Demokratie im Zeitalter des Digitalmonopols

"Es geht um grundsätzliche Fragen von gesellschaftlicher Gestaltungsmacht"

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Ulrich Müller (Vorstand), Nelly Grotefendt (Aufsichtsrat), Tina Haupt (Aufsichtsrat) (v.l.n.r.)
Ulrich Müller (Vorstand), Nelly Grotefendt (Aufsichtsrat), Tina Haupt (Aufsichtsrat)

Mit dem Digital Markets Act (DMA) hat die Europäische Union 2022 ein eigenes Wettbewerbs- und Kartellrecht für die Digitalwirtschaft geschaffen. Ein Gespräch mit Ulrich Müller, Mitbegründer und Vorstand der NGO Rebalance_Now, über die Monopolmacht der Tech-Titanen, über freiere Märkte und über die Frage, ob Google zerschlagen werden muss.

hpd: Herr Müller, Sie haben vor eineinhalb Jahren die Organisation Rebalance_Now mitbegründet, die sich für eine fairere Wettbewerbspolitik einsetzt. Erzählen Sie uns ein wenig über die Beweggründe und über die Mittel, mit denen Rebalance_Now arbeitet.

Ulrich Müller: In Deutschland und Europa gibt es Regeln, die die Konzentration ökonomischer Macht und deren Missbrauch verhindern sollen, vor allem das Kartell- und Wettbewerbsrecht. Das wird uns aus unserer Sicht aber nicht strikt genug angewandt. Wir setzen uns auch dafür ein, dass zivilgesellschaftliche Stimmen in der Wettbewerbspolitik stärker wahrgenommen werden – denn das ist ein Feld, das stark von den Großunternehmen und deren Anwaltskanzleien und Beratungsfirmen geprägt wird.

Ziel ist, die Konzentration ökonomischer Macht zu begrenzen und zurückzuschrauben, weil wir diese Machtkonzentration als großes gesellschaftliches Problem sehen. Wir glauben, dass dieser Zustand sowohl wirtschaftlich schädlich ist als auch ein grundsätzliches Problem für die Demokratie darstellt.

Ich möchte heute vorrangig über die Marktmacht der großen Digitalkonzerne sprechen. Mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) hat die Europäische Union da in den vergangenen drei Jahren einen neuen Rahmen geschaffen. Was genau regeln diese beiden Gesetze?

Der DMA regelt die Wettbewerbsseite und definiert problematische Verhaltensweisen, die die großen Gatekeeper nicht mehr anwenden dürfen. Es geht unter anderem um verbotene Selbstbevorzugung und darum, dass bestimmte Dienste nicht gebündelt werden dürfen, damit andere Marktteilnehmer ebenfalls Chancen haben.

Beim DSA geht es weniger um konkrete Inhalte als um Verfahren, zum Beispiel zur Contentmoderation. Sprich, welche Risikobewertungen müssen die Plattformen durchführen, welche Moderationssysteme müssen sie betreiben und wie löschen sie strafbare Inhalte, wenn sie auf deren Verbreitung hingewiesen werden.

Ulrich Müller (Vorstand von Rebalance_Now), Foto: © Jennifer Marke
Ulrich Müller (Vorstand von Rebalance_Now), Foto: © Jennifer Marke für Rebalance_Now

Sie haben von "Gatekeepern" gesprochen, also Torwächtern. Wer sind diese Gatekeeper und welche Tore schützen sie?

Gatekeeper beschützen sozusagen die Tore in die digitale Wirtschaft. Der DMA definiert sie als zentrale digitale Plattformen, die erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt haben. Diese Unternehmen betreiben zentrale Infrastruktur des Internets und wir als Nutzer*innen, privat oder gewerblich, werden zunehmend in problematischer Weise abhängig von ihnen, weil wir auf wesentliche Dienste nur durch diese Unternehmen hindurch zugreifen können. Google hat ein Monopol im Bereich der Onlinesuche, Apple und Google teilen sich das Monopol bei mobilen Betriebssystemen und so weiter.

Was diese Unternehmen betreiben und verkaufen ist also keine ganz normale Dienstleistung, sondern letztendlich Infrastruktur?

Die entsprechenden Unternehmen werden im DMA als "core platform services" bezeichnet, sind also zentrale Dienste, die eine große wirtschaftliche Bedeutung und damit quasi eine Infrastrukturfunktion haben, ja.

Und wie genau kann sich ein Unternehmen mit Infrastrukturfunktion dann selbst bevorzugen?

Google ist hier ein gutes Beispiel. Deren Suchmaschine deckt weltweit etwa 90 Prozent aller Suchanfragen ab, sie haben aber noch andere Dienste wie zum Beispiel Shopping-Dienste. Es geht hier um die Frage, ob solche sekundären Dienstleistungen, mit denen Google Gewinn macht, in der Suche gegenüber anderen Shopping- oder Preisvergleich-Anbietern bevorzugt erscheinen.

Das ist die Seite, die man als User sieht. Die Seite, die man als Unternehmen oder journalistisches Medium sieht, ist Googles Selbstbevorzugung und Machtmissbrauch im Bereich AdTech, also der Vermittlung von Online-Werbung. Mit dem DMA wird die Selbstbevorzugung untersagt und die große Frage ist jetzt, ob Google das wirklich einhält.

Mit welchen Strafen hat ein Unternehmen bei Missachtung des DMA zu rechnen?

Bei Verstößen gibt es die Möglichkeit, bis zu zehn Prozent des (globalen) Jahresumsatzes als Strafe zu verhängen. Bei mehrfachen Verstößen gibt es weitergehende Strafen bis hin zu sogenannten "strukturellen Maßnahmen", zum Beispiel den erzwungenen Verkauf von Unternehmenssparten. Das ist allerdings die letzte Option.

Der DMA ist also eher dazu gedacht, durch empfindliche Geldstrafen Compliance zu forcieren?

Genau, es geht primär darum, dass diese Vorgaben eingehalten werden. Eine Entflechtung kann man eher über die Missbrauchskontrolle erreichen – wenn die EU das möchte.

Möchte die Europäische Union das? Und was ist ein Missbrauchskontrollverfahren eigentlich?

Die Missbrauchskontrolle ist ein wettbewerbsrechtlicher Mechanismus, mit dem man einem marktbeherrschenden Unternehmen nachweisen kann, dass es seine Marktmacht missbraucht. Viele der Vorgaben im DMA entstammen solchen Missbrauchskontrollverfahren und sollen deren Umsetzung verallgemeinern und beschleunigen. Das Problem an der Missbrauchskontrolle ist, dass sie zwar flexibel ist, ein solches Verfahren aber sehr lange dauert.

Im Bereich AdTech gibt es im Moment ein Missbrauchskontrollverfahren gegen Google, in dem die EU-Kommission selbst gesagt hat, dass sie strukturelle Maßnahmen, also eine Entflechtung, für notwendig hält. Es könnte sein, dass die Kommission Google zwingt, einen Teil der Online-Werbesparte zu verkaufen. In diesem Verfahren warten wir seit längerem auf eine Entscheidung und es wäre sehr gut, wenn die Kommission eine Entflechtung einfordert.

Sie meinen also, ohne strukturelle Maßnahmen wird es bei Google nicht gehen? Geht das über die Online-Werbesparte hinaus?

Unser Ziel ist erstmal eine Entflechtung im AdTech-Bereich. Es ist klar, dass Googles Marktstellung hier problematisch ist. In den USA gibt es noch ein anderes Verfahren, das das Suchmonopol betrifft. Das Justizministerium fordert, auch unter Donald Trump, einen Verkauf des Chrome-Browsers.

Googles Gewinnstruktur ist um das zentrale Suchmonopol herum aufgebaut. Sie versuchen, die User durch Kontrolle von Zugangswegen alle auf diese eine Suchmaschine zu lenken, sei es durch Voreinstellungen oder durch den Chrome-Browser. Dann haben sie auch noch diese marktbeherrschende Stellung im Bereich der Online-Werbevermittlung. Wir meinen, dass es auf beiden Seiten Abspaltungen geben muss.

Gegen Monopolismusvorwürfe wehren sich die großen Tech-Konzerne gerne mit der Berufung auf den freien Markt, auf dem sich das beste Angebot nunmal durchsetze. Wie begegnen Sie diesem Argument?

Nach einem liberalen marktwirtschaftlichen Verständnis ist es eigentlich das Ziel, unkonzentrierte Märkte zu haben, auf denen es Wettbewerb gibt. Allerdings haben wir uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass es völlig normal ist, wenn Märkte von zwei, drei oder vier Unternehmen beherrscht werden.

Es kommt dann häufig das Argument, das sei ein zu großer Eingriff, das sei nicht effizient oder das behindere die Innovation, aber an vielen Stellen ist es genau umgekehrt. So eine Marktmacht ist einerseits ein Demokratieproblem und schädigt andererseits auch alle anderen Unternehmen, weil sie schlechtere Konditionen für die eigenen Aktivitäten vorfinden. Wir sehen, dass es sehr wenige sehr große Unternehmen gibt, die sich zunehmend größere Teile der Wertschöpfung aneignen, während kleine und mittlere Unternehmen kämpfen müssen.

Dort, wo wir als Gesellschaft Märkte für sinnvoll halten – und das ist ja nicht überall so –, sollten diese Märkte vielfältig sein und sowohl den Unternehmen als auch den Verbraucher*innen zahlreiche Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen, wie und mit wem sie Geschäfte machen. Das haben wir bei den großen Digitalkonzernen nicht mehr. Wir sind so abhängig von ihnen, dass es klar begründbar ist, warum wir diese Machtstellung aufbrechen müssen.

"Das sind nicht nur ökonomische Themen, letztendlich geht es dabei um grundsätzliche Fragen gesellschaftlicher Gestaltungsmacht und Demokratie."
Ulrich Müller

Das Gesetz, nach dem Google in den USA vergangenes Jahr zum Monopolisten erklärt wurde, ist über ein Jahrhundert alt. Damals entwickelten die Vereinigten Staaten ein neues Wettbewerbsrecht, weil die vorangegangene "Gilded Age" ("Vergoldete Ära") des späten 19. Jahrhunderts eine Handvoll Unternehmen mit astronomischer Marktmacht hervorgebracht hatte – General Oil oder Carnegie Steel beispielsweise. Ist ein historischer Vergleich hier angebracht?

Der Umfang des Problems ist durchaus vergleichbar. Die Mechanismen im Digitalbereich sind natürlich besonders, weil wir diese vernetzten Systeme haben, die eine spezifische Art von Machtausübung ermöglichen. Es gibt neue Mechanismen, aber das Grundproblem ist das selbe.

Wir befinden uns in einer Phase, in der man sieht, wie ökonomische Machtkonzentration zu einem Problem für die Demokratie wird. Gerade bei der Zusammenarbeit der großen Tech-Konzerne mit Donald Trump wird das überdeutlich, da müssen wir uns nur die Amtseinführung ansehen.

Europa muss sicherstellen, dass wir uns nicht in die gleiche Richtung entwickeln und unabhängiger von diesen Großkonzernen werden. Das heißt, statt ebenso große europäische Digitalunternehmen zu bauen, müssen wir mehr Vielfalt auf den Märkten und mehr Auswahlmöglichkeiten schaffen.

Wie sähe denn eine Digitallandschaft aus, die nicht von einer Handvoll Großkonzerne dominiert wird, und wie arbeiten wir effektiv auf dieses Ziel hin?

Ohne über das Kartell- und Wettbewerbsrecht die Marktmacht der etablierten Konzerne zu reduzieren, wird es nicht gehen. Gleichzeitig brauchen wir eine Aufbaustrategie, also eine Förderung von öffentlicher Infrastruktur und von Open Source-Lösungen. Kritisch ist hier die Beschaffungsstrategie des Staates: Es mag komfortabler sein, Software oder Cloud-Dienste von Microsoft einzukaufen als eine europäische Open Source-Lösung, sinnvoller ist es aber nicht.

Das andere Stichwort lautet: Innovationsagentur. Da gab es in den letzten Jahren erfolgreiche Ansätze zur Weiterentwicklung bestimmter Open Source-Komponenten oder zum Aufbau europäischer Cloud-Lösungen. Diese Ansätze müssen wir jetzt stärken. Wir sehen momentan ein Zeitfenster, in dem man versuchen kann, die europäischen Staaten in diese Richtung zu treiben. Denn die merken ja selbst, dass diese Abhängigkeit von US-amerikanischen oder chinesischen Monopolen auf Dauer nicht gut ist.

Gibt es noch etwas, das Sie abschließend hervorheben möchten?

Es ist essentiell, als Bürgerin und Bürger zu verstehen, dass diese ökonomischen Machtfragen uns alle betreffen – selbst, wenn wir von abstrakten Prozessen wie Googles Selbstbevorzugung sprechen. Solche Praktiken führen beispielsweise dazu, dass Anzeigenerlöse von Medien wegfließen zu Google, was den Journalismus schädigt. Das sind nicht nur ökonomische Themen, letztendlich geht es dabei um grundsätzliche Fragen gesellschaftlicher Gestaltungsmacht und Demokratie.

Vielen Dank, Herr Müller, für Ihre Zeit und diesen umfangreichen Einblick ins europäische Wettbewerbsrecht.

Das Interview führte Adrian Beck für den hpd.

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