BAD ZWISCHENAHN. (hpd) Auf der diesjährigen Frühjahrstagung des Regionalverbandes Weser-Ems des HVD Niedersachsen hatten sich knapp 30 Mitglieder und Gäste am Wochenende vom 9. auf den 10. April in der Bildungsstätte am Bad Zwischenahner Meer eingefunden, um von Dr. Rainer Rosenzweig zu lernen, „wie die Welt in den Kopf kommt“ und an den eigenen Sinnen zu prüfen, ob „was wir wahrnehmen, wirklich immer wahr ist.“
Es war die 94. Arbeitstagung des HVD Weser-Ems und mit diesem Thema knüpfte der Mitbegründer des Erlebnismuseums „turmdersinne“ des HVD Nürnberg an das Thema der Frühjahrstagung von 2010 in Tossens an: „Warum wir nicht so selbstbestimmt handeln, wie wir meinen“ und ergänzte es um die sinnliche Komponente.
Wie die Welt in den Kopf kommt
Der Samstagmorgen begann für die Teilnehmer mit einem Kaffee und einem theoretischen Vortragsteil, in dem der Referent die physikalischen und physiologischen Bedingungen der Wahrnehmung am Beispiel des Sehens erläuterte.
So wird einerseits eine Unmenge an Information von unseren Sinnen aufgenommen – allein in jedem Auge von 100 Millionen Nervenzellen. Die Komplexität der Daten wird dann nach bestimmten Mustern reduziert, zum ersten Mal bereits im Auge selbst.
Andererseits sind unsere Sinne trotz dieser Datenflut prinzipiell nicht in der Lage, die Wirklichkeit so genau und eindeutig abzubilden, wie wir sie erfahren. Das gilt für die Räumlichkeit, Farben, Bewegung etc. Hinzukommt, dass unsere Sinnesorgane nach Maßstäben der Ingenieurskunst alles andere als perfekt sind. So muss das einfallende Licht im Auge z.B. erst Nervenbahnen und –enden passieren, bevor es bei den Rezeptoren ankommt.
Trotz ihrer Fülle reichen die Daten, die unserem Gehirn zur Wahrnehmung geliefert werden, grundsätzlich nicht zu einer eindeutigen Bestimmung der Welt um uns herum. Die Wahrnehmung ist also unterbestimmt und das, was unsere Augen „sehen“ ist tatsächlich immer mehrdeutig. Trotzdem erfahren wir die Welt scheinbar eindeutig und haben nur selten Momente, an denen diese Mehrdeutigkeit uns stutzig macht. Nicht so an diesem Wochenende.
Strategie des Wahrnehmungsapparats
Um mit der Mehrdeutigkeit der Sinnesdaten umzugehen, muss unser Wahrnehmungsapparat auf Annahmen zurückgreifen. Diese Hypothesen des Gehirns werden durch Erfahrung, Vorwissen, Kontext und Aufmerksamkeit bestimmt. Trifft eine dieser Hypothesen nicht zu, dann kommt es zu einer Wahrnehmungstäuschung. Durch die kontrollierte Herstellung solcher Täuschungen lassen sich die dahinter liegenden Verarbeitungsmechanismen erfahrbar machen.
So zauberte der Referent immer weitere, meist optische Beispiele hervor. Es ließ sich hervorragend nachvollziehen, ob die Täuschungen durch unpassende Annahmen aufgrund von Erfahrung (angeboren oder erlernt), Vorwissen (Erwartungen), Kontext (Gestalt und Konstanz) oder Aufmerksamkeit (Ausblendung alles vermeintlich Unwichtigen) zustande kommen. Diese „Täuschungserfahrungen“ waren zum Teil derart verblüffend, dass die Seminarteilnehmer mit Begeisterung den Rest des Sonnabends mit ihnen zugebracht haben, unterbrochen von Diskussionen, Pausen, Spaziergängen zum nahe gelegenen See und intensiven Gesprächen.
Einige der Täuschungseffekte lösten sich durch ihre Erklärung oder die Korrektur der Annahmen auf, viele waren jedoch gegenüber solcherlei Aufklärung robust. Letzteres war z.B. der Fall bei zwei Klötzen, die zusammen gehoben leichter zu sein schienen als der kleinere Klotz alleine.
Wahrnehmungstäuschungen als Triumph
Illusionen sind also keine Fehlleistungen, sondern ein Zeichen dafür, dass unser Wahrnehmungssystem die Welt um uns herum trotz Unterbestimmtheit erfahrbar macht. Es funktioniert weit besser als das naive Konzept es könnte, die Welt einfach nur so genau wie möglich über die Sinne abzubilden. Das Bild der Welt, welches unser Gehirn konstruiert, lässt uns hervorragend in unserem Alltagsleben zurechtfinden.
Andererseits mahnen die Täuschungserfahrungen zur Bescheidenheit. Auch wenn das Erlebte sich direkt als wahr anfühlt, so können wir doch nie sicher sein, dass es tatsächlich mit der Außenwelt in allen Punkten übereinstimmt. Um an verlässliche Erkenntnis zu gelangen, müssen geeignete Fragestellungen, Methoden und Werkzeuge entwickelt werden. Diese nennen sich Wissenschaft.