(hpd) Die Soziologin Necla Kelek veröffentlicht die Texte von Reden und Schriften aus den Jahren 2005 und 2011, worin sie zum Problemkomplex „Integration, Islam und Migration“ Stellung nimmt. In Teilen durchaus berechtigt, aber doch zu sehr verabsolutierend führt sie viele Missstände in der muslimischen Community auf die Prägung durch den Islam zurück.
Die in Istanbul geborene und in Berlin lebende Soziologin Necla Kelek ist durch ihre Bücher „Die fremde Braut“, “Die verlorenen Söhne“ und „Bittersüße Heimat“ in der öffentlichen Debatte um Integration, Islam und Migration bekannt geworden. Darin thematisierte sie Frauenunterdrückung und Männerdominanz unter Muslimen in Deutschland, wobei die besondere Anfälligkeit für Gewaltneigung oder Zwangsheiraten in den einschlägigen sozialen Milieus angeprangert wurde. Dieses publizistische Engagement brachte Kelek auch zahlreiche Preise wie etwa den Geschwister-Scholl-Preis 2005 oder den Hildegard-von-Bingen-Preis 2009 ein. Indessen blieben ihre öffentlichen Positionierungen nicht unumstritten: Nicht nur aus islamischen Organisationen, sondern auch aus der sozialwissenschaftlichen Publizistik kamen Einwände und Kritik auf. Einige Positionierungen und Reaktionen von Kelek findet man in dem Band „Chaos der Kulturen. Die Debatte um Islam und Integration“, der Reden und Schriften aus dem Zeitraum von 2005 bis 2011 enthält.
Sie behandeln inhaltlich die unterschiedlichsten Aspekte: Es geht etwa um das Anwerbeabkommen mit der Türkei und den Fall des „Ehrenmordes“ an Hatun Sürücü, um kulturell bedingte Krankheitsursachen bei Muslimen und Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, um die Frage nach den Inhalten des „wahren Islam“ und, am Beispiel von Patrick Bahners, um eine Kritik der Kritik der Islamkritik.
Bei den einzelnen Texten handelt es sich um Kommentare, Reden und Rezensionen – also nicht um wissenschaftliche Aufsätze. Durch alle Texte hindurch zieht sich eine Grundposition der Autorin: Der Islam sei kein reiner Glaube, sondern auch Ideologie und Weltanschauung. Die Missstände innerhalb der muslimischen Community seien stark auf dessen Selbstverständnis zurückzuführen. Kelek formuliert: „Der Islam ist gelebte Kultur, und diese Kultur hat nach wie vor ein anderes Menschen- und Weltbild als das einer aufgeklärten Bürgergesellschaft“ (S. 13).
Im mangelnden Stolz der Deutschen sieht die Autorin die Ursache für Duldung und Zurückhaltung gegenüber den Freiheitsverletzungen im sozialen Umfeld der Anhänger des Islam. Dabei hebt Kelek immer wieder die kollektivistische Ausrichtung der gemeinten Glaubensgruppe hervor: „Aus der Vorstellung der Umma, der Glaubensgemeinschaft, leitet sich ein soziales Konzept von Gemeinschaftlichkeit ab, das der Gemeinschaft den Vorrang vor dem Individuum gibt“ (S. 29). Nicht die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen und Verhältnisse entschieden über Erfolg und Misserfolg der Einwanderer, sondern im „großen Maße die soziokulturellen und religiösen Bedingungen und auch patriarchale Familienstrukturen“ (S. 64). Der Islam stehe einer Liberalisierung und Verbesserung der Lebenssituation der Muslime im Weg. Hier trage auch nicht das Argument, dass eine konservative Deutung nicht für die eigentliche Botschaft der Religion stehe. Denn: „Der Islam ist das, was in seinem Namen gelebt wird“ (S. 218).
Wie bereits erwähnt, enthält der Band keine wissenschaftlichen Aufsätze. Es finden sich demnach in den Texten keine abgewogenen Betrachtungen und differenzierte Einschätzungen. Kelek wirbt für ihre Positionen mit Eifer und Vehemenz, wobei anderslautende Auffassungen allzu schnell herabgewürdigt werden. Sicherlich trifft es zu, dass kritikwürdige Gegebenheiten in der muslimischen Community auch kulturell und religiös und nicht nur sozial und wirtschaftlich erklärbar sind. Doch macht es sich die Autorin mit der einseitigen Fixierung auf diesen Erklärungsansatz doch all zu einfach. Eine solche Denkhaltung durchdringt auch die beiden Texte zu Thilo Sarrazins Buch, das distanzlos und unkritisch als „Befreiungsschlag“ (S. 201) bejubelt wird. Angesichts von dessen Defiziten, Einseitigkeiten und Fehldeutungen von „bitteren Wahrheiten“ zu sprechen, darf zumindest als verkürzte Sicht der Dinge kritisiert werden. Zwar verdienen Keleks intellektuelle Interventionen Interesse, aber es sollte kein unkritisches Interesse sein.
Armin Pfahl-Traughber
Necla Kelek, Chaos der Kulturen. Die Debatte um Islam und Integration, Köln 2012 (Kiepenheuer & Witsch), 255 S., 9,99 €