Deutschland Deine Kinder (10)

Bist Du im Besitz Deiner Heim- und Jugendamts-Akten?
Möchtest Du darüber erzählen, wie Du sie bekommen hast?

Im Februar 2011 habe ich beim damals für uns zuständigen Jugendamt in Schwäbisch Hall angerufen und nachgefragt. Erst hieß es "Nichts mehr da". Einer Mitarbeiterin hat diese Anfrage keine Ruhe gelassen, so hat sie im Archiv wiederholt gestöbert und tatsächlich, nach 45 Jahren die Familienakte gefunden! Für mich war von großem Interesse, weshalb wir ins Heim kamen, wie war der Ablauf durch das Jugendamt usw. Ich Habe vieles bisher unbekannte über meine Familie erfahren. Es war z.T. ein Schock, aber auch sehr hilfreich und notwendig zur Bewältigung der Geschichte aus meiner Herkunftsfamilie.

Außer Arztberichten aus Klinikaufenthalten habe ich keine weiteren Akten. Aus der Zeit im Kinderheim selbst habe ich drei Entwicklungsberichte. So habe ich erfahren, dass ich in der 3. Klasse eine der besten der Klasse war! Ich war 9 Jahre alt und in der 3. Klasse als es einen Einbruch durch ein sehr traumatisiserendes Erlebnis für mich gab, über das ich noch nie gesprochen habe und es auch in Zukunft nicht sprechen werde.

Mein starker Eigenwille wird betont, der nicht nur mir sondern auch meinen Geschwistern zu schaffen macht. Also den starken Eigenwillen hatte ich schon immer, das freut mich sehr.
Ich wollte unbedingt erfahren, weshalb ich nach Waldkirch in das geschlossene Heim "verlegt" wurde und das 6 Wochen vor dem Schulabschluss. Doch angeblich befindet sich hierüber nichts in meinen Akten! Das glaube ich nicht. Aber ich weiß ja aus Behandlungsakten, dass einer der Gründe "Aufsässigkeit" und andere "Verhaltensauffälligkeiten" waren. Deshalb kam ich also in ein geschlossenes Heim und wurde "weggesperrt".

Wie geht es dir heute?

Durch die Berichte in den Medien in den vergangenen zwei Jahren habe ich mich wieder verstärkt in meine Kindheit zurückversetzt gefühlt. Verdrängtes tauchte verstärkt wieder auf, ich erinnerte mich. Meine Traumata sind eigentlich ständig präsent, lassen sich nicht löschen. Sie haben mich ein Leben lang im (Würge-)Griff, nehmen mir manchmal die Luft zum Atmen und ersticken mich regelrecht.

Heute, mit 51 Jahren bin ich auf Dauer wegen meiner Depressionen voll erwerbsgemindert. Seit 35 Jahren bin ich engmaschig in psychotherapeutischer Behandlung. Die Vergangenheit holt mich immer wieder ein, manchmal habe ich noch Albträume, wache mit Herzklopfen auf. Ich leide unter einem chronischen Schmerzsyndrom. Seit zehn Jahren hält mich ein Antidepressivum am Leben.

Was erhoffst du dir von der Veröffentlichung deiner Erlebnisse im Kinderheim Heilig Kreuz in Donauwörth?

Ich wünsche mir, dass die Missstände aus dem Kinderheim bekannt werden. Es war Unrecht! Aus meiner Sicht ein Verbrechen. Es war Menschenrechtsverletzung.

Ich möchte Erzieherinnen, die Heimleiterin, die Bevölkerung von Donauwörth, mit diesem dunklen Kapitel, mit der Schwarzen Pädagogik in der Pädagogischen Stiftung, mit der Wahrheit konfrontieren.
Erst wenn diese leidvollen Erfahrungen veröffentlicht sind, bin ich nicht mehr das Opfer. Solange es vertuscht und ignoriert wird, bin ich das Heimkind, dem niemand glaubt.
Ich will nicht mehr Opfer sein! Das war ich zu oft. In der Herkunftsfamilie, im Heim, auch im Beruf. Es muss ein Ende haben!

Danke, Marsha.

_________________________________

Marsha ist ein Pseudonym, der richtige Name ist der Redaktion bekannt.

Dem hpd liegen weitere erschütternde Berichte ehemaliger Heimkinder vor. In Regensburg positioniert sich dieser Tage die Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch. Es ist kein Ende abzusehen. Marsha hat zehn Jahre Kindheit und Jugend in der katholischen Einrichtung Donauwörth zubringen müssen. Sie ist damit nicht allein. Seit Beginn der Recherche hat sich ein weiteres Opfer der Erziehungsmethoden des Kinderheimes Heilig Kreuz Donauwörth gemeldet. Es ist wieder eine Frau.

Das Bischöfliche Ordinariat Augsburg war zu der Zeit, die Marsha hier beschreibt unwiderrufen die „zuständige Aufsichtsbehörde“. Wir erfahren von deren grundsätzlichem Bedauern zur Frage der Verantwortung und, dass es richtig sei, dass das Erziehungsheim in Donauwörth sich in der Trägerschaft der pädagogischen Stiftung Cassianeum befand. Diese, 1910 gegründet als kirchliche Stiftung des öffentlichen Rechts, sei aber rechtlich selbständig. Die Diözese Augsburg übe über die Pädagogische Stiftung Cassianeum lediglich die Stiftungsaufsicht aus: ihre Verantwortung beschränke sich auf Aufsichts- oder Organisationsverschulden. Wenn ein Priester der Diözese Augsburg zu einem Täter geworden sei, würden die Grundsätze der Deutschen Bischofskonferenz zur Anerkennung des Leids sinngemäß angewandt werden. 


Vertretungsberechtigte Person ist laut dortiger Homepage Professor Dr. Schiedermair.

Um Kontakt mit ihm aufzunehmen führt unsere Recherche in die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. Dort ist Dr. Werner Schiedermair Honorarprofessor an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät/Kunstgeschichte. Ebenso ist er ausgewiesen als Ministerialrat i. R., München, seit 1996 Mitglied des Vorstandes Schwäbische Forschungsgemeinschaft e.V., Sitz Universität Augsburg also sehr honorabel.

Wer trägt die Verantwortung? Marsha doch wohl wirklich nicht.

Wir fragten nach und baten die vertretungsberechtige Stelle, Professor Dr. Schiedermair, um seine Stellungnahme. Sie fiel mager aus und kann nicht das letzte Wort bleiben.

Sehr geehrte Frau Ignatius,
zu Ihrer E-Mail vom 26.07.2011 sei angemerkt, dass Anschuldigungen, die die Führung des 1975 aufgelösten Kinderheims betreffen, bisher mir nicht bekannt geworden sind. Max Auer, den Sie erwähnen, verstarb 1980. Unterlagen, die eine Überprüfung der von Ihnen mitgeteilten Behauptung erlauben würden, sind nicht vorhanden.
Mit freundlichen Grüßen
Professor Dr. Werner Schiedermair

Unsere Antwort auf diese Darstellung korrigierte diese Aussage:

Die Misshandlungsvorwürfe gegen das Kinderheim Heilig Kreuz sind jedoch nicht neu. Sie sind beim „Runden Tisch Heimerziehung“ bereits bekannt und registriert. Von ehemaligen Heimkindern, die im Kinderheim Heilig Kreuz untergebracht waren, wurden bereits Anträge auf Opferentschädigung gestellt. (…)
Wichtiger wäre es jetzt für die Betroffenen, auf Anerkennung und Ernstnahme von Seiten des Cassianeums zu treffen. Ich möchte Ihnen, vor der Veröffentlichung unseres Artikels, hierzu die Möglichkeit geben und bitte Sie, sich bis zum Montag den 16.8. zu äußern.

Eine Antwort darauf ist bis jetzt nicht erfolgt.

Anna Ignatius, Evelin Frerk