Essay

Kunst in Krisenzeiten

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Symbolbild
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Die ständige Flut negativer und destruktiver Informationen macht uns zu schaffen. Unterschiedliche Berichterstattungen wirken auf uns ein. Zusätzlich verlangen unzählige Social-Media-Beiträge nach unserer Aufmerksamkeit. Nach und nach verlieren wir die Orientierung. Es bleiben Gefühle von Furcht, Wut, Weltschmerz und Ohnmacht. Genau in solchen Momenten kann Kunst aber einen wertvollen Beitrag dazu leisten, dass wir unser Leben wieder mehr vernunftbetont und ausgeglichener in die Hand nehmen. Kunst verschafft uns einerseits Ruhe, anderseits eine Grundlage zu einer sachorientierten und differenzierten Auseinandersetzung mit Themen und Problemstellungen.

Was unter dem Begriff "Kunst" zu verstehen ist, unterliegt einer fortschreitenden und nie abgeschlossen Diskussion. Der Begriff sollte zumindest nicht nur der bildenden Kunst vorbehalten sein. Auch die Musik, das Theater, die Literatur, Perfomances und selbst KI-generierte Werke seien im Folgenden miteinbezogen. Eine zu enge Kunstauffassung verbietet sich, da das künstlerische Schaffen des Menschen nicht nur aus Gemälden oder Skulpturen besteht. Zudem vollziehen sich kreative Prozesse auch jenseits der bildenden Kunst. Man könnte den Kunstbegriff sogar viel weiter ausdehnen. Beispielsweise könnte er auf das Kochen übertragen werden oder auf das Leben eines Menschen im Gesamten. Wir alle wären dann, wie es einst Joseph Beuys meinte, Künstlerinnen und Künstler. Die Erweiterung des Kunstbegriffes hat seine Berechtigung: Auch jenseits des kreativen Schaffens von typischen visuellen oder auditiven Kunstwerken geht der Mensch täglich verschiedenen Tätigkeiten nach, die eine Verbindung zu klassischen Kunstauffassungen aufweisen. Zum Wohle der nachfolgenden Überlegungen sei der Kunstbegriff weder bloß auf die bildende Kunst reduziert noch auf das menschliche Leben ausgeweitet.

Ein bisschen Schopenhauer gefällig?

Es gibt zahlreiche Philosophen und Philosophieschulen, die sich über Kunst Gedanken machten. Zu nennen sind beispielsweise Platon, Kant, Hegel, Nietzsche oder Adorno. Eine bis heute für viele Künstlerinnen und Künstler sehr anziehende Betrachtung der Kunst entwickelte Arthur Schopenhauer. Grundlegend ging er davon aus, dass alles, was besteht, von einem Willen durchzogen wird. Diesen Willen können wir als eine planlos, völlig irrational wirkende Kraft verstehen. Sie lässt alles entstehen und vergehen. Den meisten Menschen ist es nicht möglich, Kenntnisse über den Willen zu erlangen. Allerdings sind Künstlerinnen und Künstler je nach Veranlagung in unterschiedlichem Maße in der Lage, den Willen verstehen zu lernen. Ihre gewonnenen Kenntnisse präsentieren sie dann in ihren Kunstwerken.

Die Betrachterinnen und Betrachter haben wiederum je nach Veranlagung die Chance, auf Grundlage der Kunstwerke Kenntnisse über den Willen und damit über die Welt zu erlangen. Schopenhauer unterscheidet dabei noch wie folgt: Die bildenden und die dichterischen Künste, etwa die Malereien oder Romane, können nur Ideen zeigen. Ideen versteht Schopenhauer als maximal objektive Abbilder des Willens, die selbst aber noch nicht der Wille sind. Die Ideen geben bereits einen sehr guten Einblick in die Beschaffenheit der Welt. Aber ein volles Weltverständnis ermöglichen sie noch nicht. Die Musik wiederum ist als einzige Kunst fähig, den Willen und sein Wirken aufzuzeigen und damit greifbar zu machen. Mit ihr gelingt es, die Welt und alle ihre Abläufe verstehen zu lernen. Kunst ist jedoch nicht nur ein Erkenntnisinstrument. Sie bietet zudem die Chance, Ruhe zu finden. Aus Schopenhauers Sicht ist darunter zu verstehen, dass wir bei der Schaffung und Betrachtung eines Kunstwerks unsere Subjektivität vergessen. Das heißt, wir beachten all unsere Ängste, Sorgen oder Hoffnungen nicht mehr. Wir gehen ganz in der Schaffung oder Betrachtung des Kunstwerkes auf und kommen somit zur Ruhe.

Man muss Schopenhauers Annahmen über einen irrationalen Willen nicht teilen, selbst wenn man beim Anblick täglicher lokaler und globaler Ereignisse dazu geneigt sein könnte. Aber auch für die heutige Zeit kann Kunst in Anlehnung an Schopenhauers Philosophie viel leisten, um sich in einer wirren Weltlage wieder besser orientieren und positionieren zu können.

Das Kunstwerk als besonderes Medium

Ein Kunstwerk ist ein Medium. Dahingehend unterscheidet es sich nicht von anderen Medien, seien es inhaltlose Medienhäuserartikel mit reißerischen Überschriften oder ein beliebiges Ausflugsfoto auf Instagram. Das Kunstwerk kann dementsprechend – gleichermaßen wie alle anderen Medien – unreflektiert konsumiert werden. Es ist dann bloß ein Teil der täglichen Informationsflut. Der Unterschied zu anderen Medien besteht jedoch darin, dass Kunst weit mehr als nur eine Oberfläche präsentiert. Sie zeigt mehrschichtige und komplexe Inhalte. Diese müssen wiederum zuvor entschlüsselt und interpretiert werden. Die Zeichen und Symbole, die die Kunst nutzt, sind zu lernen und zu verstehen. Das heißt, sobald wir beginnen, einem Kunstwerk angemessene Zeit zum Betrachten und Verstehenlernen zu widmen, erweist es sich als Medium, das viel mehr zu sagen hat, als das bei anderen Medien der Fall ist. Um die Fülle an Informationen gänzlich zu erfassen, ist neben Zeit vor allem ein vernünftiger Umgang mit dem Kunstwerk nötig: Es ist nicht nur auf sich wirken zu lassen, sondern als Betrachterinnen und Betrachter haben wir uns aktiv mit ihm auseinanderzusetzen. Wir müssen es betrachten, analysieren, gegebenenfalls mit anderen Werken vergleichen, interpretieren und in Beziehung zu unseren eigenen Erfahrungen und Kenntnissen setzen.

Einfach einmal abschalten?

Die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk kann zu unterschiedlichen Resultaten führen. Eines davon kann ein Verlieren im Kunstwerk sein. Das kann etwa genau dann eintreten, wenn wir uns in einer Szene, die in einem Gemälde dargestellt wird, wiederfinden und alles um uns herum vergessen. Dazu laden oftmals die Werke romantischer Maler ein. Man denke dabei beispielsweise an Casper David Friedrichs Gemälde "Der Wanderer über dem Nebelmeer" und "Der Mönch am Meer" oder an Joseph Mallord William Turners Arbeiten mit den Titeln "Fishermen at Sea" oder "Venice from the Porch of Madonna della Salute". Gleichermaßen wird vielen das Verlieren in einem Musikstück oder in einem Roman geläufig sein. Ähnlich wie es Schopenhauer beschreibt, schaffen wir einen Augenblick, in dem wir das Alltägliche vergessen. Wir sind auf eine Sache fokussiert. Es stellen sich gewissermaßen Ruhe und Orientierung ein. Einzig das Kunstwerk ist für uns der relevante Bezugspunkt.

Die tägliche Flut von Informationen und Reizen spielt keine Rolle mehr. Wir erleben so etwas wie Entspannung. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Kunstwerk tatsächlich Ruhe ausstrahlt oder Emotionen in uns hervorruft, die uns für gewöhnlich eher aufreiben. Aufgrund der Konzentration auf ein Objekt, das heißt auf das Kunstwerk, und des Ausschlusses anderer Informationen kann es bereits gelingen, einen Moment physisch und auch psychisch wieder durchatmen zu können. So dürfte es kein reiner Zufall gewesen sein, dass viele Leserinnen und Leser in Zeiten der Covid-19-Pandemie zum Roman "Die Pest" von Albert Camus griffen. Obgleich im Roman eine mit der Pandemie vergleichbare Situation dargestellt wird, zeigt er die Perspektiven des Philosophen und Schriftstellers Camus. Es finden keine leeren Debatten und keine digitalen Ablenkungen darin statt. Der Fokus liegt ganz auf der Darstellung verschiedener Charaktere und ihrem Umgang mit der Pest.

Wieder mit Dialogen beginnen

Die Beschäftigung mit einem Kunstwerk kann auch dazu führen, dass man mit sich, mit Künstlerinnen und Künstlern oder mit der gesamten Welt in einen Dialog tritt. Prominente Beispiele, die zu einer dialogischen Auseinandersetzung einladen, sind die Werke von Banksy. Während Nachrichtensender, Parteien sowie digitale Foren und Plattformen sich in Kriegsrhetoriken überbieten, zeigt der Künstler, worauf es vielmehr ankommt: Frieden, Gerechtigkeit und Liebe. Seine Werke, etwa "Balloon Girl" oder "Love is the Answer", bieten ein Gegengewicht zu Positionen in Debatten, die jenseits aller Vernunft und Menschlichkeit angesiedelt sind. Hier haben wir als Betrachterinnen und Betrachter die Chance, neue Perspektiven zu aktuellen Ereignissen oder zeitlosen Diskursen einzunehmen. Wir können mit dem Künstler durch seine Werke in einen Austausch mit ihm treten, uns selbst hinterfragen und unsere Erkenntnisse auf das Weltgeschehen im Großen und Kleinen anwenden. In diesem Sinne kann uns Kunst helfen, uns unserer Engstirnigkeit zu entledigen.

Dinge (neu) betrachten

Die vielfältigen Informationen, die ein Kunstwerk bieten kann, bergen auch das Potenzial für neue Erkenntnisse. Künstlerinnen und Künstler zeigen bestimmte Perspektiven auf Ereignisse und Sachverhalte. Sie geben ihr (vorläufiges) Wissen über ihre Werke an uns Betrachterinnen und Betrachter weiter. So können wir beispielsweise mit Themen in Berührung kommen, über die wir zuvor noch gar nicht nachgedacht haben. Das ist etwa dann der Fall, wenn wir internationale Arbeiten betrachten und erkennen, dass in anderen Staaten entweder ähnliche oder verschiedenartige soziale Problem vorliegen. So befasst sich aktuell die japanische Künstlerin Keiko Yamagiwa mit den Herausforderungen der sozialen Unterdrückung in Japan, die darin besteht, angepasst sein zu müssen.

Ebenso kann die Beschäftigung mit alten Historienmalereien unseren Blick dafür schärfen, dass als modern aufgefasste Herausforderungen scheinbar zeitlose und allzu menschliche sind. In jeder Epoche der Menschheitsgeschichte bedürfen sie einer Auseinandersetzung. "Les Romains de la Décadence" von Thomas Courtur befasst sich beispielsweise mit dem Niedergang der späten römischen Gesellschaft anhand einer dargestellten Orgie, die an den Kräften aller Beteiligten zehrt. Die implizit aufgezeigte Ressourcenverschwendung der ignoranten und verantwortungslosen Feierlaune einer Herrscherelite kann dabei in gewissem Sinne auf die heutige Zeit übertragen werden. Ein Beispiel aus der Dichtkunst bilden die Sonette von Andreas Gryphius. Sie widmen sich den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges. Parallelen zu den heutigen Kriegen sind den Versen leicht zu entnehmen.

Selbst schöpferisch tätig werden

Nicht nur als Betrachterinnen und Betrachter sind Kunstwerke für uns bedeutend. Auch als aktive Schöpferinnen und Schöpfer von Kunst können wir uns wieder kritisch mit Positionen und Verläufen befassen. Die positiven Wirkungen von künstlerischen Auseinandersetzungen auf unser Wohlbefinden sind längst bekannt und etwa in Formen der Kunsttherapie eingegangen. Jenseits des Therapeutischen birgt die selbstständige Kreation von Kunst uns die Möglichkeit, uns intensiver und fokussierter mit Sachverhalten und Ereignissen auseinanderzusetzen. Wir können im kreativen Prozess Meinungen und Ansichten abwägen, uns auf die Suche nach unserem eigenen Standpunkt machen, Fragen stellen, vielleicht sogar Antworten geben und in jedem Fall aber unserer Stimme wieder Geltung verschaffen. In diesem Prozess können wir lernen, uns als vernünftiges und kreatives Wesen wahrzunehmen, das sich nicht auf oberflächliche Reiz-Reaktions-Ketten reduzieren lässt. Wir können dabei erkennen, dass wir mehr sind als uns die Werbeindustrie oder teilweise sogar die Politik glauben machen möchte. Der Mensch ist komplexer, hat verschiedene Ansichten, kommt immer wieder zu neuen Erkenntnissen und befindet sich ständig in einem Prozess des Wissens- und Erkenntnisgewinns. All dessen können wir uns gewahr werden, wenn wir selbst künstlerisch tätig werden.

Kunst ist mehr als systemrelevant

Kunst ist ein Ausdruck des schöpferischen, kreativen Potenzials des Menschen. Sie lädt dazu ein, sich mit Themen und Ansichten auseinanderzusetzen. Sie fordert zum Dialog auf. Ferner kann sie der Ausgangspunkt für ein kritisches Hinterfragen von vorherrschenden Meinungen sein. Aber Kunst kann auch einfach eine Oase der Ruhe für uns sein, um in einer Zeit voller Informationen zumindest temporär etwas Entspannung zu erhalten. Alles in allem ist Kunst weit mehr als etwas, das man in Ausstellungen sehen oder im Rahmen von Konzerten hören kann. Kunst ist ein bedeutender Bestandteil des menschlichen Wesens. Es wäre daher nicht genug, sie bloß im besten Falle als systemrelevant anzusehen. Vielmehr ist sie lebensrelevant. Nietzsche meinte einst, dass das Leben ohne Musik sinnlos sei. Wir können den Gedanken noch ausweiten und sagen: Ohne Kunst wäre das Leben sinnlos.

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