Wir müssen über eine Triage für Ungeimpfte sprechen

Angesichts massiv steigender Corona-Infektionszahlen und politischer Untätigkeit bei der Einleitung effektiver Maßnahmen zur Eindämmung der vierten Welle ist klar, dass wir schon bald mehr intensivpflichtige Patienten als Intensivbetten haben werden. Bislang gilt es als Tabu, offen über eine mögliche Triage für Ungeimpfte zu sprechen. Doch das ist falsch, findet die stellvertretende hpd-Chefredakteurin Daniela Wakonigg.

Dass die kommenden Wochen und Monate verdammt ungemütlich werden, steht außer Frage. Die Überlastung der Krankenhäuser ist aufgrund der aktuell hohen Neuinfiziertenzahlen bereits jetzt unvermeidlich, selbst wenn zeitnah die gesellschaftliche Notbremse in Form von drastischen Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen würden – was derzeit nicht in Aussicht ist. Diese Erkenntnis stammt nicht aus einer Glaskugel, sondern ist durch das bisherige Wissen um die Dynamik der Corona-Pandemie sowie einfache Mathematik zu gewinnen: Ein kleiner Prozentsatz der geimpften Infizierten sowie ein wesentlich größerer Prozentsatz der ungeimpften Infizierten erkrankt so stark an Covid-19, dass die Betroffenen hospitalisiert werden müssen und im schlimmsten Fall der Intensivpflege bedürfen. Da bei einem schweren Verlauf Hospitalisierung und Intensivpflege etwa eine bis zwei Wochen nach Beginn einer Covid-19-Erkrankung notwendig werden, lässt sich bereits jetzt abschätzen, wie die Bettenbelegung in der zweiten Novemberhälfte aussehen wird. Stellt man dem die Anzahl der verfügbaren Intensivbetten gegenüber, die nach der Corona-Burnout-bedingten Kündigungswelle des Pflegepersonals überhaupt noch nutzbar sind, so ist bereits jetzt klar, dass die Zahl der Erkrankten, die in den kommenden Wochen und Monaten ein Intensivbett benötigen werden, die Zahl der verfügbaren Intensivbetten übersteigen wird.

Die unausweichliche Folge heißt: Triage. Es muss also eine Entscheidung darüber getroffen werden, wer in Zeiten zu knapper Ressourcen diese wenigen Ressourcen erhält und wer nicht. Im Fall von zu wenigen Intensivbetten bedeutet das eine Entscheidung darüber, welcher Kranke eine Chance zum Weiterleben erhält und welcher nicht. In jedem Einzelfall eine schwierige Entscheidung, die Medizinerinnen und Mediziner unter enormen psychischen Druck setzt und mitunter sogar traumatisiert.

Es ist ein nachvollziehbarer Impuls, dass sich die Wut darüber, dass solche Entscheidungen überhaupt notwendig sind, gegen jene richtet, denen wir diesen Schlamassel zu verdanken haben: Jenen Menschen, die sich ohne Vorliegen medizinischer Gründe bewusst gegen eine Corona-Impfung entschieden haben. Ja natürlich, auch Geimpfte können sich noch infizieren und die Corona-Infektion weitertragen. Doch zum einen zeigen die unterschiedlichen Inzidenzen in der Gruppe der Geimpften und der der Ungeimpften, dass Ungeimpfte sich deutlich häufiger infizieren und das Virus damit in einem wesentlich stärken Maß weiterverbreiten. Und zum anderen haben Ungeimpfte im Durchschnitt häufiger einen schweren Verlauf der Covid-19-Erkrankung, wodurch sie einen erheblichen Anteil an der Überlastung der Krankenhäuser haben.

Ohne jede Frage würde die vierte Welle der Corona-Pandemie, in der wir uns gegenwärtig befinden, wesentlich schwächer verlaufen und der nun drohende Mangel an Intensivbetten wäre vermieden worden, wenn sich alle, die sich impfen lassen können, auch tatsächlich gegen das Coronavirus hätten impfen lassen. Darf das ein Argument sein, um Ungeimpften eine intensivmedizinische Behandlung grundsätzlich zu verweigern? Natürlich nicht, denn auch die schlimmsten Egoisten und die größten Deppen sind nun mal Teil der Solidargemeinschaft, auf der unsere Gesellschaft fußt. Doch darf es auch kein Argument dafür sein, Ungeimpfte in einer Triage-Situation gegenüber Geimpften zu benachteiligen?

Das Prinzip der Triage (französisch für "Auswahl, sortieren, sichten") stammt ursprünglich aus der Militärmedizin und kommt heute vorwiegend in Katastrophensituationen zum Einsatz, wenn viele Verletzte gleichzeitig anfallen, aber nur begrenzte medizinische Mittel zur Verfügung stehen. Die Hauptregel der Triage lautet: Wenn die Ressourcen knapp sind und nicht für alle reichen, werden die vorhandenen Ressourcen vorrangig für jene aufgewendet, die die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Ziel ist es, die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit zu minimieren.

Nach welchen Kriterien allerdings genau zu triagieren ist, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Was Medizinern die Sache nicht leichter macht, da sie sich weder an verbindlichen rechtlichen noch an verbindlich festgelegten ethischen Regeln orientieren können. In Deutschland gibt es für die Triage medizinethische Empfehlungen von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die im Hinblick auf die Corona-Pandemie im vergangenen Jahr aktualisiert wurden.

In Bezug auf die Corona-Pandemie wird von der DIVI darauf hingewiesen, dass die Überlegungen zur Priorisierung immer alle Patienten einschließen müssen, die einer Intensivbehandlung bedürfen, egal ob es sich um Covid-19-Fälle oder andere medizinische Notfälle handelt – und auch unabhängig davon, ob sich jemand bereits auf der Intensivstation befindet oder erst dort aufgenommen werden müsste. Der Deutsche Ethikrat sieht diesen Punkt anders und tendiert zu einem Vorrang jener, die bereits intensivmedizinisch versorgt werden, gegenüber jenen, die aktuell ein Intensivbett benötigen.

De facto entstünde – und entsteht möglicherweise bereits jetzt – durch die Empfehlung des Deutschen Ethikrats eine Bevorzugung von (mehrheitlich ungeimpften) Covid-19-Patienten, die ja oft über viele Wochen Intensivpflege benötigen, gegenüber Herzinfarktpatienten oder Unfallopfern, die die Intensivpflege ebenso dringend, jedoch wesentlich kürzer zum Überleben benötigen würden. Auch die Tatsache, dass Krankenhäuser nun zunehmend wieder geplante Operationen absagen müssen – unter anderem, weil keine freien Intensivbetten für die Nachversorgung zur Verfügung stehen – stellt eine medizinische Bevorzugung von (mehrheitlich ungeimpften) Covid-19-Intensivpatienten dar. Denn die abgesagten Operationen hätten manchem Menschen möglicherweise ein längeres Leben beschert, wenn sie denn zeitnah erfolgt wären.

Momentan sieht es also so aus, dass die (mehrheitlich ungeimpften) Covid-19-Intensivpatienten in der Summe gegenüber allen anderen, die eine medizinische Intensivpflege benötigen, eher bevorzugt werden. Und das, obwohl die gewollt Ungeimpften die Dramatik der Situation überhaupt erst hervorgerufen haben, und obwohl sie ihre eigene medizinische Notlage durch die Nicht-Impfung billigend in Kauf genommen haben.

Wäre es also nicht wirklich einmal an der Zeit, über den Abbau dieser fragwürdigen Bevorzugung zu diskutieren? Allein diese Frage dürfte bei Gegnern einer Berücksichtigung des Impfstatus bei der Triage den Puls erhöhen. Sie empfinden dies als Diskriminierung. In der Tat ist man bei der Triage stets bemüht, nicht-medizinische Faktoren aus der Bewertung auszuklammern, um eine möglichst diskriminierungsfreie Entscheidung treffen zu können. So heißt es beispielsweise in der DIVI-Empfehlung, dass eine Priorisierung allein "aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen" nicht zulässig sei.

Doch ist der Impfstatus einer Person tatsächlich als "soziales Merkmal" zu verstehen oder ist er nicht viel eher ein medizinischer Faktor, der legitimerweise in eine Triage-Entscheidung einbezogen werden kann? Denn da Ungeimpfte häufig einen deutlich schwereren Covid-19-Verlauf haben als Geimpfte ist ihre Überlebenswahrscheinlichkeit entsprechend geringer. Dies könnte und sollte deshalb in vollem Einklang mit medizinethischen Kriterien für die Triage in Priorisierungsentscheidungen einfließen. Nicht als einziges und nicht als Haupt-Kriterium, jedoch als eines, das es zu berücksichtigen gilt.

Natürlich kann man diesbezüglich anderer Meinung sein. Doch egal, wie man dazu stehen mag, es darf kein Tabu mehr sein, den Impfstatus als Priorisierungsmerkmal bei der Triage wenigstens zu diskutieren. Denn für die Medizinerinnen und Mediziner auf den Intensivstationen wird diese Frage in den kommenden Wochen und Monaten keine theoretische Diskussion mehr sein, kein philosophisches Gedankenspiel beim gepflegten Rotwein, ob man einen entgleisenden Zug in eine Gruppe Kinder oder in einen alten Mann umleiten würde, wenn man es denn könnte. Die Triage wird für medizinisches Personal schon bald eine bittere, alltägliche Realität im Kriegsgebiet der Corona-Stationen sein.

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