EDINBURGH. (Globe and Mail) Wir werden vielleicht niemals erfahren, warum genau die 16-jährige Aqsa Parvez diese Woche in Mississauga erwürgt wurde.
Ihr Vater Mohammed wurde wegen Mordes angeklagt und er ist nach allem, was man hört, ein sehr religiöser Mensch, während seine Tochter ihren Kopf nicht auf eine Art und Weise verhüllen wollte, wie es Muslimen im Heimatland ihres Vaters, Pakistan, gefällt.
Ob ihr Tod ein direktes Resultat dieser innerislamischen Konfession ist oder Ergebnis des gewöhnlicheren Ausbruch eines Familienstreits, ist nun unwichtig. Der Fall ist inzwischen zu einer Geschichte über die Grenzen der Toleranz geworden. Eine nationale Debatte ist um die arme Aqsa entbrannt [Anm. des Übers.: Mississauga liegt in Kanada] und es ist vor allem eine Debatte darüber, welchen Platz extremer religiöser Glaube in einer liberalen Gesellschaft einnehmen darf.
Dabei handelte es sich um das zentrale Thema eines dramatischen Streits, der Europas führende Denker bereits die längste Zeit dieses Jahres beschäftigt und es wäre sinnvoll, einen Teil der Rhetorik über den Atlantik zu verschiffen.
Bei der Diskussion über den Parvez-Fall haben viele Menschen die Wörter „Integration“ und „Multikulturalismus“ verwendet. Diese Konzepte verfehlen, wie ich finde, irgendwie das Thema. Die Familienmitglieder sind im Hinblick auf die wichtigsten Eigenschaften voll integrierte und fließend Englisch sprechende Kanadier. Und sie steckten auch nicht in einem kulturellen Ghetto fest; falls es wirklich Zwänge und Druck gab, dann nur im Kopf des Vaters, sie kamen nicht von den unterschiedlichen und überwiegend säkularen Menschen um sie herum.
Die Frage, die wir uns hier tatsächlich stellen sollten, lautet: Wie gehen wir mit denen in unserer Mitte um, die Antinomier sind – also Menschen, die glauben, dass Gottes Gesetze die menschlichen übertrumpfen. Schon seit wir das erste Mal während der Aufklärung Gesellschaften auf der Grundlage von Vernunft und gegenseitigem Respekt erbauten, war die Gegenwart von wahren religiösen Gläubigen ein Problem. Sollte die Abschwörung von spiritueller Autorität Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer freien Gesellschaft sein?
Antinomier können bezaubernde Quälgeister sein, wie William Blake, dessen Poesie ein großes Manifest des Antinomianismus war. Oder sie können Osama bin Laden sein.
„Was sagen Sie zu jemandem“, fragte Voltaire von 300 Jahren, „der Ihnen erzählt, er höre lieber auf Gott als auf den Menschen, und der in Folge dessen sicher ist, die Pforten des Himmels betreten zu können, indem er Ihre Kehle durchschlitzt?“
Dieses Zitat eröffnete im Januar die Debatte des Jahres. Es stammt von dem französischen Philosophen Pascal Bruckner, der es nutzte, um einen langen, wilden Angriff auf den niederländisch-amerikanischen Autoren Ian Buruma zu starten (seinen Essay und den Rest dieser Debatte finden Sie auf der hervorragenden Berliner Website signandsight.com).
Herr Buruma hatte gerade ein fantastisches Buch mit dem Titel Mord in Amsterdam veröffentlicht, in dem er zu seinem Heimatland Holland zurückkehrt, um die Ermordung des Filmemachers Theo Van Gogh durch einen muslimischen Extremisten zu untersuchen.
Die Hauptfigur seines Buches ist Ayaan Hirsi Ali, die niederländische Aktivistin und Abgeordnete, deren Kindheit der von Aqsa Parves in Mississauga ähnelte, die jedoch dem fundamentalistischen Islam unterlag und von Männern grausam misshandelt wurde.
Sie hatte trotzdem mehr Glück als Aqsa: Sie floh, ließ den Glauben hinter sich und wurde zu einer beeindruckenden und weltbekannten Stimme antireligiöser Leidenschaft.
Sie nimmt in Herr Burumas Buch eine weitgehend heroische Position ein, er bemerkt jedoch am Ende, dass sie ihre eigene Sache untergraben hat: „Ayaan Hirsi Ali war kein Voltaire“, schreibt er über ihre extremeren Provokationen. „Denn Voltaire richtete seine Beleidigungen gegen die katholische Kirche [...] während Ayaan nur das Risiko einging, eine Minderheit anzugreifen, die sich in Europa ohnehin schon verwundbar fühlte.“
Der britische Autor Timothy Garton Ash formulierte diese Meinung ein paar Wochen später noch drastischer: „Ayaan Hirsi Ali ist nun eine mutige, unverblümte, leicht einfältige Aufklärungs-Fundamentalistin.“
Dieser kurze Einspruch löste eine wütende Debatte aus. Für Herrn Bruckner war die Ansicht, dass Frau Hirsi Ali Gläubigen hätte entgegenkommen sollen, reine Apostasie. „Wie können wir im Falle des Islam etwas dulden, was wir im Falle des Katholizismus nicht mehr dulden? ... Und so werden die Verteidiger der Freiheit [also Frau Hirsi Ali] wie Faschisten dargestellt, während Fanatikern die Opferrolle zugeschrieben wird.“
Das war einer seiner milderen Kommentare. Er endete mit einer wild zusammengemischten Metapher: Herr Buruma und Herr Garton Ash „sind die Symptome eines gelangweilten, von Selbstzweifeln geplagten Europas, eines Europas, das nur allzu bereitwillig dem leisesten Alarm nachgibt. Aber ihr gutwilliger Rhetorik-Sirup schlägt einen anderen Ton an: Den der Kapitulation.“
Danach haben sich ein Dutzend türkischer, niederländischer, schwedischer, französischer, britischer und deutscher Intellektueller auf die Sache gestürzt und verwickelten sich in eine irreführende Debatte über „Kulturrelativismus“ und „Multikulturalismus“ (obwohl keiner der ursprünglichen Teilnehmer ein Relativist oder radikaler Multikulturalist war). „Die Frage ist“, meinte der schwedische Autor Lars Gustafsson, „ob Unvernunft die selbe Toleranz verdient wie Vernunft.“ Nein, folgerte er.
Herr Bruckner hat einen erfolgreichen Schlag ausgeführt: Das Glaubensbekenntnis der kulturellen „Toleranz“ ist tatsächlich ihr Gegenteil, weil man durch die Toleranz von „Kulturen“ Individuen das Recht verweigert, außerhalb von ihnen zu leben; man „verwehrt ihnen das Recht, sich von den eigenen Traditionen zu befreien [...] Multikulturalismus ist der Rassismus der Anti-Rassisten: Er kettet Menschen an ihre Wurzeln.“
Herr Buruma bot jedoch eine Verteidigung an: „Bedeutet das Leben in einer freien Gesellschaft auch, dass Menschen das Recht haben sollten, sich zu kleiden, zu sprechen oder zu beten wie sie wollen, selbst wenn es uns nicht gefällt, so lange sie anderen nicht schaden? Ein freiheitsliebender Bürger toleriert andere Traditionen oder Kulturen nicht deshalb, weil er sie für fantastisch hält, sondern weil er an die Freiheit glaubt.“
Ereignisse wie Aqsa Parvez Tod und die gelegentlichen Fälle von Ehrenmord sind grausam, sagte er. „Es handelt sich jedoch um Fälle für die Gesetzesvollstreckung. Es ist schwieriger herauszufinden, wie man gewaltsame Ideologien davon abhält, Mainstream-Muslime zu infizieren und so freie Gesellschaften zu bedrohen. [...] Wenn wir den religiösen Extremismus isolieren und besiegen möchten, dann brauchen wir Mainstream-Muslime als unsere Verbündeten.“
Irgendwann in der Mitte dieses zentnerschweren Papierhaufens bemerkt Herr Garton Ash, dass sich diese Debatte zwischen der Aufklärung von Voltaire, laut der wir alle einer universalen Vernunft folgen sollten, und der Aufklärung von Locke abspielt, derzufolge wir alle unseren privaten Irrationalitäten fröhnen könnten. Wie antik und europäisch das auch klingen mag, es scheint nun die kanadische Debatte geworden zu sein.
Der Autor: Doug Saunders ist ein kanadischer Journalist, Jahrgang 1967. Er hat den National Newspaper Award , das kanadische Pendant zum Pulitzer-Preis, bereits vier Mal gewonnen. Er ist Chef des Europabüros von Globe and Mail und schreibt aus einer liberal-sozialdemokratischen Perspektive.
Quelle: Saunders, Doug: Do the laws of God trump those of man?. Globeandmail.com. 14. 12.2007
Übersetzung: Andreas Müller
Tipp: Zum Thema sei das Video der Debatte zwischen Ayaan Hirsi Ali und Timothy Garton Ash empfohlen.
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