Reportage

Wie das System zum Systemsprenger wird

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Symbolbild
Jugendlicher (Symbolbild)

Wenn Hilferufe zwar gehört werden, die nötige Hilfe aber nicht ankommt. Wenn zwei Institutionen dasselbe Ziel haben, aber nicht zusammenarbeiten. Wenn soziale Systeme nicht nur Jugendliche verlieren, die durch das Raster fallen, sondern auch überarbeitete Angestellte, die am Rand ihrer Belastungsgrenze aufgeben.

"Wenn ich noch länger hier bleiben muss, wird etwas Schlimmes passieren", warnt der 17-jährige Sammy in seinem Hilfeplangespräch. Der Jugendamtsmitarbeiter Rolf F., die Einzelfallhelferin Emma G. und die Einrichtungsleitung Gerda K. sitzen ihm mit über 20 Jahren Berufserfahrung gegenüber und suchen nach der rettenden Lösung. Doch trotz aller Bemühungen des multiprofessionellen Teams wird er einige Wochen später seine Drohung in die Tat umsetzen.

Bis die Lage eskaliert, offenbaren weitere Hilferufe wie "Ich ertrage meine Gedanken nicht mehr!" oder "Wann helft ihr mir endlich?!", nicht nur seine Verzweiflung, sondern die Machtlosigkeit der Jugendhilfe. Für viele junge Erwachsene aus prekären Lebensverhältnissen und mit besonderem Förderbedarf fehlen Plätze in Intensivwohngruppen. Härtefälle wie Sammy rutschen durch das Raster, fliegen aus allen Einrichtungen, werden hin und her gereicht bis zum fest eingebrannten Selbstverständnis: Niemand will mich. Auf der Suche nach einem sicheren Platz im Leben werden alle Systeme und alle Beziehungen bis ins Extrem herausgefordert. "Hier fühl' ich mich wohl" scheint für diese jungen Menschen eine ferne Bilderbuchphrase zu sein. Ewig suchend. Für die Jugendhilfe zu krass, für die Psychiatrie zu normal. Zwischendrin: Lost.

Sammy gehört nach interner Statistik der Kölner Inobhutnahme-Einrichtung "Navigo" zu den durchschnittlich 30 männlichen Jugendlichen, die jeden Monat im Auftrag des Jugendamtes betreut werden. Als Gewährleistungsträger sind sie verpflichtet, alle vermittelten Fälle anzunehmen, sofern freie Zimmer zur Verfügung stehen. Dennoch reizen sie regelmäßig mit zwei Überbelegungsplätzen das vorgeschriebene Limit aus. "In der Obhut eines Klappbetts ist es immer noch besser als auf der Straße", sagt die Einrichtungsleitung Gerda K. mit einer Mischung aus professioneller Distanz und herzlicher Offenheit, während sie die zwei Schränke voller Akten des laufenden Jahres öffnet. Hunderte solcher Krisen hinterlassen eine deutliche Spur im Wesen. Auf beiden Seiten.

"Wer hält mich aus? Wer bleibt an meiner Seite, trotz aller Schwierigkeiten, die ich mache?", fasst die studierte Diplom-Psychologin ihre Erfahrung mit der Zielgruppe zusammen. Die Geschichten sind so vielfältig wie die Persönlichkeiten, die das Haus niemals stillstehen lassen. Von Gewalt und Verwahrlosung über Drogenabhängigkeit und sexuellem Missbrauch im Elternhaus bis zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen – für viele Jugendliche sind Inobhutnahmestellen sichere Zuflucht, für andere eine strafende Zwangsunterbringung. Das konfliktgeschulte Team kümmert sich 24/7 in zwei Schichten um diverse Jugendliche und versucht gemäß Leistungsbeschreibung binnen zwei Wochen eine Rückführung ins Elternhaus oder eine angemessene Anschlussperspektive zu organisieren. Die Realität sieht anders aus: Manche verharren bis zu zwei Jahre hier. Perspektivlos. Ins Abseits der Gesellschaft gedrängt. Keine faire Chance, irgendwo Fuß zu fassen. Mit Volljährigkeit endet die Finanzierung durch das SGB VIII. Wenn bis dahin keine Perspektive gefunden wurde, wie beispielsweise Heimunterbringung oder Familienrückführung, werden viele ans Jobcenter übergeben oder aus Mangel an Mitwirksamkeit der Straße überlassen.

No-Touch-Politik

Denn es gibt Fälle, die sich nicht in die schablonenhafte Etikettierung der sozialen Hilfesysteme einfügen. Sammy fordert etwas, das es noch nicht gibt, von Strukturen, die sich nur sehr langsam verändern. Was dazu führt, dass das System Inobhutnahme gesprengt wird und die Polizei als letzte Instanz fast täglich unter Blaulicht anrücken muss. Manchmal ist das Gewaltmonopol des Staates das einzige, was Abhilfe schafft bei überhitzten Gemütern. Zumindest kurzfristig. Während die Soziale Arbeit mit einer "No-Touch-Politik" langfristig versucht, eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Die Ansage von der Leitung: "Wenn es zu Prügel kommt, lieber im Büro einschließen, Polizei rufen und warten, bis es vorbei ist, anstatt dazwischen zu gehen und den Helden zu spielen."

Sammy hat in der Vergangenheit noch nie einen Betreuer angegriffen. "Das ist unehrenhaft. Ich hab' Respekt vor Erwachsenen", versichert er. Aber Übergriffe auf andere Jugendliche im Haus häufen sich. Zu einer Anzeige kommt es nie, auch wenn die Opfer jederzeit die Freiheit dazu haben. Stunden später ist er wieder mit allen versöhnt und befreundet, bis das Spiel wieder von vorne losgeht. Für die Sozialarbeiter stellt dies einen ganz normalen Prozess von Jugendlichen mit gestörtem Bindungsverhalten dar. Gerade in einer Einrichtung, in der sie fast täglich mit Neuzugang konfrontiert sind, knallt es immer wieder. Reviermarkierungskämpfe, Dominanzverhalten, Platzhirschgehabe – sprachliche Anleihen aus dem Tierreich, die in der Sozialen Arbeit nichts zu suchen haben, aber eine theoretische Krücke sind für die komplexen Verhaltensmechanismen im von Krisen gezeichneten Alltag der Pädagogen.

Über Sammys familiäre Situation ist wenig bekannt. Die Eltern sind nicht erreichbar. Das Jugendamt kommt nicht durch. Wenn die Polizei ihn zur Meldeadresse fährt, sind sie entweder nicht da oder lassen ihn Minuten später kommentarlos wieder gehen. Zu wenig Beweise für eine Kindeswohlgefährdung. Zu viel Belastung für Betreuungsangebote. Sammy macht einfach sein Ding. Er passt sich an. In der Einrichtung ist er unter Jugendlichen im und außerhalb des Hauses als Dealer und Hehler bekannt. Seine Kontakte reichen sogar bis zur organisierten Kriminalität der Hells Angels, wie vergangene Gerichtsprozesse belegen.

Er weiß ganz genau: Aus einer Inobhutnahme kann ich nicht rausfliegen, solange ich U18 bin. Die Betreuer werden alles verzeihen. Das ist ihr Beruf. Und nachdem ich mir die Standpauke angehört habe, wird mir mein Taschengeld entzogen – für eine Woche. Im schlimmsten Fall bekomme ich ein TimeOut und muss für ein paar Tage in eine andere Einrichtung. Ja und?

Den Sanktionskatalog kennt er auswendig und versteht ihn als Verwaltungsakt für unsichere Pädagogen. Mit Strafen kauft man sich wieder frei, Reue ist eine Einstellungssache, Einsicht wird belohnt, egal was passiert ist und noch passieren wird.

Hauptsache das, was am verletzlichsten ist, wird bewahrt: der Selbstwert. Vor den Betreuern wedelt er mit großen Scheinen und prahlt: "Ihr Geringverdiener, macht ihr auch so viel Cash an einem Tag?" Er steht immer wieder mit augenscheinlich gestohlener Kleidung vor ihnen. Oder finanziert mit Drogengeld? Zuletzt ein Daunenmantel von Gucci im Wert von über 500 Euro. Besser gekleidet als so mancher Bankchef. Dick Parfümiert. Frischer Haarschnitt. Die absurde Spiegelbildlichkeit jugendlicher Lebenswelten am gesellschaftlichen Rand entlarvt sich hier.

Kontakt durch Konflikt

Im Rahmen des Hausrechts werden regelmäßig das Zimmer und seine Taschen kontrolliert. Nicht um eine Strafanzeige zu erwirken, sondern zum Schutz der Mitarbeiter und Jugendlichen im Haus vor Waffen und anderen verbotenen Gegenständen nach dreiseitiger Liste, die jeder beim Einzug lesen und unterschreiben muss. Das konzeptionelle Selbstverständnis der Jugendhilfe sieht davon ab, Jugendliche zu Straftätern zu machen und juristische Verfahren anzuhäufen, wo meistens schon etliche vorliegen. Drogenfunde werden bei kleinen Mengen entsorgt, bei größeren Mengen anonym der Polizei übergeben. Kellerregale horten konfiszierte Gegenstände wie ein Museum. Toleranz bis an die Grenze des Zumutbaren. Pädagogische Handlungsfähigkeit ist wichtiger als juristische Geradlinigkeit. Das Team folgt dem Leitsatz: "Kontakt durch Konflikt". Es besitzt einen anderen Auftrag als die Polizei. Diese Jugendlichen kennen Bindung und Beziehung nur durch Konflikt – dieses Muster soll durch positive Interaktion restrukturiert werden.

Wenn Sammy einen guten Tag hat, ist er offen und kommunikativ gegenüber dem Personal. Er zeigt Interesse an einem Austausch auf Augenhöhe, ohne eine zensierte Pufferzone zwischen Klient und Dienstleister, indem er Gespräche zu aktuellen Themen und darüber hinaus anregt. Er äußert kluge Beobachtungen. Er parodiert seine Mitbewohner. Er unterhält die Kollegen mit Witzen. Er setzt sich kritisch mit sich selbst und seiner Umwelt auseinander. Jeder Lehrer hätte im Unterricht sicher Freude an diesem Charakter und würde denken, dass er ziemlich reif für sein Alter ist. Sein reges Innenleben trägt er offen zur Schau und genießt jedes offene Ohr, wenn er beim gemeinsamen Kochen seine Lebensgeschichte rappt. Einsichtig. Reflektiert. Schamlos direkt. Aber je häufiger diese Gute-Laune-Phasen von Eskalation und Gewalt abgelöst werden, desto mehr realisiert das Team, dass er sich an einem Kipppunkt befindet.

Immer öfter kommt er berauscht in die Einrichtung. "Ich bin voll auf Koks", gibt er offen zu, wie ein Geständnis, wie eine Bitte, und fordert bis in die Morgenstunden die komplette Aufmerksamkeit des Nachtdienstes ein. Sie sitzen eins zu eins im Büro. Er erzählt nicht davon, was hinter ihm liegt, sondern was er alles erreichen könnte, wenn er es endlich schafft, sich am Riemen zu reißen. Das gesamte Kollegium berichtet von derartigen Lichtblicken. Aber niemand kann nachhaltig zu ihm durchdringen. Sammy hört nicht auf, seine Mitbewohner anzugreifen, stiehlt Geld, Handys und Schuhe. Selbst vor Toastern und Pfannen macht er keinen Halt. Selbst die Polizei kann wenig tun. Bis auf das, was alle tun: Reden. Eines Tages kommt Sammy auf die Sozialarbeiterin Emma G. zu. Sie ist seit zehn Jahren im Beruf, seit drei Jahren in der Einrichtung Navigo tätig und war damals bei seiner Erstaufnahme dabei.

"Ich habe Lust, Menschen zu verletzen"

Aus Leidenschaft in der Jugendhilfe. Mit einer langen Fortbildungsliste an Deeskalationstrainings und Seminaren zur Traumabewältigung. Sammy berichtet ihr über Stimmen in seinem Kopf. Von Gewaltfantasien gegenüber Menschen auf der Straße, im Haus, überall. Egal wer. "Ich habe Lust, Menschen zu verletzen." Ein Satz, den die Kollegin mit geschulter Intuition in die nächste Teamsitzung mitnimmt, getriggert vom Ausdruck in seinen Augen. Nicht die Wut ist es, die ihr in Erinnerung bleibt, sondern die Angst vor sich selbst in seiner Körpersprache. "Das war ein anderer Sammy als sonst", sagt sie.

Die Einrichtungsleitung telefoniert mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) in Köln Holweide. Das Profil: Klassischer Systemsprenger. Anzeichen für psychotisches Verhalten. Gewaltbereit. Diese Antwort fasst das Dilemma zusammen: "Wir können ihn nur aufnehmen, wenn er sich selbst dazu entscheidet. Oder wenn er selbst- oder fremdgefährdend wird. Aber solange nichts passiert, können wir nichts tun." Das Team ist frustriert, denn Sammy lehnt jedwede Angebote ab. Sein Selbstbild, sein Ansehen vor der Peer-Group lässt solche erzieherischen Maßnahmen nicht zu. Sie warten. Sind sensibilisiert für den Ernstfall. Bis die Situation von jetzt auf gleich eskaliert.

Es folgen mehrere Ereignisse, als hätte Sammy das Telefonat gehört und die Sache selbst in die Hand genommen – auf seine Art. Er überschreitet seine eigene Grenze und bedroht das Personal mit Einrichtungsgegenständen. Der Besen wird zum Schlagstock. Das Haustelefon zum Erpressungsgegenstand. Die Wanduhr zum Wurfgeschoss. Er schlägt zwei Betreuer ins Gesicht. Er spuckt. Direkte Fremdgefährdung und Erniedrigung. "Wären andere Jugendliche nicht eingeschritten, weiß ich nicht, wie weit Sammy noch gegangen wäre. Ich hatte Angst um mein Leben", berichtet Simon S. Der Betreuer im Tagdienst führt die wöchentliche Zimmerputzaktion durch und was für ihn eine Lappalie war, wurde für Sammy plötzlich zum persönlichen Angriff. Die Situation eskaliert. Zwei Wochen Krankschreibung und persönliche Supervision für Simon S. folgen. Die Einrichtung erhält als zusätzliche Unterstützung pädagogisch ungeschultes Securitypersonal zum Schutz gegen körperliche Gewalt. Dieses notwendige Symbol für das Kollegium verdeutlicht die Komplexität des Falls Sammy. Eigentlich ein Widerspruch: Die Soziale Arbeit bedient sich körperlicher Gewalt als Erziehungsmethode beziehungsweise als Schutzbarriere gegen Schutzbefohlene.

Polizei kommt. Rettungswagen kommt. Der Notarzt stellt eine Diagnose und Sammy stimmt zu, in die Offene Jugendpsychiatrie eingewiesen zu werden. Konflikt. Trigger. Hilfemaßnahme. Das Team schöpft Hoffnung.

Aber der Irrwitz ist, dass diese Diagnose nur für einen einmaligen Aufenthalt reicht. Sammy hält es in dieser engen und getakteten Struktur nicht aus und haut bereits am nächsten Morgen ab. Beziehungsweise müssen die Ärzte ihn auf sein Wort hin gehen lassen, wenn keine akuten Anzeichen für Selbst- und Fremdgefährdung vorliegen.

Sammy weiß ganz genau, wie er sich verhalten muss, um die Autorität kurzfristig von seinen Ideen zu überzeugen. Seine Drogensucht und das Bedürfnis nach Autonomie sind in diesem Moment viel stärker als das Bedürfnis nach Veränderung.

Dieses Ping-Pong zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie wird sich ab diesem Initialereignis noch einige Male wiederholen, nur mit dem Unterschied, dass die Extreme zwischen Eskalation und vermeintlicher Selbstbekenntnis weiter zunehmen. Irgendwann sitzen zwei Securitys, Tag ein, Tag aus, 24/7 wach im Büro, weil einer von ihnen während einer gewaltvollen Auseinandersetzung von der Skrupellosigkeit Sammys überwältigt wurde. Was würde der gemeine Steuerzahler über die Kostenstruktur der Sozialen Arbeit befinden, wenn er wüsste, wie viel der Staat für solche "Problemfälle" ausgibt? Gut investiertes Geld?

Der eigentliche Punkt ist aber, dass der größte Erfolg der pädagogischen Beziehungsarbeit einen Bruch erhält. Sammy traut sich nicht mehr in die Einrichtung zurückzukehren. Die Bindung bricht. Das Vertrauen gegenüber den Mitarbeitern ist verloren. Ist er zu stolz? Angst vor Gesichtsverlust? Das Team kann nur in der ganzen Paradoxie der gegenseitigen Erwartungen rätseln, was in ihm vorgeht. Zuletzt berichten Jugendliche, dass er sich mit einer blutigen Hand durch den naheliegenden Park schnorrte. Laut eigener Erzählung bei der Flucht vor der Polizei an einem Zaun hängen geblieben. Er wollte Rache üben. Am System. Wochen vergehen und selbst im Klüngel der Jugendlichen verliert sich seine Spur.

Hat die Jugendhilfe versagt?

Dann ruft die Mordkommission eines gewöhnlichen Nachmittags bei der Leitung an und bittet mit distanzierter Stimme um eine Stellungnahme bezüglich seines Aufenthalts. Auszüge aus Dokumentationen werden gefordert. Die Einrichtung muss sich rechtfertigen.

Die Nachricht geht sogar durch die Medien und wird in lokalen Zeitungen aufgegriffen: "Kölner Jugendlicher, 17 Jahre, ersticht Obdachlosen im Streit um Drogen." Ein paar Straßen weiter wird er von der Polizei gefasst. Sammy landet in Untersuchungshaft und seitdem hört die Einrichtung nie wieder von ihm. Jetzt ist die Justiz dran. Hat die Jugendhilfe versagt?

In einer übergreifenden Teamsitzung wird sich ausgetauscht über den Fall Sammy: Was kann man daraus lernen und was kann man besser machen? Fachberatung, Regionalleitung, Geschäftsführung. Alle sind dabei. Sie sind sich sicher: "Wir waren für ihn da. Er wusste, er konnte immer zu uns kommen. Aus unserer Sicht haben wir alles Nötige getan. Wir sind nicht schuld", schließt die Regionalleitung Monika R. die Diskussion.

Das Gesetz fordert, dass man niemanden gegen seinen Willen festhalten darf. "Wir sind da, um zu helfen, aber sie müssen sich helfen lassen", wird als neuer Leitsatz auf einem Plakat ins Büro gehängt.

Dennoch fühlt es sich für viele Kollegen wie ein Versagen an. Sammy hat oft genug nach Hilfe gefragt. Er hat einige Versuche unternommen, sich selbst zu helfen. Er hat es kommen sehen, aber am Ende nicht die Selbstkompetenz aufbringen und nicht die Hilfsangebote wahrnehmen können, um seinem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Alles, was er dazu benötigt hätte, war vorhanden. Aber er scheiterte.

Neben einer lehrenden Erinnerung und einer statistischen Zahl bleibt für die involvierten Mitarbeiter des Navigo die Forderung an den Staat, mehr Personal zu stellen, vielfältige Hilfe an vielfältige Bedarfe anzupassen, damit Jugendliche wie Sammy nicht durch das System rattern. Hier kann man sich die provokative Frage stellen: Sprengen Jugendliche das System oder sprengt das System die Jugendlichen?!

Aber wichtiger ist: Warum schaffen es die staatlichen Instanzen zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe, zwischen Polizei und Justiz, trotz zahlloser Beispiele nicht, ein übergreifendes Netzwerk zu bilden und die Gesetzgebung an veränderte Realitäten einer neuen Generation anzupassen? Hier geht es nicht um Schuld und schon gar nicht um Kosten. Hier geht es um die streitbare Frage: Wie kann eine moderne Gesellschaft verantworten, dass Jugendliche durch prekäre Lebensverhältnisse in diese Schicksale gedrängt und unzählige junge, gut ausgebildete Fachkräfte an der Front als humane Ressource verheizt werden? Das fragt sich Emma G. und schreibt in einem Nachtdienst ihre Kündigung, nachdem sie das Klappbett für den Bereitschaftsdienst in einem spärlich ausgestatteten Büro, Tür an Tür mit den Jugendlichen, mit alten, verwaschenen Laken bezieht. Wäre das WLAN in dem Haus nicht so schlecht, hätte sie ihre Kündigung mit Gewissheit abgeschickt. Einige Wochen nach ihrem Fall Sammy liegt sie im immer wachen Haus Navigo im Bereitschaftsbett und versucht, durch Jobangebote zu scrollen, um ihrer Berufung schönere Berufsaussichten zu verleihen. Weniger emotionale Belastung. Raus aus dem Schichtsystem. Es folgen noch weitere Nächte dieser Art und weitere Krisen mit anderen Jugendlichen, bis sie sich letztendlich dafür entscheidet, die Stelle zu wechseln. Mit Sammys Worten wie ein Echo widerhallend in ihrem Kopf: "Wenn ich noch länger hier bleiben muss, wird etwas Schlimmes passieren – mit mir."

Der geschilderte Fall ist echt, die Personen wurden jedoch anonymisiert und ihre Zitate paraphrasiert wiedergegeben.

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