Sarrazin und der Extremismus der Mitte

(hpd) Der Erziehungswissenschaftler Klaus Ahlheim geht in seinem Buch davon aus, dass mit der Debatte um das Buch „Deutschland schafft sich ab“ eine Wiederkehr von Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus in der Gesellschaft einherging. Die in seinen Aufsätzen präsentierten empirischen Daten weisen in der Tat auf bedenkliche Tendenzen hin, können aber nicht pauschal die daraus abgeleiteten Grundthesen des Autors stützen.

Im Herbst 2010 erschien Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Das Buch fand über eine Millionen Käufer und löste eine breite Debatte in der Gesellschaft und in den Medien aus. Für den Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Klaus Ahlheim wurde dadurch das „ethnozentrische Denken in der Mitte der Gesellschaft ... salon- und politikfähig“ (S. 7). Dies schreibt er gleich zu Beginn seines Buchs „Sarrazin und der Extremismus der Mitte. Empirische Analysen und pädagogische Reflexionen“.

Darin geht Ahlheim davon aus, dass weniger Sarrazin als Autor, sondern seine Anhänger in der Gesellschaft das Problem seien. Er habe deren Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus aufgegriffen und verbalisiert. Einschlägige Einstellungen hätten gleichwohl schon lange vor dem Erscheinen von Sarrazins Buch bestanden. Dies wollen ein längerer neuer Beitrag in dem Buch direkt zu Sarrazin und seinen Positionen sowie sechs ältere andere Texte zu Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus aus empirischer und pädagogischer Sicht verdeutlichen.

Zunächst geht es Ahlheim also um eine ausführliche Auseinandersetzung mit Sarrazin, der für ihn nur stellvertretend für eine Wiederkehr von längst als überwunden geglaubten Werten steht: „Seinen überragenden öffentlichen Erfolg, den rasanten Aufstieg zum Bestseller-Autor verdankt Sarrazin genau diesem Ethnozentrismus, verdankt er der Selbstverständlichkeit, mit der er in seiner gesamten Darstellung den besonderen, herausragenden Wert der Nation, die besondere Bedeutung Deutschlands oder besser den besonderen Wert der Deutschen argumentativ setzt“ (S. 9f.). Nicht erst seit der Fußball-WM von 2006 mit dem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer sei deutscher Nationalstolz wieder konsens- und mehrheitsfähig geworden. Für diese Einschätzung listet Ahlheim dann Ergebnisse der empirischen Sozialforschung auf, wonach diese Daten den Anstieg einschlägiger Auffassungen im Sinne der Fremdenfeindlichkeit und des Nationalismus bestätigten. Solche Stimmungsänderungen seien aber auch in den Feuilletons und bei Intellektuellen auszumachen.

Bei den folgenden Beiträgen handelt es sich um Nachdrucke von Aufsätzen und Kommentaren, die in den 2000er Jahren erschienen und ebenfalls stark auf die Resultate von Umfragen bezogen sind. Darin geht es um die Problematik der Messung von rechtsextremistischen Einstellungen und Migration als Herausforderung für die Erwachsenenbildung, um den Kontext von Antisemitismus und Schlussstrich-Mentalität bei Studierenden und die Verbreitung von fremdenfeindlichen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft, um Prävention gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus und den Rechtsextremismus als Herausforderung für die Pädagogik. Die dabei präsentierten Daten geben einen interessanten Einblick in die Entwicklung einschlägiger Einstellungen und in die soziale Zusammensetzung ihrer Anhänger. Hier offenbaren sich etwa Kontexte wie zwischen nationalem Selbstbewusstsein und Schlussstrich-Mentalität, aber auch Nicht-Kontexte wie der zwischen anwesenden Ausländern und verbreiteter Fremdenfeindlichkeit.

Gerade die Analysen, die nach den Bedingungsfaktoren und der Verbreitung derartiger Einstellungen fragen, verdienen großes Interesse. Sie machen deutlich, dass „Fremdenfeinde“ keineswegs nur die rechtsextremistischen Parteien wählen und eben auch nicht nur aus den Älteren oder den Jüngeren bestehen. Ahlheim problematisiert aber bei seinen Einschätzungen nicht immer, dass die genutzten Einstellungsstatements keineswegs zwingend Fremdenfeindlichkeit messen. So schreibt er etwa: „Forderungen nach stärkerer Integration, nach Anpassung der hier lebenden Familien haben ... zugenommen“ (S. 26). Ist dies schon fremdenfeindlich? Hinzu kommt, dass nicht alle seine Daten auch seine Einschätzungen stützen. Deutliche und stark fremdenfeindliche Einstellungen nahmen etwa zwischen 1996 und 2006 um fünf Prozent ab, etwas fremdenfeindliche Einstellungen demgegenüber nur um zwei Prozent zu (vgl. S. 25). Leider ist Ahlheim bei nicht wenigen Kommentaren etwas einseitig und überspitzt verfahren. Somit kann man seinen Befunden nicht pauschal zustimmen.

Armin Pfahl-Traughber

 

Klaus Ahlheim, Sarrazin und der Extremismus der Mitte. Empirische Analysen und pädagogische Reflexionen, Hannover 2011 (Offizin-Verlag), 155 S., 13,80 €