Als gehöre eins zum anderen

BERLIN. (hpd) Missbrauch verjährt. Das gilt für die Täter. Für die Opfer gilt das nicht. Die Taten begleiten sie lebenslänglich. Es gibt etwa eine Dreiviertelmillion von ihnen. Von den Opfern. Jonathan Overfeld ist einer davon. Er brach das Schweigen. Eine Rezension zum Buch und Notizen eines Gesprächs darüber.

Eines Abends saß ich vor dem Fernseher. In der Sendung „Kulturzeit“ bei 3sat wurde ein Buch vorgestellt. Es war Kuno Kruses „Der Mann, der sein Gedächtnis verlor“. Auch der Mann, über den Kruse schreibt, Jonathan Overfeld, wurde interviewt. Ich saß vor dem Fernseher und war zugleich betroffen und wütend. Das Buch bestellte ich noch in der gleichen Nacht.

Dann lag es vor mir. Ich begann darin zu lesen. Und fand anfänglich den sehr auf Abstand bedachten Stil, diese kurzatmigen Sätze eher befremdlich. Mir fehlte die Nähe zur Person. Ich meinte, dass ich kaum in der Lage wäre, nachzuvollziehen, welche psychischen Abgründe die Hauptperson erlebt. Diese Distanz zu den Geschehnissen war mir fremd. Später wies mich eine psychologisch Wissendere darauf hin, dass dies die männliche Art wäre, mit tiefem Schmerz umzugehen. Und inzwischen bin ich mir auch sicher, dass ich mehr Nähe nicht ertragen hätte. Ich habe so schon hart zu kämpfen mit diesem Buch.

Es ist schonungslos. Es nimmt kein Blatt vor dem Mund. Es ist die Biographie eines Menschen, den man zu brechen versuchte. Und der es trotzdem schaffte, zu überleben. Es befragt den Menschen Jonathan Overfeld und berichtet über die helfenden Psychologen. Das Buch lässt den Leser an den Stellen, an denen die Psychologen und der Autor selbst zu Wort kommen, Luft schöpfen. Allein nur zu lesen und dabei zu sein, welch unglaublichen Qualen Overfeld ausgesetzt war... es hätte mich noch mehr Kraft gekostet, das Buch zu lesen.
Ich bin ein schneller Leser. Für dieses Buch habe ich mehr als vier Wochen benötigt. Ich habe es immer wieder weggelegt, weil es kaum zu ertragen war.

„Warum sitzt er plötzlich nachts auf diesem dreckigen Sandhaufen unter dieser taubenverschissenen Brücke? Er sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach eins. Dabei kann er sich doch genau erinnern, dass er gerade erst die Wohnungstür verschlossen hat.“ (Seite 35) Jonathan Overfeld „war sich selbst entfallen wie anderen eine PIN oder der Name eines Schauspielers.“ (Seite 15) – er leidet unter einer Amnesie. Er weiß nicht mehr, wer seine Freunde sind. Wo er lebt. Wer er ist.

Das Buch begleitet Jonathan Overfeld bei seinen Versuchen, wieder in sein Leben zu kommen. Es zurück zu erobern. Schnell wird klar, dass dieser Gedächtnisverlust mit seiner Kindheit zu tun haben muss. Dass es da etwas gibt, das die Psyche so unerträglich findet, das so tief verdrängt ist, dass sie das Gedächtnis „abschaltete“. Der Leser begleitet Jonathan bei seiner Reise in die Vergangenheit. Das jedoch ist ein wahrer Horrortrip. Es ist sowohl Jonathan Overfeld zu danken, dass er sein Schicksal für viele sprechen lässt, als auch dem Autoren Kuno Kruse, der es vermag, die Geschichte so zu berichten, dass sie nahe geht ohne zu entmutigen. Meine Hochachtung vor beiden.

Die Einzelheiten des Buches will ich an dieser Stelle nicht berichten. Das kann nur ein Abklatsch sein dessen, was Kruse und Overfeld mit dem Buch gelingt. Lesern des hpd sind einige der kaum erträglichen Berichte von Heimkindern bekannt. Anderes wird in den kommenden Wochen hier berichtet werden (müssen). Denn bei aller Härte, beim allem Schmerz: Es muss klargestellt werden, dass es neben den Schicksalen der Opfer auch die Verantwortung der Täter gibt. Noch immer gibt: „Missbrauch verjährt. Das gilt für die Täter. Für die Opfer gilt das nicht. Die Taten begleiten sie lebenslänglich.“ (Seite 197)

 

[video: http://www.youtube.com/watch?v=F-8UXF6mSpI]

 

F.N.

Als gehöre eins zum anderen

Jonathan Overfeld, warum ist ihm geschehen, was in diesem Buch steht?

Nach der Amnesie 2005 waren ihm seine Lebensjahre vom 5. bis zum 22. Lebensjahr präsent als wäre es gestern gewesen. Er begann, die Erinnerungen selbst aufzuschreiben.

1951 in Bochum geboren, war er bis zum 7. Lebensjahr in Kinderheimen, am 13. Geburtstag noch bei Pflegeeltern, mit 19 Jahren ist er aus dem Salvator-Kolleg Klausheider, Hövelhof wie er sagt „abgehauen“. Dort war Jonathan Overfeld Fürsorgezögling. Danach wurde nach ihm gefahndet.

In diese Jahre 1964 bis 1968 gehen der Grund des Geschehenen und seine Folgen zurück und lassen sich für einen Nicht-Betroffenen schnell aufschreiben. Z.B. zu dem Stichwort "Gesundheitsstörungen durch Gewalttat" erlitten in dem Fragebogen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales und dann steht auf dem Papier:

"Körperlich: rechtes Auge erblindet, ständige Kopfschmerzen, Migräne durch Schläge auf den Kopf und weil der Erzieher Vincens meinen Kopf immer an die Wände gestoßen hat.
Psychisch: Traumatisiert, unfähig zu einem Sexualleben, Amnesie am 12.4.2005.
40 Jahre meines Lebens sind weg, alles was ich darüber weiß wurde recherchiert, Bindungsängste, Panikattaken bei räumlicher Enge."

Die Taten an sich zeigte Overfeld 1968 beim Jugendamt an.

In der neuen Welt ohne Fürsorgeerzieher hat er unablässig gearbeitet um zu verdrängen, mal für Geld, mal ohne und wenn er nicht gearbeitet hat, dann sei er der Pausenclown gewesen. Immer als Kämpfer, immer habe er das getan was er wollte auch wenn er die Konsequenz kannte und die unangenehm war, so sagt er und erklärt, wie er die Kraft schöpfe zu sprechen, sich zu öffnen und jedermann das Schreckensgespenst Heimerziehung wissen zu lassen.

Overfeld fordert auf, über das Leben und die Auswirkungen nach der Heimzeit also das hier und heute klar zu sprechen, dabei dem Sexualleben das Tabu zu nehmen und das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. „Sowie sich eine emotionale Beziehung aufbaut bin ich blockiert. Dann sind diese Fratzen wieder vor mir, ich sehe die schwarzen Gewänder, dann geht es wieder los."

Spiegel sind wichtig geworden. „Sie öffnen einen kleinen Raum, geben Weite und ich komme aus der Erinnerung der Besinnungsräume, der Zelle von Klausheider heraus“.

Jonathan Overfeld antwortet schnell und unbefangen, so als wolle er keine Zeit verlieren und das ihm Wichtige sagen.

„Ich liebe Musik, Klavierspielen, Konzerte geben, Musik schreiben wollte ich schon als Kind, das wurde im Kolleg gefördert. Diese Leidenschaft ist immer bei mir geblieben und das war und ist mein Weg auch nach der Amnesie. Ich setze mich ans Klavier, versuche zu meditieren und manchmal kommen ganz schwach Erinnerungen von Orten, Personen, Geschehen. Oder anders. Ich sitze am Klavier, spiele, spiele, spiele mir wird heiß, ich fühle mich wohl und habe keinen Einfluss, ich komme ins Nirgendwo, gehe auf Null. Deshalb spiele ich nach der Amnesie unter Kontrolle und verlasse mich auf meine beiden lackierten Fingernägel - wenn ich die sehe, weiß ich, das bin ich, das langt schon."

Auch das Lesen seines Buches ist ihm leichter geworden und eher so als würde es ihn nicht mehr tangieren. So ist der Anschein. Zu Hause, so sagt Overfeld, würde er das Buch nicht in die Hand nehmen. Allein damit gelassen fühlte er sich sofort unter Zwang und Druck und drehe das Buch mit dem Titel nach unten: „Das war ich 2005 und das bin ich heute. Ich muss das trennen.“

Haß und Wut, Agressionen waren nach der Amnesie Antrieb, den ehemaligen Erzieher zu finden. Es fand ein Gespräch statt, Tonaufzeichnung untersagt: „Wir hatten den Auftrag, euch zu guten Christen zu erziehen“, so erklärt der Pater die erzieherischen Handlungen. „Ihr ward Bastarde, keine Menschen“. Drogen, Medikamente, na ja, das gab der Salvatorianer zu. Ein Nein zu den sexuellen Vergewaltigungen, das seien andere gewesen. Er nicht. Einer der Erzieher erhielt das Bundesverdienstkreuz allerdings bevor die Heimerziehung der frühen Bundesrepublik ins Gespräch kam. Das Salvator Kolleg Klaus Heider wurde geschlossen, anderen Orts sind salvatorianische Evangelisierung und Mission, Kirche und Kolleg eine erfolgreichen Verbindung:

"Auf jede Weise und mit allen Mitteln.
Um unserem Auftrag als Salvatorianer gerecht zu werden, hat uns Pater Jordan gedrängt, bereit zu sein, auf jede Weise und mit allen Mitteln zu arbeiten, die uns durch die Zeichen der Zeit geschenkt werden." (Quelle)

Mit Jonathan Overfeld sprachen Frank Navssi und Evelin Frerk