(hpd) Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün, die sich als „eine westliche Muslimin“ versteht, formuliert in ihrem Buch kritische Positionen zu den aktuellen Debatten um Islam und Muslime und legt die Grundzüge eines modernen Islam-Verständnisses dar. Es handelt sich um eine beachtenswerte Darstellung, die auf Basis eines säkularen Staatsverständnisses für einen reduzierten Bedeutungsanspruch der Religionen zugunsten einer allseitigen Toleranz plädiert.
Seit einigen Jahren wird über das Thema „Islam“ und „Muslime“ meist mehr emotionalisiert und politisiert denn differenziert und sachlich gestritten: Harsche Islamkritiker und polemische Islamverteidiger werfen sich dabei in Feuilletons und Talkshows gegenseitig Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz, Kritikimmunität und Naivität vor. An abgewogenen und nüchternen Betrachtungen mangelt es, drohen sie doch zwischen den genannten Polen zerrieben zu werden. Um so erfreulicher sind solche Stimmen, wie sie etwa in einem Buch von Lale Akgün zum Ausdruck kommen. Die in Istanbul geborene frühere SPD-Bundestagsabgeordnete will darin die „Grundzüge des modernen Islam“ (S. 11) präsentieren. Dazu geht Akgün auf die verschiedensten Fragen und Probleme zum Themenkomplex „Islam und Muslime in der westlichen Welt“ ein. Um so unverständlicher ist daher aber der Buchtitel „Aufstand der Kopftuchmädchen. Deutsche Musliminnen wehren sich gegen den Islamismus“, der einen ganz anderen Inhalt erwarten lässt.
Zwar geht die Autorin auch kurz auf damit verbundene Inhalte ein, ihr Anliegen ist aber viel breiter gefasst. Dabei geht es um die Einwanderung von Muslimen und die Rolle der Islamverbände, um die Inhalte der Islamkritik und die Überholtheit der Minarette, um das Verhältnis von Religion/Staat und die fünf Säulen des Islam, um das Frauenbild von Muslimen und Geschäfte mit „islamischen“ Waren. Bei all dem gelingt es Akgün, zu komplexen Problemen gut begründete und inhaltlich zugespitzte Auffassungen zu formulieren. So benennt sie etwa die Problematik der Einwanderungspolitik in zwei Sätzen: „Erst kam die Einwanderung. Jahrzehnte später hat man begonnen, über sie nachzudenken“ (S. 28). Bei der Integrationsdebatte“, so formuliert Akgün, erfolge die Wahrnehmung von Personen und Problemen über religiöse Kategorien: „Die religiöse Zuschreibung erdrückt im öffentlichen Diskurs jede andere Teilidentität“ (S. 31), wodurch sich auch die deutsche Politik zum „nützlichen Idiot ... der islamischen Funktionäre“ (S. 32) mache.
Überhaupt kritisiert sie immer wieder die fatale Wirkung einer Art staatlichen Anerkennung der konservativen Islamverbände als angebliche Stimme der Muslime, entstehe hier doch ein schiefes Bild vom Denken und Leben der Anhänger des Islam in Deutschland. Der Islam ist aus Sicht von Akgün sehr wohl „vereinbar mit Demokratie und Rechtsstaat, wenn er mit Vernunft ausgelegt wird“ (S. 66). Und dazu werden auch Anregungen formuliert, wie etwa die Forderungen nach einer Abkehr von der Annahme einer Wortwörtlichkeit des Koran und seiner Interpretation für die moderne Zeit. Um in einer multireligiösen Gesellschaft eine allseitige und gleichrangige Anerkennung der Religionen zu bewirken, bedürfe es der konsequenteren Umsetzung einer Trennung von Religion und Staat. „Wir müssen uns entscheiden: Entweder alle Religionsgemeinschaften bekommen die gleichen Rechte, oder Deutschland muss laizistisch werden und den Religionsgemeinschaften insgesamt weniger Rechte geben“ (S. 135).
Ganz in diesem Sinne deutet Akgün auch die fünf Säulen des Islam in einem modernen Sinne um: So reiche ein zweimaliges Gebet am Tag, sofern es eine Zwiesprache mit Gott und nicht nur eine äußerliche Demonstration sei. Man müsse auch nicht Fasten, handele es sich hier doch auch um eine Chance auf innere Zwiesprache mit Gott und nicht um eine äußerliche Pflichterfüllung. Akgün argumentiert demnach aus der Perspektive einer „westlichen Muslimin“, die für einen modernen Islam plädiert. Für Deutschland sieht sie aber die Gefahr, dass die damit verbundene Tendenz durch die Dominanz der konservativen Kräfte erdrückt werde. Das Potential der „modernen Muslime“ mache um die 15 Prozent der hier lebenden Muslime aus. Ob diese Einschätzung zutrifft, kann man schlecht sagen. Jedenfalls artikuliert sich dieses Spektrum bislang noch nicht in organisierter Form. Akgün hat in ihrem Buch für die „modernen Muslime“ programmatische Positionen formuliert, welche ihnen eine Leitlinie sein könnten. Nicht nur von daher handelt es sich um ein beachtenswertes Buch.
Armin Pfahl-Traughber
P.S. Die HPD-Leserschaft dürfte sich auch für Einschätzungen der modernen Muslima wie die folgenden Zitate interessieren: „Toleranz gegenüber Religion ist hierzulande eine beliebte Forderung, den Gefühlen von Atheisten wird hingegen wesentlich seltener Achtung entgegengebracht. Bei uns hat es sich eingebürgert, dass man den Religiösen immerzu Respekt zeigen sollte – und auch gläubige Muslime sind unglaublich schnell beleidigt. Atheisten wollen jedoch nicht immerzu mit Religion belästigt werden, auch sie haben in unserer Gesellschaft ein Anrecht auf Religionsfreiheit im Sinne von ‚frei von Religion’“ (S. 54). Oder: „Aber der Rechtsstaat baut eben nicht mehr auf Religion auf – und die Säkularität des Staates ist eine Erfolgsgeschichte. Weder Europa noch Deutschland sind heute im Kern christlich. Viel näher liegen die Werte von Toleranz, Pluralismus, Humanismus und Demokratie“ (S. 115). Oder: „Der deutsche Verfassungsstaat mit seinem Ja zur Religion wird nur glaubhaft bleiben, wenn er sich in gleicher Distanz zu allen Religionen aufstellt“ (S. 137).
Lale Akgün, Aufstand der Kopftuchmädchen. Deutsche Musliminnen wehren sich gegen den Islamismus, München 2011 (S. Piper-Verlag), 281 S., 16,95 €