Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) Niedersachsen hat in einem Offenen Brief an die Fraktionen der SPD, der CDU sowie von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag Niedersachsen zu der am 27. März beschlossenen Resolution zum Evangelischen Kirchentag 2025 und zur besonderen Bedeutung der Kirchen und des interreligiösen Dialoges in Niedersachsen Stellung genommen.
Der Brief des Präsidenten des HVD Niedersachsen Guido Wiesner im Wortlaut:
Stellungnahme zum Beschluss des Entschließungsantrags 19/6821 durch den Niedersächsischen Landtag sowie zur Rolle der Kirchen in Niedersachsen
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großer Irritation nehmen wir die kurzfristig vorgelegte und bereits am Tag der ersten Lesung beschlossene Resolution zur Kenntnis, in der der Evangelische Kirchentag 2025 nicht nur politisch und finanziell unterstützt, sondern den christlichen Kirchen in Niedersachsen auch eine herausragende Rolle für Demokratie, sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Orientierung zugesprochen wird. Wir bedauern sehr, dass wir im Vorfeld keine Möglichkeit hatten, unsere Position für eine gleichberechtigte, weltanschaulich neutrale Gestaltung der politischen Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement darzustellen, was wir hiermit nachholen.
Aus unserer Sicht ist diese Entschließung aus mehreren grundlegenden und verfassungsrechtlich relevanten Gründen inakzeptabel.
1. Die Kirchen repräsentieren nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung
Laut Statistik gehört bundesweit weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer der beiden großen christlichen Kirchen an (siehe fowid 2023) – mit weiter sinkender Tendenz. Damit ist festzuhalten: Die Kirchen vertreten nicht mehr die gesellschaftliche Mehrheit. Eine politische und finanzielle Bevorzugung kirchlicher Akteure widerspricht daher dem Grundsatz demokratischer Repräsentation.
2. Verstoß gegen die weltanschauliche Neutralität des Staates
Nach Artikel 3 Absatz 3 der Niedersächsischen Verfassung darf niemand wegen seines Glaubens oder seiner Weltanschauung bevorzugt oder benachteiligt werden. Die Resolution widerspricht diesem Prinzip, indem sie die Kirchen – und nur diese – als zentrale zivilgesellschaftliche und moralische Instanz erhebt, während andere weltanschauliche Gemeinschaften, religiöse Minderheiten und humanistische Organisationen nicht einmal erwähnt werden.
3. Klientelpolitik zugunsten der Kirchen
Die Resolution ist ein deutliches Beispiel für einseitige Klientelpolitik. Sie erhebt die Kirchen zu "unverzichtbaren Pfeilern der Demokratie" – eine Formulierung, die nicht nur historisch fragwürdig, sondern angesichts der vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen jenseits religiöser Institutionen auch demokratiepolitisch gefährlich ist. Eine moderne Demokratie sollte sich nicht an institutionalisierte Religionen binden, sondern an die pluralistische Gesellschaft, die sie abbilden will. Wir erinnern daran, dass es die Freidenker und freireligiösen Menschen des 19. Jahrhunderts waren, die maßgeblich die demokratische Entwicklung in Deutschland mit befördert haben. Diese Strömungen legten den Grundstein für den heutigen Humanistischen Verband Deutschlands (HVD).
4. Kirchliches Arbeitsrecht ist nicht mit demokratischen Grundprinzipien vereinbar
Das Sonderarbeitsrecht der Kirchen entzieht sich wesentlichen Arbeitnehmerrechten, etwa beim Streikrecht, der Mitbestimmung oder beim Schutz vor Diskriminierung. Eine Institution, die ihren eigenen Beschäftigten grundlegende Rechte vorenthält, kann schwerlich als vorbildlicher Träger demokratischer Werte gelten, wie auch der Europäische Gerichtshof urteilte (2018).
5. Vertrauensverlust durch Missbrauchsskandale
Beide großen Kirchen in Deutschland – und damit auch in Niedersachsen – haben in den letzten Jahrzehnten durch weitreichende Missbrauchsskandale und deren unzureichende Aufarbeitung massives Vertrauen in der Öffentlichkeit verloren. Die moralische Integrität, die ihnen in der Resolution zugeschrieben wird, steht faktisch infrage. Eine staatliche Hervorhebung dieser Institutionen verkennt die tiefen gesellschaftlichen Wunden, die diese Skandale hinterlassen haben.
6. Der Evangelische Kirchentag ist eine interne Veranstaltung – keine zivilgesellschaftliche Plattform
Der Kirchentag ist eine Veranstaltung, die sich in erster Linie an Kirchenmitglieder richtet. Es handelt sich nicht um ein inklusives Forum für die gesamte Zivilgesellschaft, sondern um eine Großveranstaltung einer bestimmten religiösen Gemeinschaft. Es ist daher nicht gerechtfertigt, diese Veranstaltung mit Steuergeldern aller Bürgerinnen und Bürger – also auch der Konfessionsfreien, der Andersgläubigen und der kirchenkritischen Menschen – mitzufinanzieren.
7. Säkularität und demokratischer Pluralismus fordern Zurückhaltung staatlicher Institutionen
Demokratische Pluralität bedeutet, dass Weltanschauung und Religion Privatsache sind – und bleiben. Der Staat hat die Aufgabe, Räume für Dialog und Vielfalt zu schaffen – aber nicht, einzelne religiöse Institutionen zu bevorzugten Partnern oder gar zum moralischen Rückgrat der Gesellschaft zu erklären. Vielmehr sollte er neutral zwischen weltanschaulichen Gruppen vermitteln und allen zivilgesellschaftlichen Initiativen gleichermaßen Wertschätzung und Unterstützung zukommen lassen.
Unser Fazit
Die überraschend kurzfristig beschlossene Resolution ist ein Rückfall in überkommene Staatskirchlichkeit. Sie missachtet die weltanschauliche Vielfalt der Gesellschaft, bevorzugt einseitig religiöse Institutionen und widerspricht zentralen demokratischen Prinzipien.
Wir fordern Sie daher auf
- die privilegierte Rolle der Kirchen im politischen Raum zu überdenken,
- den Artikel 3 Absatz 3 der niedersächsischen Verfassung ernst zu nehmen
- sowie die weltanschauliche Neutralität des Staates konsequent zu wahren.
Mit freundlichen Grüßen
Guido Wiesner