Reform durch „Social Engineering“?

(hpd) Der Historiker Thomas Etzemüller legt sein Buch zum Wirken der beiden Myrdals, als Anhänger einer Gesellschaftsplanung auf Basis von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen zwischen 1930 und 1980 vor. Die direkt aus den Quellen gearbeitete und überaus informative Arbeit problematisiert dabei anhand von konkreten Beispielen das Einhergehen von abgehobenen Steuerungsauffassungen und selbstgefälliger Wissenschaftlichkeit.

 

Der Begriff „Social Engineering“ steht allgemein für Auffassungen, die mit Programmen auf sozialwissenschaftlicher Basis eine Reform der Gesellschaft vorantreiben wollen. Im Unterschied zu sozialistischen Modellen geht dieses Verständnis nicht von einer Doktrin, sondern von der Empirie aus. Darüber hinaus ist eine evolutionäre und keine revolutionäre Veränderung beabsichtigt. Mit einer rationalen Gesellschaftsplanung will man damit das größtmögliche Glück für alle Bürger ermöglichen und die negativen Folgen der Moderne mit ihren Umbrüchen auffangen. Zwei bedeutende Protagonisten einer derartigen „sozialen Ingenieurskunst“ waren Alva (1902-1986) und Gunnar Myrdal (1898-1987), die beide unabhängig voneinander mit dem Nobelpreis für Frieden (1974) und Wirtschaft (1982) ausgezeichnet wurden. Ihr Engagement für eine Steuerung der Gesellschaft will der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller in seinem Buch „Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal. Social Engineering in Schweden” untersuchen.

Dabei handelt es sich nicht nur um eine Biographie der beiden „Gesellschaftsplaner“, stehen doch auch immer wieder ideen- und realgeschichtliche Aspekte allgemeiner Art im inhaltlichen Kontext mit der Lebensbeschreibung. So sieht der Autor in seiner Studie in dem „Social Engineering“ der Myrdals „einen höchst zwiespältigen Versuch ... mit der Ambivalenz der Moderne zurechtzukommen, indem der Weg zwischen Pluralismus und Totalitarismus hindurch führen sollte“ (S. 14). Nach allgemeinen Ausführungen zur Auffassung von „Gesellschaftsplanung“ geht es zunächst um den persönlichen und wissenschaftlichen Lebensweg von Alva und Gunnar Myrdal, wobei auf ihre starke intellektuelle Orientierung an den USA verwiesen wird. Danach konzentriert sich Etzemüller auf die Entwicklung ihrer Reform- und Steuerungsauffassungen, die sich auf die verschiedensten Felder von der Bevölkerungspolitik und Ernährung über das Eheverständnis und die Kindererziehung bis zu Ökonomie und Wohnungspolitik bezogen.

Zur Einschätzung des Programms der Myrdals heißt es dann: „... typisch ist der Werterelativismus, der keinerlei Sinn für metaphysische oder naturrechtliche Vorstellungen zeigt, sondern dogmatisch allein die empirische Erfahrung zum Maßstab aller Entscheidungen erhebt – und soziale Eingriffe nur an ihrer technischen Funktionalität misst“ (S. 128f.). Besonders bedenklich artikulierte sich dies bei der Neigung zu eugenischen Auffassungen, die seinerzeit aber auch zum gesellschaftlichen mainstream zahlreicher Demokratien gehörten. Immer wieder problematisiert Etzemüller die antiindividualistischen und antipluralistischen Dimensionen, die mit einer solchen Auffassung von einem steuerbaren Sozial- und Wohlfahrtsstaat einhergingen. Gleichwohl sei das social engineering ein „Versuch, Rahmenbedingungen so zu strukturieren, dass sich Menschen freiwillig ein bestimmtes Verhalten aneigneten. Sozialingenieure taten das nicht aus Gründen der Selbstermächtigung, sondern weil sie eine fundamentale Krise wahrnahmen, die sie selbst betraf“ (S. 426).

Beispielbild
Th.Etzemüller/(c) Uni-Oldenburg
Gleichwohl problematisiert der Autor in seiner Darstellung, die allein schon durch ihren hohen Informationsgehalt und die intensive Quellenauswertung beeindruckt, die mitunter selbstgerechte Intellektualität und unrealistischen Steuerungsvorstellungen der Myrdals. In einem ausführlichen Bildteil findet sich etwa ein Foto, das die Messung von Atemluft beim häuslichen Spülen zeigt, sollten damit doch Erkenntnisse zur Rationalisierung der Hausarbeit gewonnen werden (vgl. S. 419). Trotz mancher Gemeinsamkeiten mit autoritären oder totalitären Ordnungsmodellen betont der Autor bezüglich der Myrdalschen Auffassungen den Unterschied in der Absicht: So sollte sportliche Betätigung junge Männer im Nationalsozialismus für den Krieg stählen und in Schweden für die Moderne ertüchtigen (vgl. S. 388). Gleichwohl ist die Frontstellung gegen individuelle Freiheit eine latente Gefahr jeglicher Form von Gesellschaftsplanung, auch wenn - wie in diesem Fall - Alva Myrdal (vgl. S. 150f.) deren Wertschätzung immer wieder deutlich gemacht hat.

Armin Pfahl-Traughber

 

Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal. Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010 (transcript-Verlag), 499 S., 35,80 €