Medienresonanz zum zehnjährigen Jubiläum der "Beschneidungserlaubnis" in Deutschland

Schwarzer Jahrestag für Kinderrechte

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Der 12. Dezember 2012 war ein kalter Tag. Wenige Stunden vor der Abstimmung im Bundestag über den sogenannten "Beschneidungsparagraphen" 1631d BGB stand eine sehr überschaubare Gruppe engagierter Menschen in dicken Wintermänteln und mit frierenden Füßen vor dem Brandenburger Tor in Berlin und richtete eine wenig beachtete Kundgebung aus. Der damalige Linken-Abgeordnete Raju Sharma nahm eine dicke Mappe mit 15.000 Unterschriften für einen alternativen Gesetzentwurf entgegen und wenig später wurde mit großer Mehrheit ein Gesetz beschlossen, wie es einem hochentwickelten demokratischen Rechtssystem sehr schlecht zu Gesicht steht. Die mediale Resonanz über den zehnten Jahrestag dieser Entscheidung fiel ernüchternd aus.

Die Debatte im Vorfeld des Gesestzgebungsverfahrens infolge des Kölner Beschneidungsurteils war kurz und heftig verlaufen und das Einzige, worauf man dabei sorgfältig geachtet hatte, war eine möglichst rasche Vorbereitung in der Sommerpause – über die Köpfe einer Gesellschaft hinweg, die das Gesetz eindeutig mehrheitlich ablehnte. Betroffene wurden in den entscheidenden Gremien nie gehört, kritische Stimmen mangels echter Argumente stets mit Rassismus-Vorwürfen diskreditiert.

Die geschaffene Realität ist seither eine, in der Eltern nach Lust und Laune das Genital ihres männlichen Kindes von medizinischem Fachpersonal operativ gestalten lassen können; wenn es noch jünger als sechs Monate ist, können sogar von Religionsgesellschaften dazu vorgesehene Personen dies tun, wenn sie dafür besonders ausgebildet sind. Das Gesetz lässt offen, wo die Grenze bezüglich der Eingriffstiefe gezogen wird. Da es juristisch auch keine Definition einer Religionsgesellschaft gibt und auch nirgendwo festgehalten ist, was die Ausbildung einer von dieser undefinierbaren Größe vorgesehenen Person zu beinhalten hat, ist hier so ziemlich alles ziemlich schwammig.

Tatsächlich ist das Gesetz in nur einem einzigen Aspekt klar und deutlich: Wer auch immer was auch immer an einer intakten Vorhaut medizinisch nicht indiziert abschneidet – das Kind, das an der Vorhaut hängt, muss männlich sein.

Was in nächster Zukunft passieren könnte, wenn die Kinderrechte tatsächlich ins Grundgesetz kommen oder das geplante Selbstbestimmungsgesetz dafür sorgt, dass eine erwachsene Person rückwirkend ihre geschlechtliche Einordnung ändern lässt, bleibt also allemal ein faszinierendes Gedankenspiel.

Das Gesetz hat in den vergangenen zehn Jahren viel Leid angerichtet. Ganz direkt betroffen sind als männlich gelesene Neugeborene beziehungsweise Kleinkinder. Nicht nur, weil man ihnen den körperlichen Schaden seither zufügen kann, ohne wenigstens in eine juristische Grauzone zu geraten. Sondern auch, weil die späteren Erwachsenen nun nicht gegen diese Körperverletzung werden klagen können.

All jene Elternteile, die auf traditionelle und offensichtlich schädliche Bräuche verzichten wollen, werden darüber hinaus geschwächt, denn was ausdrücklich erlaubt ist, kann ja wohl nicht schlecht sein. Und nicht zuletzt spielt die Erlaubnis der männlichen Genitalverstümmelung den Befürwortenden der weiblichen ganz unverhohlen in die Karten.

Dass die Debatte nach zehn Jahren nicht vollends aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, ist vermutlich wenigen ausdauernden Einzelpersonen, pflichtbewussten Fachleuten, engagierten Journalist*innen und all jenen Menschenrechtsverbänden zu verdanken, die sich nicht auf das inflationäre Bearbeiten von Gratismut-Themen beschränken.

"Kinderrechte sind Menschenrechte"

Der Verein MOGiS e.V. – eine Stimme für Betroffene erklärt in einem kurzen Video klar und leicht verständlich, was es mit 1631d BGB konkret auf sich hat und warum dieses Gesetz heute mehr denn je wie ein juristischer Fremdkörper in unserem Rechtssystem wirkt.

In einer gemeinsamen Pressemitteilung des BVKJ (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) und MOGiS e.V. – eine Stimme für Betroffene bezieht unter anderem die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau e.V. klar Stellung gegen das Gesetz: Sonja Störmer, Referentin im Referat Weibliche Genitalverstümmelung: "Terre des Femmes ist für die Abschaffung jeder Form von Male Genital Mutilation (MGM). Unsere Null-Toleranz-Haltung gegen Female Genitale Mutilation (FGM) gilt für MGM gleichermaßen. Wir sind überzeugt davon, dass wir Kinderschutz nur erreichen können, wenn wir – alle – konsequent und ausnahmslos dazu beitragen, Kinder zu schützen. Kinderrechte sind Menschenrechte und damit universell gültig, unantastbar – für alle Kinder weltweit."

Mit einem Offenen Brief an die Bundesregierung fordern die Verfasser – allesamt hochkarätige Personen aus Wissenschaft und Forschung sowie Vertreter von Betroffenen-Organisationen – den Gesetzgeber mit klaren und eindringlichen Worten auf, endlich gegen das bestehende Unrecht vorzugehen: "Schaffen Sie § 1631d BGB ab! Kehren wir in Deutschland zurück zum uneingeschränkten und in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und eine gewaltfreie Erziehung – und zwar unabhängig vom Geschlecht."

Ernüchternde Medienresonanz

Die Resonanz des Jahrestages in den Medien ist ernüchternd. Meldungen zu diesem traurigen Jubiläum müssen mit der Lupe gesucht werden, die Pressemitteilung wurde nirgendwo, nicht einmal in einem kleinen Absatz, aufgegriffen, der Offene Brief – trotz einer bemerkenswerten Liste renommierter Erstunterzeichnender – von keiner Zeitung außer dem hpd publiziert.

Die Apotheken-Umschau brachte digital ein lesenswertes Interview mit Professor Maximilian Stehr (Kinderurologe und -chirurg), das den Fokus auf medizinische Fehl-Indikationen und die bis heute viel zu hohe "Beschneidungs"-Rate mit vorgeblich medizinischer Notwendigkeit legt.

Unter dem Titel "Medizinische Beschneidung von Jungen – muss die Vorhaut wirklich weg?" lief im SWR ein ausführlicher und informativer Beitrag von Insa Onken, der gut nachvollziehbar offenlegt, wie sich Fehlinformationen im medizinischen Bereich etabliert haben und wie dringend hier ein Umdenken erforderlich ist. Auch die unmittelbaren sexuellen Folgen für die Betroffenen werden eingehend beleuchtet. Unter anderem kommt der Schriftsteller Clemens Setz zu Wort, der von seiner persönlichen Betroffenheit berichtet. Durch den Vorhaut-Verlust im Erwachsenen-Alter ist es ihm möglich, das Vorher und Nachher bezüglich seines sexuellen Empfindens authentisch zu schildern.

Cosmoradio würdigte den Tag in der 18-Uhr-Stunde mit einem kurzen Beitrag. Es wurden Stimmen erwachsener muslimischer Männer gegenübergestellt, die die Vorhaut-Entfernung selbst allesamt als ein äußerst schmerzhaftes Ereignis beschrieben, heute aber ihre Situation unterschiedlich empfinden. Reporter Murat Koyuncu kommentierte das Gesetz mit klaren Worten: "Alle Schutzmechanismen, die der Staat vorher gehabt hätte, Kinder vor einem Zwangseingriff gegen ihren Willen zu schützen, sind mit dem Gesetz außer Kraft gesetzt. Betroffene haben schlussendlich das Recht auf diesen Körperteil, auf die erogenste Zone, per Gesetz verloren. Auch spätere Klagemöglichkeiten sind durch dieses Gesetz erschwert. Alle Konsequenzen trägt der Betroffene ganz allein."

Der YouTube-Kanal Argumentorik: Menschen Überzeugen mit Wlad ging mit einem Interview "!!TABUTHEMA!! Beschneidung von Jungen: Pro und Contra einer alten Tradition" mit Prof. Matthias Franz online. Neben der Vermittlung von Basis-Informationen zur "Jungenbeschneidung" aus psychoanalytischer Sicht wies Prof. Franz auf ein wesentliches Detail zum Gesetzgebungsverfahren hin: Auf die Aussage, dass die Religionsgemeinschaften mit dem Absatz 2 ("Beschneidung" in den ersten sechs Lebensmonaten auch durch einen Nicht-Arzt) gezeigt haben, wie gut sie im Dialog verhandelt hätten, stellte er richtig, dass der Dialog im Sommer 2012 eigentlich ein Monolog der Lobby von Religionsgemeinschaften war.

All diesen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie mit großer Sachlichkeit vorgehen, was die Darstellung der Historie dieses Gesetzes betrifft. Dass es einer Überarbeitung und Evaluation, einer Wiederaufnahme der Debatte überdringend bedürfte, wird nachhaltig außer Frage gestellt. Dass die Politik sich in nächster Zeit damit befassen wird, scheint dennoch in weiter Ferne zu sein. Warum also weitermachen?

Wenn wir heute in Geschichtsbüchern darüber lesen, wie zäh beispielsweise die Einführung des Frauenwahlrechts vonstatten ging, könnten wir stundenlang den Kopf schütteln über jahrzehntelange ganz offensichtlich in sich nicht logische und zudem hochgradig menschenverachtende Argumentationsweisen. Eines Tages wird eine neue Generation hoffentlich den Kopf schütteln können darüber, wie lange es gedauert hat, die genitale Selbstbestimmung von Kindern in einem so fortschrittlichen demokratischen Land gesetzlich sicherzustellen. Die Aufgabe der heutigen Gesellschaft muss es sein, diesen Tag vorzubereiten – mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Kräften. Mit dem Ziel, dass er so schnell wie möglich kommen wird. Die genannten Beiträge bilden wesentliche Bausteine auf diesem Weg.

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