(hpd) Sam Harris schreibt über Willensfreiheit. Fazit: Unser Wille ist nicht frei, und es wäre falsch, sich dieser Tatsache nicht zu stellen. In seinem Buch „Free Will“ untersucht er die Implikationen dieser Tatsache und lobt die Entmystifizierung der Welt.
Die Freiheit, die wir meinen, wenn wir von freien Wahlen, von Meinungs- oder Religionsfreiheit sprechen, ist die Freiheit von externen Zwängen. Wir möchten nicht, dass andere für oder über uns entscheiden. Wenn wir allerdings von Willensfreiheit im metaphysischen Sinn sprechen, dann meinen wir eine Freiheit von Ursachen. Dann meinen wir, dass nicht der Zustand, in dem sich unser Gehirn zum Zeitpunkt der Entscheidung befindet, unser Wollen bestimmt, sondern etwas völlig anderes. Eine solche Freiheit ist eine Illusion. Das ist nicht nur die Meinung von Philosophen wie Spinoza oder Schopenhauer, sondern auch das Ergebnis der modernen Hirnforschung. In seinem Buch Free Will untersucht Sam Harris die Implikationen dieser Tatsache.
Das Ende der Willensfreiheit ist nur ein weiterer Schritt der Entmystifizierung der Welt und des Menschen. Das religiöse Menschenbild ist das Bild eines Zauberwesens. Jedes seiner definierenden Merkmale ist ein wundersames Rätsel, das die Wissenschaft nach und nach löst. Wir leben nicht als Sinn und Zweck des Universums in seinem Zentrum. Wir kommen nicht aus dem Nichts, sondern haben uns genauso entwickelt wie jede andere Spezies in der Natur. Wir haben keine immaterielle Seele, die unseren Tod überdauern kann. Und unser Wille ist nicht auf mystische Weise frei.
Der freie Wille gilt als Grundlage unserer Moral. Wenn die Wissenschaft uns also den freien Willen entzieht – so die Angst – dann entzieht sie auch der Moral die Grundlage. Hier bahnt sich die gleiche Denkfigur an, die wir schon vom paternalistischen „Glauben an den Glauben“ kennen. Ja, sagt der aufgeklärte „Gläubige“, der seinen Glauben vielleicht selbst längst verloren hat: Mag sein, dass es keinen Gott gibt, aber wir sollten trotzdem alles dafür tun, dass die Menschen weiterhin an ihn glauben! Ebenso und aus den gleichen Gründen sollten wir den Glauben an einen freien Willen stärken, auch wenn wir wissen, dass er nur eine Illusion ist.
Sam Harris argumentiert gegen diese Notwendigkeit. Ganz im Gegenteil habe das religiös-metaphysische Konzept des freien Willens ähnlich desaströse Auswirkungen wie der religiöse Glaube allgemein: „Innerhalb eines religiösen Weltbilds unterstützt der Glaube an den freien Willen den Begriff der Sünde – der offenbar nicht nur härteste Strafen in diesem, sondern auch ewige Strafen im nächsten Leben rechtfertigt. Und dennoch besteht ironischerweise eine der Ängste in Bezug auf den Fortschritt der Wissenschaft darin, dass uns ein besseres Verständnis unserer selbst entmenschlichen könnte.“
Für seine eigenen moralischen Einstellungen stellt Sam Harris positive Auswirkungen fest, seit er nicht mehr an den freien Willen glaubt. Sein Mitgefühl sei stärker geworden und er sei eher bereit zu vergeben. Er bilde sich auch weniger ein auf die Früchte der glücklichen Zufälle in seinem Leben. Denn auch der quasi-religiöse amerikanische Mythos vom Selfmademan steht und fällt mit der Willensfreiheit. Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, dass niemand von denen, die „es geschafft“ haben, auch die mannigfaltigen Voraussetzungen ihres Erfolgs geschaffen haben.
Die Illusion des freien Willens hat eine weitere Illusion zur Folge: Wir glauben, dass das Unglück, das von Menschen ausgeht, etwas grundsätzlich anderes ist als das Unglück durch Naturkatastrophen. Judith N. Shklar hat in ihrem Buch Über Ungerechtigkeit (Faces of Injustice, 1990) das Phänomen beschrieben, dass wir durch die zunehmende Beherrschbarkeit natürlicher Abläufe in immer mehr Unglücken auch Ungerechtigkeit entdecken. Natürlich trägt das Meer keine Schuld an den Folgen des Tsunamis, aber vielleicht doch die Politiker, die nicht genug in das Frühwarnsystem investiert haben?! Niemand stirbt heutzutage bloß an Hunger, sondern immer auch an unterlassener Hilfeleistung.
Mit dem Verschwinden der Willensfreiheit können wir jetzt das gegenteilige Phänomen beobachten: Wo die Schuld verschwindet, verschwindet auch die Ungerechtigkeit, und es bleibt nur Unglück zurück. Ein Unglück ist sinnlos, aber Ungerechtigkeit ist sinnstiftend.
So wird inzwischen allgemein anerkannt, dass viele Sexualverbrecher wohl eher krank als böse sind. Für die Opfer und ihre Angehörigen ist das aber kein Trost, im Gegenteil. Sie wurden angefallen, verletzt oder ermordet von Etwas, nicht von Jemandem. Der Schrei nach Rache, nach Gerechtigkeit, nach Wiedergutmachung, er verhallt nicht nur ungehört, er verliert seine Bedeutung.
Die mangelnde Freiheit des Täters spiegelt sich in der mangelnden Freiheit der moralischen Reaktion. Wenn wir nicht persönlich betroffen sind, finden wir pragmatisch konsequentialistische Ansichten vielleicht überzeugend. Wenn etwa Strafe weder dazu führte, dass das Rückfallrisiko sinkt, noch dass sich Triebtäter abschrecken lassen, dann hätte Strafe keine guten Folgen und wäre falsch. Aber je näher uns das Verbrechen persönlich betrifft, desto grotesker empfinden wir diesen Pragmatismus. Unser Gerechtigkeitsempfinden erhält einen schweren Schlag, wenn es niemanden findet, den es zur Hölle schicken kann.
Sinnstiftung durch Schuldzuweisung ist ein wichtiges Bedürfnis. Über Jahrtausende haben die Menschen die Götter für ansonsten unerklärliche Katastrophen verantwortlich gemacht. Aber erst als sie damit aufhörten, konnten sie anfangen, die Welt systematisch zu erforschen. Die Resultate reichen vom Blitzableiter bis zur Sturmflutwehr. Lösungen, die undenkbar sind, solange wir glauben, dass Zeus die Blitze schleudert oder Poseidon ohne guten Grund sehr wütend werden kann. Warum sollte das im Falle der Gefahren, die von Menschen ausgehen, anders sein? Solange wir die Ursachen falsch interpretieren, können wir sie nicht effektiv verhindern oder vermeiden. Wer einer Illusion aufsitzt, hat keine Kontrolle.
Aber vielleicht können wir ja lernen, mit dieser Verantwortungsillusion auch umzugehen? Der Schrei nach Rache wird schwächer, wenn wir etwa erfahren, dass ein Hirntumor das Empathiezentrum des Täters zerstört hat. Wir haben jetzt eine physiologische Erklärung für sein Verhalten. Es ist vor allem die Unwissenheit über die Ursachen menschlichen Verhaltens, die uns zur Rache drängt, so Sam Harris. Denn für jedes Verhalten gibt es eine Erklärung auf dieser Ebene.
Wird Strafe damit sinnlos oder gar unmoralisch? Kaum. Denn auch ohne die Magie der Willensfreiheit funktionieren Anreize, auch negative wie die Androhung oder der Vollzug von Strafen. Ein Plädoyer auf Marionettenstatus dürfte jedenfalls kaum Aussicht auf Erfolg haben. Denn jeder Richter könnte darauf als Marionette antworten. „Sie konnten nicht anders, als zu töten, und ich kann auch nicht anders, als Sie zu verurteilen.“