Christopher Hitchens: Unmoralische Bräuche

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Christopher Hitchens, 2007 / Foto: wikimedia commons

(hpd) In den Beiträgen zur Frage der Genitalbeschneidung wird es stets hoch emotional, wenn religiöse Sichtweisen eingebracht werden. Der im Dezember  2011 verstorbene Christopher Hitchens, der für seine klaren Ansichten zur Religion bekannt war, hat sich auch zur Genitalverstümmelung geäußert.

Christopher Hitchens hat sich bei verschiedenen Gelegenheiten entschieden über die Zirkumzision geäußert, nicht nur in öffentlichen Disputen, wie mit Rabbi Harold Kushner (Video und Kernpassage) sondern auch in seinem 2007 veröffentlichten Buch „Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet.“ Auf den Seiten 270 bis 276 schreibt er im Kapitel „Ist Religion Kindesmisshandlung?“ dazu Folgendes:

Im Bereich der unmoralischen Bräuche gibt es wohl kaum etwas so Bizarres wie die Genitalverstümmelung bei Kindern. Sie lässt sich zudem besonders schwer mit dem teleologischen Gottesbeweis vereinbaren. Es ist doch anzunehmen, dass ein gestaltender Gott den Fortpflanzungsorganen seiner Geschöpfe besondere Aufmerksamkeit schenken würde, sind sie doch wesentlich für den Fortbestand der Spezies. Doch seit Beginn der Zeit wurden im Zuge religiöser Rituale Kinder aus der Wiege gezerrt und im Schambereich mit scharfen Steinen oder Messern traktiert. In einigen animistischen und muslimischen Gesellschaften ist das Leid der kleinen Mädchen am größten, denn ihnen werden die Schamlippen und die Klitoris beschnitten. Manchmal wird dieser Brauch bis in die Pubertät aufgeschoben und, wie bereits erwähnt, gleich eine Infibulation durchgeführt, oder die Vagina wird ganz zugenäht, wobei nur eine kleine Öffnung für Blut und Urin bleibt. Das Ziel ist klar: Der Sexualinstinkt soll abgetötet oder betäubt, die Versuchung, mit einem anderen Mann zu experimentieren als dem erwählten, geschmälert werden; dem Ehemann kommt dann das Privileg zu, die Nähte in der gefürchteten Hochzeitsnacht zu durchstoßen. Bis dahin wird dem Mädchen beigebracht, dass die monatliche Heimsuchung durch die Blutung ein Fluch und ihr Körper unrein ist. (Irgendwann hat noch jede Religion ihre Abscheu vor der Menstruation zum Ausdruck gebracht, und viele Religionen verbieten bis heute Frauen in dieser Zeit den Besuch des Gottesdienstes.)

Andere Kulturen, besonders die jüdisch-christlichen, betreiben beharrlich die Verstümmelung kleiner Jungen - kleine Mädchen können, aus welchem Grund auch immer, ohne Veränderung ihrer Genitalien Jüdinnen sein: Nach einer durchgängigen Linie sucht man vergebens in den Bündnissen, die die Menschen mit Gott geschlossen haben wollen. Für die Beschneidung von Jungen gab es ursprünglich wohl zwei Motive. Das Blut, das bei der Beschneidungszeremonie vergossen wird, ist sehr wahrscheinlich ein symbolisches Überbleibsel aus der Zeit der Tier- und Menschenopfer, die in der blutgetränkten Landschaft des Alten Testaments noch so eine große Rolle spielten. Indem sie an diesem Brauch festhielten, konnten die Eltern einen Teil ihres Säuglings stellvertretend für das ganze Kind opfern. Dem Einwand, dass Gott den menschlichen Penis doch sicher mit großer Sorgfalt geschaffen haben muss, stand das erfundene Dogma gegenüber, nach dem Adam beschnitten und nach Gottes Bilde zur Welt kam. Einigen Rabbinern zufolge war auch Mose bei der Geburt bereits beschnitten, eine Behauptung, die sie allein aus dem Umstand herleiten, dass seine Beschneidung im Pentateuch nirgends erwähnt wird.

Das zweite Motiv entsprach dem für die Beschneidung von Mädchen: den Betroffenen möglichst weitgehend die Freude am Geschlechtsverkehr zu nehmen. Maimonides formuliert das in seinem Führer der Unschlüssigen recht eindeutig. Er weist darauf hin, dass die Beschneidung nicht etwas physisch Unzureichendes perfektioniere, sondern diese Aufgabe im moralischen Bereich übernehme, indem sie die Erregbarkeit und die Lust am Geschlechtsakt herabsetze.

Das Versprechen Gottes an Abraham im 1. Buch Mose, Kapitel 17, die Beschneidung werde dazu führen, dass er auch im Alter von neunundneunzig Jahren noch eine große Nachkommenschaft zeugen werde, machte auf Maimonides offenbar keinen großen Eindruck. Abrahams Entscheidung, neben allen männlichen Haushaltsmitgliedern auch die Sklaven zu beschneiden, war ein Randphänomen, vielleicht auch dem Enthusiasmus geschuldet, denn diese Nichtjuden waren nicht Bestandteil des Bundes mit Gott. Jedenfalls beschnitt er seinen damals dreizehnjährigen Sohn Ismael. Doch während sich Ismael nur von seiner Vorhaut trennen musste, wurde sein jüngerer Bruder Isaak, der in Genesis 22 seltsamerweise als Abrahams einziger Sohn bezeichnet wird, zwar im Alter von acht Tagen beschnitten, sollte später Gott aber trotzdem vom Scheitel bis zur Sohle als Opfer dargeboten werden.

Maimonides zufolge diente die Beschneidung außerdem der Stärkung der ethnischen Solidarität. Besonders wichtig war ihm, dass die Operation am Säugling durchgeführt wurde und nicht erst ein paar Jahre später. Ältere Kinder würden die Operation vielleicht nicht mehr über sich ergehen lassen und hätten darüber hinaus größere Schmerzen als der Säugling, so Maimonides. Auch den Eltern falle es so kurz nach der Geburt leichter. Vor allem der Vater, der ja für die Beschneidung verantwortlich sei, entwickle in den ersten Lebensjahren eine immer engere Bindung zu seinem Sohn, die es ihm erschweren würde, die Operation später noch durchführen zu lassen.

Maimonides ist sich also sehr wohl dessen bewusst, dass der Eingriff, wäre er nicht von Gott angeordnet, selbst bei den frömmsten Eltern einen natürlichen Widerwillen zugunsten des Kindes auslösen würde. Doch um des »göttlichen« Gesetzes willen unterdrückt er diese Einsicht.

Seit einigen Jahren werden auch pseudosäkulare Argumente für die Beschneidung des Mannes ins Feld geführt. Der Eingriff sei hygienischer für die Männer und somit gesünder für deren Frauen, die beispielsweise seltener an Gebärmutterhalskrebs erkrankten. Die Medizin hat diese Behauptungen widerlegt beziehungsweise nachgewiesen, dass Probleme genauso gut durch eine „Lockerung“ der Vorhaut gelöst werden können. Die vollständige Beschneidung, die Gott ursprünglich als Blutpreis für das versprochene Massaker an den Kanaanitern verlangte, steht heute als das da, was sie ist: die Verstümmelung eines wehrlosen Kindes mit dem Ziel, ihm sein künftiges Sexualleben zu ruinieren. Die Kausalbeziehung zwischen religiöser Barbarei und sexueller Repression kann deutlicher nicht sein. Wer wollte ermessen, wie viele Menschen auf diese Art ins Elend gestürzt wurden, zumal seit christliche Ärzte die alte jüdische Tradition in ihren Krankenhäusern übernommen haben? Wen lässt es kalt, wenn er die langen Listen in den medizinischen Lehr- und Geschichtswerken liest, die anhand nüchterner Zahlen darlegen, wie viele männliche Säuglinge nach dem achten Tage an einer Infektion starben oder extreme und unerträgliche Funktionsstörungen und Verunstaltungen davontrugen? Auch die Statistik syphilitischer und anderer Infektionen infolge verfaulter Rabbinerzähne oder Unachtsamkeiten aufseiten der Rabbis sowie der Fälle, in denen versehentlich in die Harnröhre oder gar eine Vene eingeschnitten wurde, liest sich einfach furchtbar. Und es ist noch immer erlaubt, im New York des Jahres 2006! Ohne die Religion und ihre Arroganz würde keine anständige Gesellschaft diese primitive Amputation oder andere Eingriffe in die Genitalien ohne die volle Zustimmung der Betroffenen zulassen.

Auch die schlimmen Folgen des Masturbationstabus, das im viktorianischen England ebenfalls als Rechtfertigung für die Beschneidung herhalten musste, sind den Religionen anzulasten. Jahrzehntelang wurden junge Männer und Jugendliche mit der vermeintlich medizinischen Warnung in Angst und Schrecken versetzt, ihnen drohten Blindheit, Nervenversagen und das Abrutschen in den Wahnsinn, wenn sie sich der Selbstbefriedigung hingäben. Geistliche hielten düstere Predigten, die vor unsinnigen Behauptungen nur so strotzten - etwa dass der Samen nur begrenzt vorhanden sei -, und zwangen damit Generationen von Heranwachsenden unter ihr Joch. Rupert Baden-Powell verfasste zur Untermauerung der körperbetonten Christlichkeit seiner Pfadfinderbewegung eigens eine Abhandlung zu diesem Thema. Bis zum heutigen Tage hält sich der Wahnsinn auf islamischen Websites, die gute Ratschläge für Jugendliche bereithalten. Die Mullahs haben offenbar Samuel Tissots Die Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren aus dem 18. Jahrhundert und dergleichen mittlerweile in Verruf geratene Texte studiert, die schon die Christen vor ihnen mit so unheilvoller Wirkung praktisch umsetzten. Nicht weniger bizarr und von gleichermaßen schmutziger Fantasie durchsetzt ist die Desinformation eines Abd al-Asis bin Bas, verstorbener Großmufti von Saudi-Arabien, dessen Auslassungen gegen die Onanie auf vielen muslimischen Websites zitiert werden. Er warnte davor, das Masturbieren führe zu einer Beeinträchtigung des Verdauungssystems, einer Schwächung des Augenlichtes, einer Entzündung der Hoden, zu Muskelzittern und einer Zersetzung des Rückenmarks, aus dem das Sperma komme. Auch die »Hirndrüsen« seien betroffen, wobei der Intelligenzquotient sinke, bis der Wahnsinn einsetze. Zu guter Letzt kündigte der Mufti den Jugendlichen an, ihr Sperma werde so dünn und kraftlos, dass sie später keine Kinder würden zeugen können - eine Aussage, die Millionen gesunder Jugendlicher mit quälenden Schuldgefühlen und Ängsten belastet. Die Websites Inter-Islam und Islamic Voice kauen diesen Unsinn wider, als herrschten in der muslimischen Welt nicht schon genügend Repression und Ignoranz unter den jungen Männern, die häufig von jeglicher weiblichen Gesellschaft ferngehalten werden, im Wesentlichen lernen, ihre Mütter und Schwestern zu verachten, und sich dem lähmenden Auswendiglernen des Korans zu unterwerfen haben. Nachdem ich in Afghanistan und anderswo Produkten dieses Erziehungssystems begegnet bin, kann ich nur noch einmal betonen: Die jungen Leute leiden nicht unter dem Problem, dass sie sich Jungfrauen wünschen, sondern dass sie Jungfrauen sind. Ihre emotionale und psychische Entwicklung wird im Namen Gottes irreparabel gestutzt und die Sicherheit vieler anderer Menschen als Folge dieser Entfremdung und Deformationen bedroht. Sexuelle Unschuld, die bei jungen Leuten bezaubernd sein kann, sofern sie nicht künstlich verlängert wird, ist bei einem Erwachsenen einfach nur abstoßend und zerstörerisch.

Auch lässt sich gar nicht ermessen, welcher Schaden von schmuddeligen alten Männern und hysterischen Jungfern angerichtet wurde, die sich als geistliche Hüter unschuldiger Kinder in Waisenhäusern und Schulen aufgespielt haben. Insbesondere der römisch-katholischen Kirche kommt hier die überaus schmerzliche Aufgabe zu, den Geldwert eines Kindesmissbrauchs für einen Schadensersatzprozess zu bemessen. Milliarden von Dollar wurden den Opfern bereits zugesprochen, doch wie soll man einen Gegenwert festlegen für die Generationen von Jungen und Mädchen, die von Menschen, denen sie und ihre Eltern vertrauten, auf die abscheulichste Art an die Sexualität herangeführt wurden? Das Wort Kin-desmissbrauch ist in Wahrheit ein dümmlicher und erbärmlicher Euphemismus für die wahren Vorgänge: die systematische Vergewaltigung und Folterung von Kindern mit Wissen und Unterstützung einer Hierarchie, die sodann die schlimmsten Täter mittels einer Versetzung in einer anderen Gemeinde in Sicherheit brachte. Angesichts dessen, was in jüngster Zeit in modernen Großstädten ans Licht gekommen ist, schaudert es einen bei dem Gedanken, was wohl in den Jahrhunderten vor sich ging, als die Kirche noch über jede Kritik erhaben war. Aber was hatte man auch anderes erwartet, wenn man die Schwächsten in die Obhut von Menschen gab, die, ihrerseits Außenseiter und nicht selten homosexuell, ein scheinheiliges Zölibat schwören mussten? Und die gelehrt wurden, mit ihrem Glaubensbekenntnis gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass Kinder Auswüchse des Satans sind? Die daraus erwachsende Frustration drückte sich bisweilen in exzessiver körperlicher Züchtigung aus, die für sich genommen schon schlimm genug ist. Doch wenn, wie geschehen, die künstliche Selbstbeherrschung zusammenbricht, führt das zu einem Verhalten, das kein masturbierender, hurender Durchschnittssünder auch nur in Betracht ziehen würde, ohne dass es ihn vor sich selbst grauste. Wir haben es hier nicht mit einigen wenigen Delinquenten unter den Schäfern zu tun, sondern mit dem Ergebnis einer Ideologie, die dem Klerus die Macht zu sichern suchte, indem sie sich die Kontrolle über den Sexualinstinkt, ja über die Sexualorgane der Menschen anmaßte. Wie der Rest der Religion hat auch dieser Aspekt seinen Platz in der angstgeschüttelten Kindheit unserer Spezies.

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Auszug aus Christopher Hitchens „Der Herr ist kein Hirte“.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages. © 2007 by Karl Blessing Verlag, München.