. Benthams Ziel des "größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl" versieht Mill mit der Einschränkung, dass nicht die Menge, sondern die Art des Glücks entscheidend ist und dass es besser ist, ein "unzufriedener Mensch" zu sein als ein "zufriedenes Schwein". Rudolf Lüthe verfolgt in seinem Beitrag sehr sorgfältig die Argumentations- und Bruchlinien dieses "qualitativen" Utilitarismus. Denn Mill kommt nach Lüthe nicht um einen, außerhalb des Glücks liegenden Wertmaßstab herum, der es erlaubt, die höhere oder niedrigere Qualität von Glück zu bemessen. Hier greift Mill, so Lüthe, auf das Gefühl der Würde zurück, was ihn in eine überraschende Nähe zu Kant bringt. Doch damit sind die Grundlagen des qualitativen Utilitarismus bei Mill noch nicht freigelegt, denn individuelles Glücksempfinden muss noch mit dem für den Utilitarismus zentralen Ziel des gesellschaftlichen Nutzens in Einklang gebracht werden. Hier kommt, so Lüthe, der Begriff des Gewissens als eine kultivierte Neigung zur Mitmenschlichkeit und damit auch die Gerechtigkeit als "utilitaristische Zentraltugend" ins Spiel. Mit dem Versuch, Gerechtigkeit und Nützlichkeit im konkreten Handeln zu koordinieren, ergeben sich nach Lüthe aber neue Entscheidungsprobleme, die letztlich in die individuelle Verantwortung des Einzelnen fallen.

Die Implikationen und Probleme des von Mill utilitaristisch begründeten Freiheitsbegriffs für die Gestaltung unserer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Ordnung stehen im Mittelpunkt der folgenden vier Beiträge.

Mills Betrachtungen über die Repräsentativregierung einschließlich der darin enthaltenen Ausführungen zur Kolonialherrschaft sind das Thema im Beitrag Wulf Kellerwessels. Das utilitaristische Ziel des Gemeinwohls, so Kellerwessel, führe Mill zur Unterstützung einer sich auf das Prinzip der Volkssouveränität stützenden repräsentativen Verfassung, jedoch mit der für ihn charakteristischen Einschränkung, dass nur diejenigen repräsentiert werden sollten, die dafür qualifiziert sind, worunter er eine zivilisatorisch fortgeschrittene Bildungsschicht versteht. Dies prägt auch seinen Blick auf die Kolonialherrschaft, die ihm dann gerechtfertigt erscheint, wenn damit eine Anhebung der Zivilisationsstufe verbunden ist. Kellerwessel macht dabei deutlich, dass eine rein utilitaristische Perspektive erhebliche Probleme mit sich bringt. So verweist er auf den Konflikt zwischen utilitaristischer "Gesamtnutzenmaximierung" und Egalitarimus in einem Repräsentativsystem ebenso wie auf jene moralischen Probleme, die sich durch einen rein utilitaristischen Blick auf die Kolonialherrschaft ergeben – so wenn der gesellschaftlich Gesamtnutzen gleichzeitig eine massive Schädigung der kolonisierten Bevölkerung mit sich bringt. Mills Theorie ist, so Kellerwessel, mit einer an "Rechten orientierten Gerechtigkeitstheorie" keineswegs immer vereinbar. Überhaupt sei zu fragen, ob eine solche, an Grundrechten orientierte Theorie, die den Schutz von Menschen- und Verfassungsrechten als Ziel einer Repräsentativregierung formuliert, der Förderung eines "zivilisatorischen Projekts" letztlich nicht dienlicher sei.

Armin Pfahl-Traughber untersucht, in welcher Weise Mill und Alexis de Tocqueville ihren Freiheitsbegriff gegen die Tendenzen einer in der modernen Demokratie sichtbaren "Tyrannei der Mehrheit" (in der Formulierung Tocquevilles) zu immunisieren versuchten. Nach Pfahl-Traughber ist in unserem modernen Demokratieverständnis von einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zwischen Mehrheitsprinzip und individueller Freiheit auszugehen, das sich sowohl in der Gefahr einer Diktatur mit Massencharakter als auch in einer Verabsolutierung individuelle Freiheit äußern und dessen institutionelle Austarierung äußerst komplex sein kann. Mill habe eine Einschränkung individueller Freiheit in Form des "Schädigungsprinzips" auch akzeptiert: Ihre Grenzen liegen für ihn dort, wo ich dem anderen Schaden zufüge. Aber die eigentlichen Gefahren liegen für ihn wie für Tocqueville in einer durch Meinungsdiktatur herbeigeführten Nivellierung. Doch gelingt es ihm nach Pfahl-Traughber ebenso wenig wie Tocqueville, das genannte Spannungsverhältnis letztlich zu überwinden, handelt es sich doch, so Pfahl-Traughber, um ein "Dilemma ohne Lösungspotential": Denn Mills Vorschlag, in einem Repräsentativsystem die gebildeten Eliten zu privilegieren, um freiheitsfeindliche Entscheidungen auszuschließen, könne als endgültige Lösung kaum akzeptiert werden. Zugutehalten müsse aber beiden Denkern, dass sie die inhärenten Risiken thematisiert hätten, die mit dem Mehrheitsprinzip für eine freiheitliche Demokratie verbunden sind.

Die demokratietheoretischen Überlegungen Tocquevilles und Mills werden auch in Gerhard Engels Beitrag, "Freiheit als Recht auf Konkurrenz" thematisiert. Ausgangspunkt ist das Recht des Individuums, "in fremde Konkurrenzmärkte" einzutreten. Engel diskutiert, wie aus dem Blickwinkel des Konkurrenzmodells – als soziale, ökonomische, aber auch politische, im Meinungsstreit ausgefochtene Konkurrenz – Freiheit als Motor der Modernisierung verstanden werden kann, aber auch welche Hindernisse ihr durch die Tendenzen zur Monopolisierung entgegenstehen, Dabei stehen zwei, auch von Mill besonders berücksichtigte Bereiche, im Mittelpunkt: die Ausgestaltung demokratischer Institutionen und der Prozess des Meinungsstreits in einer "meinungsoffenen Gesellschaft". In seiner Demokratietheorie erweise sich Mill dabei als vorsichtiger Reformer, der unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Stabilität ein "peacemeal social engineering" avant la lettre vertritt. Im Bereich der Meinungsfreiheit betone Mill den Nutzen, den die Gesamtgesellschaft aus den kritischen Einwänden Einzelner ziehen könne, auch wenn es sich um prima facie absurde oder unverständliche Äußerungen handeln sollte. Niemand könne den Wahrheitsgehalt solcher Äußerungen vollständig bemessen. "Mills liberale Verteidigung der Meinungsfreiheit", so Engel, "ist also gewissermaßen ein Akt geistigen Umweltschutzes." Mit Blick auf aktuelle Diskussionen wie dem Problem des Klimawandels und globaler Migrationsbewegungen weist Engel auf die Aktualität der Millschen Überlegungen hin und zieht ein kritisches Fazit ihrer Anwendung.

Mills Gerechtigkeitsbegriff, der sich dem utilitaristischen Ziel des Gemeinwohls unterordnet, ist das zentrale Thema im Beitrag von Ingo Pies – "Soziale Gerechtigkeit bei John Stuart Mill. Eine ordonomische Rekonstruktion" –, diesmal aber mit dem Blick auf die Wirtschafts- und Sozialordnung. Pies beurteilt Mills Gerechtigkeitskonzeption positiv: Er sieht Mill als einen der großen Reformer der ökonomischen Theorie in der Tradition von Smith und Ricardo, andererseits aber auch als public intellectual, der seine ökonomischen Einsichten dazu benutzt, praktikable gesellschaftspolitische Veränderungen zu fordern, die auf konkreten Problemanalysen beruhen. Dabei geht es vornehmlich um die Legitimation privaten Eigentums. In diesem Sinne diskutiere Mill kommunistische und sozialistische Eigentumsvorstellungen. Mill erweise sich dabei als ein "auf Innovationsmöglichkeiten bedachter Prozeduralist", der anstelle einer der Egalität der Vermögensverhältnisse einen "prozeduralen Egalitarismus" vertritt, der Gleichbehandlung für diejenigen fordert, die sich in gleicher Weise verdient gemacht haben. Aber auch unter utilitaristischen Vorzeichen bleibt nach Pies die Gerechtigkeitssemantik für Mill wichtig, da nur sie geeignet ist, unser moralisches Handeln zu motivieren.

Es ist etwas in Vergessenheit geraten, dass Mills 1.200 Seiten umfassende System der Logik zu seinen Lebzeiten eines seiner erfolgreichsten Werke war. Bekanntermaßen ging es hier nicht nur um logische Fragen im engeren Sinne. Die in dem Werk entfalteten wissenschaftstheoretischen Überlegungen werden in Martin Morgensterns zweitem Beitrag thematisiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle des Kausalprinzips und die Gültigkeit der induktiven Methode. Für Morgenstern gehört Mill zu den radikalen Vertretern des Empirismus und Positivismus, der jeden Apriorismus ablehnt. Dabei kritisiert Morgenstern Mills zu enge Anbindung der wissenschaftlichen Theoriebildung an die Erfahrung, da Erfahrung nie den ganzen Inhalt einer Theorie ausmachen könne. Gleichwohl sieht er in Mills Methode, die auch eine Kontrolle von Beobachtungssätzen impliziert, "ein frühes induktivistisches Pendant zu Poppers hypothetisch-deduktiver Methodologie" und würdigt Mills Ausführungen als einen "Meilenstein in der Vorgeschichte der Wissenschaftstheorie". Gleichzeitig beklagt er, dass der Zugang zu Mills Wissenschaftstheorie durch das Fehlens eines "scharfen logisch-semantischen Instrumentariums" erschwert werde.

Angefügt werden noch Rezensionen dreier von Dieter Birnbacher in jüngster Zeit neu übersetzter und herausgegebener Schriften Mills. Sie sollen eine weitere Anregung sein, sich mit dem Werk des in Deutschland bisher nur unzureichend gewürdigten Klassikers zu beschäftigen.

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