Deutschland, deine Kinder

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Collage: F. Lorenz

(hpd) Sie sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft und sollten vor schädlichen Einwirkungen geschützt werden: unsere Kinder. Dieser Grundsatz scheint jedoch deutschen Politikern fremd, ob grün, ob schwarz, ob rot: Sie beugen sich religiösen Angriffen auf das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit unserer Kleinsten. Wir sollten umdenken, fordert Thomas Jeschner.

Im Sommer 1986 radelte Renate Künast wohl täglich zum Berliner Abgeordnetenhaus, nachdem sie ein Jahr zuvor über die Alternative Liste hineingewählt worden war. Als studierte Juristin nahm sie sich der Themenkomplexe Bürgerechte, Strafrecht und Ausländerrecht ein. Ob sie damals auch etwas von Kinderrechten gehört hat, ist nicht überliefert. An den Ampeln stehend, konnte sie aus den Autoradios wochenlang einen Hit hören. Herbert Grönemeyers Aufforderung, Kindern die Macht zu überlassen.

Anfang Januar 1986 reichte Angela Merkel ihre Dissertation mit dem wegweisenden Titel „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ am Zentralinstitut für physikalische Chemie (ZIPC) der Akademie der Wissenschaften der DDR ein. Eine schriftliche Arbeit mit dem Titel „Was ist sozialistische Lebensweise?" war Bestandteil dieser Dissertation. Noch im selben Jahr hatte die geborene Ostdeutsche das Glück, für ein paar Tage in die Bundesrepublik zu reisen. Grönemeyers Lied lief auf allen Kanälen.

Sigmar Gabriel war vielleicht zu dieser Zeit sogar ein wenig neidisch auf sie. Als Mitglied des Braunschweiger Bezirksvorstandes der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken war es für ihn ein Leichtes, in den Osten zu schauen. Er war nah an der Grenze. Vielleicht hörte er sogar Ostradio. Grönemeyers Lied lief auf jeden Fall 1986 auch dort.

Dieter Graumann begeisterte sich zu dieser Zeit für den Sport und begann sich für die Idee der Makkabi zu begeistern, dem jüdischen Turn- und Sportverband. Dem Lied „Kinder an die Macht“ ist auch er nicht entkommen.

Vielleicht hat sie alle vier Grönemeyers Lied nachhaltig geschädigt mit dieser Naivität, die es in den Hochzeiten des Kalten Krieges propagierte. Sie empfanden es vielleicht gar als Verantwortungslosigkeit, unmündigen Menschen genau diese Verantwortung von Macht zuzuschreiben. Ach, hätten sie sich da doch auch Bettina Wegners Lied „Sind so kleine Hände“ von 1978 angenommen. Heute jedenfalls zeichnen diese vier sich inmitten einer großen Schar weiterer Politiker vor allem dadurch aus, dass sie Kinder nicht vor der Macht schützen, sondern sie ausliefern. Weiterhin in bester deutscher Tradition.

Wer streitet heute für die Kinder? Wer stellt sich für sie gegen einen Sturm aus Tradition und Erwachsenentreue? Aktuell niemand aus der politischen Schar. Kinder sind in Deutschland wohl weiterhin die Verfügungsmasse von Erwachsenen. Traditionell war das schon immer so. Das römische Recht des Vaters, über das Leben des Kindes zu entscheiden (ius vitae et necis), ragt immer noch in Teilen in das Denken und Handeln der Menschen. Es verschwindet so wenig, wie die apokalyptische Denkmatrix, die von einem absoluten, numinosen Dualismus von „Gut“ und „Böse“ ausgeht. Wen wundert es da, dass genau die Propagandisten dieser Idee von der konsequenten Trennung von Körper und Geist, hinter der sich auch die Vorstellung einer uns bevorstehenden unvermeidlichen Apokalypse steckt, das Kind noch immer im Besitz der Eltern wähnen und die Rechte der Kinder nicht nur weniger gewichten, sondern wie in der jetzigen, schaurigen Debatte um die Berechtigung der Beschneidung von Jungen im Kleinkinderalter, diese mit keiner Silbe erwähnen. So als ob es die verpflichtende UN-Kinderschutzkonvention nicht gäbe. In Artikel 24 (3) heißt es darin so schön: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“ Für deutsche Politiker ist die Gesundheit des Kindes aber etwas, das den Vorstellungen der Eltern und den „Wahrheiten“ von Lobbyisten religiöser Kulte nicht schaden darf.

Kinder sind dann keine heranwachsenden Menschen mehr, sondern nur noch „zu formendes Material“.

Seit Jahren quält sich die deutsche Gesellschaft durch den Sumpf der Heimerziehung in Ost und West und den institutionalisierten Missbrauch von Abertausenden Schutzbefohlener im Namen einer höheren Ordnungsmacht. Täterorganisationen sitzen an Runden Tischen und diktieren Journalisten und den Opfern von Zwangsarbeit, Ausbeutung und sexueller Gewalt die „Wahrheit“ in den Block.

Entschädigungszahlungen bewegen sich, wie auch bei den Zahlungen an die Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkrieges ab dem Jahre 2000, in einem rein symbolischen Bereich. Hier von Entschädigung zu sprechen, verbietet sich von selbst. Die Summen sind ethisch nicht hinnehmbar, während den Schreibtischtätern auf Steuerkosten weiterhin ihre Paläste renoviert werden.

1970 versteckte der SWR für knapp ein Vierteljahrhundert einen Film über die Zustände in deutschen Jugendheimen im Giftschrank, weil die Drehbuchautorin sich in einer anderen Sache strafbar machte. „Bambule“ wurde erst 1994 gezeigt. Da war Ulrike Meinhof, die Autorin und spätere Terroristin, schon 18 Jahre tot. Ulrike Meinhof argumentierte damals im Jahr 1970, dass es besser sei, zu handeln, als nur in einem Film die Missstände aufzuzeigen und somit nur zu ästhetisieren. Dass sie zur Terroristin wurde, ist nicht nur tragisch und im Namen der Opfer, auch ein falsche, inakzeptable Konsequenz, es ist auf heute auch nicht übertragbar. Heute für die Rechte von Schutzbefohlenen aktiv und politisch einzutreten, führt nicht in den Terrorismus. Es führt in den Rechtsstaat. So viel müssten wir doch von all den sozialen und bürgerrechtlichen Bewegungen in Ost und West gelernt haben.

Warum aber reden Frau Merkel, Herr Graumann, Frau Künast und Herr Gabriel unisono immer nur davon, die ideologisierte, fest gefügte Welt der Erwachsenen über die der Kinder zu stellen? Eine Welt, die natürlich anders aussehen wird, wenn die heutigen Kinder selbst diese aktiv und als mündige Bürger gestalten werden.

Kinder werden in Deutschland in der Werbung verwurstet. Ihre Gesichter dürfen für politische Parolen erhalten. Es gibt eigene Casting-Shows für diese Altersgruppe. Geld verdienen andere daran. Kinder werden als das definiert, was ihre Eltern sind. Doch ist ein Kind von Eltern, die Mitglied der SPD sind, ebenfalls ein Sozialdemokrat? Eine Tradition kann es so begründen. Als Metzgermeister in vierter Generation hat man gemeinhin ein Interesse, den Laden von der eigenen Mischpoke weiterführen zu lassen. Doch was, wenn die Kinder morgen lernen, dass die Welt größer ist als das Geschäft des Vaters? Ein Insistieren auf die Prägekraft durch die Erziehung der Eltern verkennt hier absichtlich die Dynamiken unserer Gesellschaft. Vorurteile, und seien sie erst recht positiv und auf sich selbst bezogen, machen es uns leicht, Kinder fest zu binden. Sie so werden zu lassen, wie wir es wollen. Wie wir sind.

Um ein Gegenbeispiel aus eigener Erfahrung zu nennen: Mein Schwiegervater ist nach dem Krieg als Flüchtlingskind in einer Gartensiedlung nahe einer Großstadt gelandet. Die Geschichten seiner Kindheit sind, wie die so vieler anderer Menschen dieser Zeit, geprägt von einer permanenten Abwesenheit uniformer Männlichkeit, Macht und Tradition. Ich kenne kaum einen über 70-Jährigen, der so viel Unabhängigkeit und so viel schelmischen Stolz in sich trägt, wie diesen Mann.

Was wollen wir unseren Kindern aber wirklich bieten? Wer sollen sie werden? Eine traurige Kopie von uns selbst? Geschlagen, beschnitten? Immer noch instrumentalisiert für eigene Vorstellungen? Mit dem Wissen von heute?

Mit diesen Politikern auf jeden Fall. Apokalyptisch geprägte, dualistisch denkende Entscheider, die die Freiheit des Individuums mehr fürchten, als die vielfältige und nicht nur körperliche Gewalt, die von auf Tradition begründete Gruppen zum Zwecke der Erhaltung dieser Gruppe immer ausgeht.

Bettina Wegner - Sind so kleine Hände

Sind so kleine Hände
winz'ge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen
die zerbrechen dann.

Sind so kleine Füße
mit so kleinen Zeh'n.
Darf man nie drauf treten
könn' sie sonst nicht geh'n.

Sind so kleine Ohren
scharf, und ihr erlaubt.
Darf man nie zerbrüllen
werden davon taub.

Sind so kleine Münder
sprechen alles aus.
Darf man nie verbieten
kommt sonst nichts mehr raus.

Sind so klare Augen
die noch alles sehn.
Darf man nie verbinden
könn' sie nichts mehr sehn.

Sind so kleine Seelen
offen ganz und frei.
Darf man niemals quälen
gehn kaputt dabei.

Ist so'n kleines Rückgrat
sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen
weil es sonst zerbricht.

Grade, klare Menschen
wär'n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückgrat
hab'n wir schon zuviel.