Peter G. Kirchschläger, ordentlicher Professor für Theologische Ethik an der Universität Luzern und Leiter des Instituts für Sozialethik (ISE), lehrt uns in seinem Werk "SAMBA" – hierbei handelt es sich nicht um den bekannten brasilianischen Gesellschaftstanz im Zweivierteltakt, sondern vielmehr um eine methodische Anleitung zur ethischen Entscheidungsfindung.
Ziel von SAMBA ist es, unterstützend "gute Gründe" für ethische Entscheidungen zu ermitteln. Diese instruktive Lektüre ist nicht nur für Expert*innen und Studierende der Ethik von Interesse, sondern bietet auch allen, die nach Orientierung in ethischen Fragestellungen suchen, eine bereichernde Informationsquelle.
Ein besonders erwähnenswerter Aspekt ist, dass der Autor versucht, ein Modell zur ethischen Entscheidungsfindung ohne metaphysischen Ballast zu entwickeln. Dies stellt an sich schon einen "guten Grund" dar, das Buch zu lesen.
Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass SAMBA das Ergebnis einer akademischen Evaluierung ist. In anderen Worten: Wenn man Ethik als eine Wissenschaft anerkennt – eine Position, die nicht zwingend geteilt werden muss und von einigen Wissenschaftlern tatsächlich angezweifelt wird – bietet dieses kompakte Lehrbuch einen ausgezeichneten Überblick über die Ethik als Wissenschaft.
Der Leser wird nicht zum "besseren Menschen" erzogen, denn das ist keine Absicht, die der Autor verfolgt, wofür man ihm dankbar sein muss. Aus Respekt vor der Freiheit, Autonomie und Würde des Menschen legt die Ethik keine konkreten moralischen Entscheidungen fest, sondern dient wie ein Kompass als Orientierungshilfe, indem sie eine Richtung, aber keinen konkreten Weg vorgibt.
Was als "gute Gründe" im Sinne von "ethischer Entscheidungsfindung" anzusehen sind, wird in dem Lehrbüchlein wie ein salbungsvoller Sermon unzählige Male wiederholt. Kirchschläger zufolge muss es denkbar sein, dass alle Menschen in ihrer effektiven Freiheit und Autonomie sowie in ihrer vollen Gleichheit diesen Gründen – innerhalb eines Denkmodells und nicht innerhalb einer realen weltweiten Volksabstimmung – aus ethischen Erwägungen zustimmen würden.
Um gute Gründe für eine ethisch richtige Entscheidung zu finden, braucht es Kompetenzen. Als Modell für ethisches Entscheiden soll SAMBA weiterhelfen. SAMBA umfasst folgende Schritte, die im Buch ausführlich beschrieben werden:
1. See and Understand the Reality
2. Analyze the Reality from a Moral Standpoint
3. Be the Ethical Judge!
4. Act Accordingly
Obgleich "ausführlich beschrieben", stimmt das nicht für alle Teilschritte dieses Modells. Der vierte Schritt, möglicherweise der anspruchsvollste, wird vom Autor auf drei Seiten allzu kompakt abgetan.
Dafür schiebt Kirchschläger als Exkurs eine bissige, jedoch absolut zutreffende Kritik über Ethikbeiräte ein, die in vielen Fällen als willfährige Schachfiguren oder als Feigenblatt zur Vertuschung ökonomischer oder politischer Interessen dienen. Interessanterweise bleibt unerwähnt, dass sich Ethikbeiräte auch häufig als kirchliche Vorfeldorganisationen herausstellen, die die Positionen und Interessen der Kirche vertreten. Ein schmunzelndes Element tritt zutage, wenn der Theologe unter anderem betont, dass es ihn stört, dass Ethik nicht mehr ausschließlich in den Händen von Wissenschaftlern liegt. Sein Argument lautet, dass man genauso wenig in einem Publikumsrat über die Gültigkeit einer mathematischen Gleichung abstimmen würde. Dieser Standpunkt animiert zum Grinsen, da die Theologie selbst oft den Vorwurf erhält, auf Grund ihrer Abhängigkeit von den Amtskirchen keine ernstzunehmende Wissenschaft zu sein. Und damit nicht genug: Einige Leser*innen könnten sich an die wiederkehrende Szene aus der Zeichentrickserie "Die Simpsons" erinnern, in der Nelson, Mitschüler von Bart Simpson aus der Springfield Elementary School, mit erhobenem Zeigefinger ein triumphierendes "Ha, ha!" ausruft, wenn man auf der Webseite der Universität Luzern lesen kann, dass sich Peter G. Kirchschläger im April 2023 zum Präsidenten des Ethikbeirats "Smartes Luzern" wählen ließ.
Das Buch enthält eine Vielzahl bemerkenswerter Abschnitte; sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen einer Rezension jedoch sprengen. Daher soll an dieser Stelle eine persönliche und daher willkürliche Auswahl besonders lohnenswerter Kapitel genügen:
- Am sehr gut gewählten Beispiel des Frauenwahlrechts in der Schweiz, das bis 1990 noch nicht allgemein galt, erläutert der Autor anschaulich, wie methodisch fehlerhaft dagegen argumentiert wurde.
- Aus dem gymnasialen Unterricht oder auf Basis des Allgemeinwissens sind den meisten Menschen die Goldene Regel, der (davon zu unterscheidende) kategorische Imperativ, das Mitleidsgebot von Schopenhauer oder vielleicht noch der Utilitarismus bekannt. Die Welt hat sich weitergedreht und es wurden neue Ansätze für ethische Entscheidungsfindungen geboren. Kirchschläger bietet hier kompakte Zusammenfassungen und weiterführende Literaturhinweise.
- Sehr gekonnt und mit lesenswerten Argumenten hebt Kirchschläger hervor, dass ethische Entscheidungen nicht von regionalen Unterschieden abhängig gemacht werden dürfen. Trotz unterschiedlicher sozialer, politischer, historischer und religiöser Hintergründe relativiert er die Universalität der beiden wichtigsten ethischen Prinzipien – Schutz der Freiheit und Autonomie sowie Menschenwürde – nicht und warnt vor rassistischen Argumentationen.
- Der Autor erläutert philosophisch fundiert, warum Künstliche Intelligenzen in naher Zukunft nicht in der Lage sein werden, ethische Entscheidungen zu treffen. Daraus schlussfolgert er, dass solche nicht auf Maschinen ausgelagert werden sollten.
- Kirchschläger betont, dass Ethik nicht darauf abzielt, "das Gute" oder "das Richtige" im konkreten Fall zu beurteilen, sondern vielmehr darauf, wie man dazu kommt, etwas als gut oder richtig zu bewerten. Er hebt hervor, dass Ethik nicht mit Moral gleichzusetzen ist. Der Ethiker denkt über Moral nach und reflektiert sie aus der kritischen Distanz eines Wissenschaftlers, ähnlich wie ein Theaterkritiker, der Dramen beurteilt, jedoch keine erschafft.
- In der Ethik sei laut Kirchschläger kein Platz für Demokratie. Ethik als Wissenschaft könne nicht demokratisch sein. Ein demokratischer Prozess garantiere per se keine Legitimität. Es sei möglich, dass ein demokratischer Meinungsbildungsprozess auch zu ethisch schlechten oder falschen Ergebnissen führe.
- Ethische Prinzipien, Werte und Normen sollen den Menschen dienen und nicht vice versa. Das kann auch bedeuten, dass es in spezifischen Einzelfällen ethisch korrekt ist, ethische Prinzipien nicht anzuwenden. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Das Prinzip, niemals zu lügen, stößt an seine Grenzen, wenn man sich die Situation vorstellt, dass zur Nazizeit ein Jude vor Verfolgung versteckt wird und die Gestapo an der Tür klopft und fragt, ob man einen Juden beherberge. Das Beispiel ist vom Autor zwar gut gewählt, noch interessanter wäre es jedoch gewesen, wie sich der Autor zum Tyrannenmord positioniert. Wäre es ethisch gerechtfertigt gewesen, den Diktator und Massenmörder Adolf Hitler zu ermorden?
- Ein bemerkenswertes, sehr erhellendes Kapitel ist die Rolle der Menschenrechte in der Ethik. Ungeachtet dessen, dass Menschenrechte ausnahmslos allen Menschen allein kraft ihres Menschseins bedingungslos zustehen, bedarf es einer ethischen Rechtfertigung für die Universalität der Menschenrechte. Denn die Rechte anderer Menschen können die eigene Freiheit einschränken und dafür bedarf es einer Legitimität.
Kritik
Das Buch ist in der Textbuch-Reihe des Nomos Verlags erschienen und richtet sich vornehmlich an Studierende. Als Leser darf man kein sorgfältig formuliertes, umfassendes opus magnum erwarten. Für ein wissenschaftliches Standardwerk erfüllt es nicht die sprachlichen Anforderungen. Der Autor reiht über lange Passagen Zitat an Zitat, integriert exzessiv Wiederholungen mit identen Sätzen und fällt durch häufige Selbstzitate auf. Für Studierende der Ethik oder der englischen Sprache mag all dies didaktisch ratsam sein, als normaler Leser ist man manchmal irritiert.
Leise Kritik ist auch inhaltlich angebracht. Der Autor stützt sich auf Axiome und Behauptungen, ohne darauf hinzuweisen, dass die letzten Begründungen für diese fehlen. Auch versäumt es der Autor, sich mit den Bedürfnissen und Argumenten religiöser Menschen klarer und verbindlicher auseinanderzusetzen. SAMBA ist für nicht-gläubige Humanisten ein ausgezeichnetes Instrument, jedoch womöglich nicht für Menschen geeignet, die nach den Geboten und Verboten einer Gottheit leben und diese für alle Menschen als ethisch verbindlich ansehen. Für diese Menschen ist das Prinzip der Verallgemeinerung bei göttlichen Vorschriften selbstverständlich erfüllt, auch wenn sie zu schlimmen Folgen (z.B. Homophobie) führen. Hier hätte man sich deutlichere Worte gewünscht, warum die Prinzipien Menschenwürde, Freiheit und Autonomie entgegenstehende religiöse Normen verdrängen.
Für wen ist das Buch geeignet?
Für Ethikexpert*innen und Student*innen ist das Buch aufgrund der verarbeiteten Literatur eine wahre Fundgrube. Die Zusammenfassungen zu Beginn eines jeden Kapitels sind didaktisch klug und erleichtern den Zugang zur Materie. Dieses Buch stellt ungeachtet seiner Formulierungsmängel für die akademische Welt eine Bereicherung dar. Es liefert zahlreiche Impulse und wertvolle Gedanken für Menschen, die sich für ethische Entscheidungsfindungen interessieren.
Dem Rezensenten stand das Werk in einer sehr gelungenen englischsprachigen Version zur Verfügung. Im Original ist es in deutscher Sprache verfasst und unter dem Titel "Ethisches Entscheiden" publiziert worden.
Peter G. Kirchschläger, "Ethisches Entscheiden", Nomos Verlag 2023, 152 Seiten, 19 Euro. Als Taschenbuch (ISBN 978-3-7560-1317-3) oder als E-Book (ISBN 978-3-7489-1820-2).