Gab es untereinander auch Gewalt?
Gewalt untereinander war im Beisein und mit dem Wissen der Erzieherinnen und des Direktors geduldet und beinahe an der Tagesordnung. Kinder schlugen sich die Köpfe gegenseitig auf den harten Steinboden im Waschraum, Fäuste landeten in Gesichtern, es wurde gebissen, getreten, bis zur Ohnmacht auf den Brustkorb gedrückt usw.
Unter den Augen anderer Heimkinder wurde ich im Waschraum brutal zusammengeschlagen, bis ich aus Mund und Nase blutete. Niemand half mir. Entlassene Mädchen und Buben wurden oft zur Aufsicht über die Kleinen angestellt, so wurde selbst erlebte Gewalt wieder nach unten weitergegeben. Es gab keinen Schutz durch die Erzieherinnen. Wir Kleinen waren den älteren Heimkindern schutzlos ausgeliefert. Ich war eher schüchtern und zurückhaltend und häufig beliebtes Opfer. Die Gewalt untereinander war vermutlich eine geduldete Erziehungsmaßnahme, um dem Personalmangel entgegenzusteuern.
Es gab auch sexuelle Kontakte zwischen Heimkindern und Erzieherinnen. Ein „Paar“ wurde ertappt. Die Folge war, dass der Junge blutig geprügelt wurde und in ein geschlossenes Heim eingewiesen wurde.
Hattest Du dennoch auch Freunde im Heim?
Im Kinderheim und in der Schule hatte ich lange Zeit keine Freunde. Ich war Außenseiterin, fühlte mich nie dazugehörig sondern eher aussätzig, hässlich und nicht liebenswert. Ich wurde nicht in „Banden“ aufgenommen. Ich fühlte ich mich immer einsam und verlassen. Manchmal habe ich vor Scham und Angst, wegen meinem krausen Haar ausgelacht zu werden, die Schule geschwänzt. Nur zu meinem großen Bruder, er ist 5 Jahre älter als ich, hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Auch nach seiner Entlassung, ich war 10 Jahre alt, hat er sich immer sehr liebevoll um mich gekümmert. Er war immer für mich da.
Weihnachten 1966 Gab es trotz allem auch Erwachsene, denen du vertrauen konntest?
Im Jahr 1973 nahm mich manchmal eine Lehrerin am Wochenende mit nach Hause, nach München. Das war schön. Von den Missständen im Heim habe ich auch ihr nichts erzählt. Es hätte mir sowieso niemand geglaubt.
1977, zwei Jahre nach der Umsiedlung in ein anderes Heim, hatte ich ein vertrauensvolles Verhältnis zu einer Ärztin. Kurz bevor ich nach Freiburg kam, nahm sie sich das Leben. Das war sehr schlimm für mich. Wieder einmal hatte ich eine Bezugsperson verloren.
Haben die zuständigen Behörden bzw. hat das Jugendamt nichts von den Missständen im Heim bemerkt oder etwas dagegen getan?
Zuständig war der Landeswohlfahrtsverband Stuttgart. Ich kann mich an keine Besuche oder Kontrollen durch Behörden erinnern. Eine Ehemalige erinnert sich, dass sie weggesperrt wurde, als ein Besuch des Jugendamts geplant war. Von einer anderen Ehemaligen erfuhr ich kürzlich, dass wir einen Hungerstreik planten, um beim Besuch des Jugendamtes auf die Missstände aufmerksam zu machen. Der Direktor sagte diesen Besuch kurzfristig ab. Das Jugendamt erhielt jährlich einen Entwicklungsbericht von jedem von uns.
Eines beschäftigt mich doch sehr: Obwohl bei uns zuhause weiterhin nichts in Ordnung war, genehmigte das Jugendamt Ferienaufenthalte zuhause. Hier erlebte ich wieder Missbrauch und Gewalt durch meinen Stiefvater. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es nach Ferienaufenthalten irgendwelche Gespräche gab, bzw. ich nehme an, dass das Jugendamt die Verhältnisse meiner Eltern zuhause nicht überprüft hat. Hier haben die Behörden die Aufsichtspflicht verletzt und total versagt.
Die Behörden bzw. Jugendämter sind ebenfalls für das, was geschehen ist, und wie es mir und anderen heute geht, verantwortlich. Heute bin ich selbst für mich verantwortlich. Ich hatte es verdammt schwer! Nach jahrelangen Kämpfen kann ich heute einfach nicht mehr!
Was ist mit deinen Eltern? Hast du Kontakt zu ihnen und haben sie sich jemals dazu geäußert, dass sie sich nicht um euch kümmern konnten?
Der Kontakt zu meinen Eltern war immer da wenn auch mit Unterbrechungen. Mein Stiefvater starb 1973 an Leberzirrhose. Das war eine enorme Entlastung für mich.
Mit meiner Mutter habe ich mich seit meinem 15. Lebensjahr heftig auseinandergesetzt, habe nie ein Blatt vor den Mund genommen. Klar hat meine Mutter uns Vieles erzählt, wieso, weshalb warum. Doch es gibt immer noch Fragezeichen. Ich möchte nicht mehr darüber erzählen. Ich habe heute zu meiner Mutter ein gutes Verhältnis – mal mehr, mal weniger.
Du hast das Kinderheim Heilig Kreuz in Donauwörth 1975 verlassen. Hast du früher als jetzt daran gedacht, dich zu deinen Erlebnissen zu äußern?
Ja, gleich nach der Umsiedlung in das geschlossenes Heim nach Waldkirch wollte ich den Direktor des Kinderheims, Herrn Monsignore Max Auer, wegen der Misshandlungen anzeigen. Mir wurde abgeraten, zumal niemand der anderen Betroffenen mehr „von dem Dreck“ etwas wissen wollte. In den Folgejahren habe ich Ärzten und Therapeuten von diesen Missständen erzählt. Hilfe hat mir niemand angeboten. Keiner hat es für notwendig gehalten, mich über das Opferentschädigungsgesetz aufzuklären bzw. mich bei einer Anzeige zu unterstützen. Es gibt Aktenvermerke über meine Äußerungen zu den Misshandlungen im Kinderheim. Konsequenzen hatte dies für die Täter nicht. Wenn mich nur ein Erwachsener ernst genommen hätte, wären diese Straftaten nicht verjährt gewesen...