Verunglimpfungen statt Argumente?

demo.jpg

Demonstration auf dem Bebelplatz / Fotos: Frank Nicolai

BERLIN. (hpd) In seinem Kommentar setzt sich Walter Otte mit religiös motivierter Knabenbeschneidung und dem vorwiegend von orthodoxen Rabbinern und Funktionären erhobenen Vorwurf des Antisemitismus von Beschneidungsgegnern auseinander. Dabei verwahrt er sich gegen unsägliche Vergleiche.

Sonntag, 9. September, 11.00 Uhr, Berlin, Bebelplatz (der Platz, auf dem 1933 die Bücherverbrennung der Nazis stattfand): etwa 200 bis 300 Personen haben sich versammelt, um die Legalisierung religiös begründeter Knabenbeschneidungen zu fordern. Der bundesweite Aufruf von vielen jüdischen Organisationen, zweier muslimischer Einrichtungen, der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und des Berliner Missionswerks  hat keine große Resonanz gefunden. An der Sache vorbei sind dann die Kommentare in nahezu sämtlichen  Medien: Auf dem Bebelplatz in Berlin-Mitte – so unisono die Berichte - habe sich ein Bild geboten, dass in dieser Form selten zu sehen sei: „Muslime und Juden demonstrieren gemeinsam für eine Sache.“ Entgegen diesen Meldungen waren Muslime vor Ort tatsächlich jedoch kaum auszumachen. Neben dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Berlin, Kenan Polat, waren etwa ein Dutzend von ihnen zur Kundgebung erschienen.

Gemeinsamkeit von Juden und Muslimen?

Gemeinsames Demonstrieren sieht anders aus. Gemeinsamkeiten scheint es allenfalls auf der Ebene einiger Spitzenfunktionäre zu geben während in der Realität das uninteressierte Nebeneinander dominiert und auch das Gegeneinander bisweilen auf menschenverachtende Weise hervortritt, wie der brutale Überfall einiger muslimischer Jugendlicher auf den jüdischen Rabbiner Daniel Alter und sein kleine Tochter in Berlin-Friedenau vor kurzem deutlich gezeigt hat; dem liegt ein aggressiver Antisemitismus zugrunde, den die „Jüdische Allgemeine“ in der Woche vor der Kundgebung mit Umfragen unter muslimischen Jugendlichen in Berlin eindrucksvoll dokumentiert hat. Ein Antisemitismus, der demjenigen deutscher Rechtsradikaler und Neo-Nazis in nichts nachsteht. Hierzu sind von Funktionären muslimischer Organisationen lediglich Lippenbekenntnisse zu hören - ohne irgendwelche Konsequenzen für den gewalttätigen Antisemitismus in der eigenen Community, der vor Gewalttaten und selbst vor der Bedrohung von Kindern nicht zurückschreckt.

Aber gegen diesen real vorhandenen und lebensgefährlichen Antisemitismus machten die Redner auf der Kundgebung keine Front. Stattdessen meinten mehrere Redner, Antisemitismus an anderer Stelle ausmachen zu können: bei denjenigen, die sich in Deutschland für Kinderrechte und gegen Beschneidungen an Minderjährigen aussprechen.

Rabbiner Ehrenberg: Verschiebung der Beschneidung auf das Alter von 18 Jahren schlimmer als die physische Vernichtung in Konzentrationslagern

Vor allem der Berliner Rabbiner Ehrenberg, der in den Diskussionen der letzten Wochen  gezeigt hat, dass ihn keinerlei Sachargumente interessieren und der die Totalverweigerung gegenüber dem Rechtsstaat predigt. tat sich hierbei hervor: er erwähnte unter Bezugnahme auf seinen kürzlichen Besuch im KZ Auschwitz das Leiden der etwa eineinhalb Millionen Babys und Kinder, die in den Mordfabriken der Nazis ihren Müttern entrissen, gequält und ermordet wurden – dies sei die physische Vernichtung, so Ehrenberg. Was jetzt allerdings in Deutschland gefordert werde: die Knaben sollten mit 18 Jahren selbst entscheiden, ob sie sich beschneiden lassen oder nicht – so Ehrenberg weiter – das sei aus religiöser Sicht aber noch schlimmer als die physische Vernichtung.

Sind diejenigen, die sich für Kinderechte einsetzen somit schlimmer als die SS-Mannschaften in den Vernichtungslagern?

Wer in einer solchen Weise das unsägliche Grauen der Vernichtungslager und das unendliche, kaum mit Worten auszudrückende Leiden der dort ermordeten Menschen, darunter der eineinhalb Millionen Kinder, bagatellisiert und zur Begründung seiner religiösen Auffassungen relativiert, kann nicht verlangen, als eine moralische Autorität in der Beschneidungsangelegenheit respektiert zu werden. Ist ein Aufschub der Beschneidung bis zu einem Alter, in dem der Betroffene selbst nach Abwägung entscheiden kann, nach Rabbiner Ehrenberg schlimmer als die physische Vernichtung im KZ – so kann, was die handelnden Personen angeht, in der „Logik“ von Rabbiner Ehrenberg wohl kein anderer Schluss gezogen werden als dieser: wer für die Kinderrechte in der Beschneidungsangelegenheit eintritt , handelt schlimmer als die SS-Männer in den Konzentrationslagern, schlimmer als Eichmann, schlimmer als Himmler!

Rabbiner Ehrenberg bleibt mit seinen Ausführungen im Allgemeinen. Wovon aber spricht er tatsächlich, wenn er von dem Leiden der jüdischen Babys und Kinder in den Vernichtungslagern spricht? Zwei Alltagsvorgänge aus deutschen Konzentrationslagern seien erwähnt: „Ganz kleine Kinder oder Neugeborene wurden meistens gleich getötet, da man sie nicht für Arbeitseinsätze gebrauchen konnte. KZ-Aufseher taten dies oft auf sehr grausame Art und Weise. Eine Frau gebar ihr Kind, ich wickelte es in Kleidungsstücke und legte es neben der Mutter auf den Boden, dann brachte ich der Mutter aus einem anderen Waggon ein Lebensmittelpaket. Baretzki kam mit dem Stock auf mich zu und schlug mich und die Frau. 'Was spielst du mit dem Dreck' schrie er mich an. Das Kind fiel auf den Boden, und er trat es zehn bis fünfzehn Meter mit dem Fuß fort wie einen Fußball." (Simon Gotland Paris. Aussage im Auschwitz-Prozess). Und: „Es war 1944, dass es zu solchen Szenen gekommen ist unter Oberscharführer Moll. Er nahm das Kind von der Mutter weg, hat es weggetragen, was ich gesehen habe im Krematorium 4, wo es zwei große Gruben gegeben hat. Er hat die Kinder hineingeworfen in das kochende Fett von diesen Leuten" (Filip Müller, arbeitete im Sonderkommando in Birkenau).*

Nun, jetzt weiß man, wie Rabbiner Ehrenberg der Öffentlichkeit mitgeteilt hat, die SS-Männer Baretzki und Moll haben „nur“ physisch vernichtet; die schlimmeren Verbrecher aber sind im heutigen Deutschland diejenigen, die die Geltung  der allgemeinen Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung auch für muslimische und jüdische Knaben  durchsetzen und sie selbst mit 14, 16 oder 18 Jahren entscheiden lassen wollen.

Diese Relativierung des Holocaust durch einen jüdischen Rabbiner wurde von den Medien in den Berichten über die Kundgebung übrigens totgeschwiegen.

Zunehmend Vorwurf des Antisemitismus

Die Entwicklung zeichnete sich vor allem seit Ende August immer deutlicher  ab: Immer häufiger wurde von jüdischen Funktionären und Leitartiklern den Beschneidungsgegnern jegliches redliche Motiv abgesprochen. Gleich in mehreren Artikeln in der „Jüdischen Allgemeinen“ in der ersten Septemberwoche wurde von einer „Kampagne gegen Juden und Muslime“ die erfüllt sei von „Projektionen, Lügen, Umkehr von Fakten und Respektlosigkeit“ geschrieben, niemand – so hieß es dort - sollte eine Nation, die Millionen jüdischer Babys und Kinder ermordet habe, dafür loben, dass sie „Krokodilstränen“ über das Schicksal eines armen kleinen Buben vergieße, der in der Ausübung einer alten Tradition nach der Geburt beschnitten werde. Jeder „gute Mensch“ müsse Deutschland verdammen, denn was den tatsächlichen Kern der Bemühungen ausmache, Beschneidungen zu verbieten, sei „nichts anderes als der gute alte Antisemitismus“, und es wird agitiert gegen „pseudowissenschaftliche Eiferer, die lügen, wenn sie von sich behaupten, dass Wohl der Kinder liege ihnen am Herzen.“

Auch die vormalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, titulierte in einem  Interview Anfang September die Beschneidungsgegner als „Besserwisser“ die „schwadronieren“. Im Interview ist die Rede von dem „Eifer, mit dem Selbstberufene gefühls- und gedankenlos unsere religiösen Fundamenten in den Dreck ziehen“, von Menschen die „offenbar keine Ahnung haben“, von  „selbsternannten Retter(n) der Säkularität und des deutschen Rechtssystems“ und von derzeit auftauchenden „vermeintliche(n) Experten“, die die Juden in Deutschland „ungefragt mit ihren medizinischen,  juristischen, psychologischen oder moralischen Assoziationen“ „behelligen“. 

Sture Verweigerungshaltung

All diese Ausführungen lassen  eines erkennen: es fehlt jegliche Bereitschaft, die Argumente derjenigen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, die fordern, dass eine religiöse Beschneidung erst dann vorgenommen werden soll, wenn der verständige junge Mann dies ausdrücklich selbst bejaht. Das aber lehnen Rabbiner Ehrenberg und die anderen Befürworter von Knabenbeschneidungen ausdrücklich  ab, fürchten sie doch – wie mittlerweile einigen Stellungnahme aus jüdischen und auch muslimischen Kreisen zu entnehmen war – dass sich 18jährige junge Männer nicht mehr beschneiden lassen werden. Für Rabbiner Ehrenberg  und seine Mitstreiter zählt nur ihr  Religionsgebot und das Ritual – das Selbstbestimmungsrecht eines jüdischen Mannes hat für sie keinerlei Bedeutung.

Eine andere jüdische Stimme

Immerhin gibt aber auch andere jüdische Äußerungen, wie etwa die von Dr. Tuvia Ben-Chorin, dem liberalen Rabbiner der Berliner jüdischen Gemeinde: Er sprach ebenfalls auf der Kundgebung und trug engagiert seine Auffassung vor – zugunsten weiterer religiös begründeter Knabenbeschneidungen, selbstverständlich. Aber er kam ohne Verunglimpfungen der Beschneidungsgegner aus, denen er keinen Antisemitismus unterstellte und denen er keine ehrabschneidenden Unterstellungen machte. Allerdings berichtete die Presse auch kaum über seine Rede, vermutlich, weil er keine polemischen Äußerungen von sich gab, wie der orthodoxe Rabbiner Ehrenberg. Niemand hatte von Dr. Ben-Chorin den Eindruck, dass er sich fremd fühlt in Deutschland, wie manch andere dieser Tage haben von sich verbreiten lassen. Er selbst hat derartiges nicht geäußert und auch nicht, dass er die Absicht habe, Deutschland zu verlassen. Dr. Ben-Chorin nahm Stellung zum Thema „Religion und Moderne“ und wog Gesichtspunkte ab; er weiß den Wert einer offenen Debatte in einer pluralistischen Gesellschaft zu schätzen und hält diese Debatte in einer Demokratie für unverzichtbar.

Seine Frage angesichts der umfangreichen Stellungnahmen von Ärzten, Psychologen, Traumaforschern: „Ist Medizin jetzt die neue Religion?“ Diese Fragestellung trifft durchaus den Kern der Debatte: Geht es um überkommene religiöse Rituale oder geht es um den lebendigen Menschen in der Moderne? Und da sind die Erkenntnisse der genannten Berufsgruppen von großer Bedeutung, denn sie liefern uns allen das notwendige Wissen über Folgen der Vorhautamputation im Kindesalter in gesundheitlicher, psychischer und sexueller Hinsicht, ein Wissen, über das frühere Generationen nicht verfügten, das aber heute nicht verdrängt und nicht (mehr) ignoriert werden darf. Medizin ist gewiss nicht die neue Religion sondern Wissen, das auf Tatsachen beruht.

Innerjüdische Diskussion wird verschwiegen

Die Verknüpfung von Medizin und Religion verweist auf die große jahrzehntedauernde  innerjüdische Debatte des 19. Jahrhunderts, in der vor allem jüdische Ärzte Einwändungen gegen die Knabenbeschneidung vorgebracht haben. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren es jüdische Reformgruppen, jüdische Ärzte und Rabbiner, die in heftige Diskussionen eintraten, in denen es um religiöse aber auch um gesundheitliche Aspekte der Vorhautbeschneidung bei Knaben ging. In den Debatten jüdischer Ärzte und Reformrabbiner (die bis zur Forderung der Abschaffung der Knabenbeschneidung gingen) bezeichnete der Spitalarzt Gidion Brecher den Vorgang als eine „blutige Operation“. Der Dessauer Arzt Adolf Arnhold legte umfangreich argumentierend dar, warum die Beschneidung als „verbindliches Ritual der Juden“ überholt sei. Er ging von religiösen Überlegungen aus, bezeichnete die biblischen Beschneidungsanordnungen als lediglich für die „unbefangenen Gläubigen“ von Bedeutung und kam zum Ergebnis, dass der materielle Akt der Beschneidung zur „überflüssigen und nutzlosen Schale des geistig entblößten Kerns“ geworden sei. Philipp Wolferts aus Lemförde und der Hamburger Arzt Moritz Gustav Salomon traten mit medizinischen Argumenten hervor, wobei Salomon zum Ergebnis, kam, dass die Beschneidung im 19. Jahrhundert überhaupt keine religiöse sondern lediglich eine politische Bedeutung habe. **

Geht man somit  genauer in die (deutsche) Geschichte zurück, so zeigt sich, dass die Problematik der Knabenbeschneidung in jüdischen Kreisen sehr unterschiedlich diskutiert und bewertet wurde. Waren diese Juden, die gegen Knabenbeschneidungen argumentierten, sämtlichst gefühls- und gedankenlose schwadronierende Eiferer, die gelogen haben und die keine Ahnung hatten, waren sie, was den Kern ihrer Bemühungen anging, Antisemiten? Warum werden die innerjüdischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts von den interessierten jüdischen Funktionären verschwiegen? Soll niemand erfahren, dass es überhaupt diese Diskussionen gab, damit umso ungehemmter der Antisemitismusvorwurf erhoben werden kann?

Keine Aufweichung des Kinderschutzes in Deutschland

Deutschland hat in den vergangen Jahrzehnten in seiner Kinderpolitik einen weiten Weg zurückgelegt: einen guten Weg. Kinder sind nicht mehr bloße Besitztümer der ElternKinder sind als eigenständige rechtlich geschützte Wesen anerkannt. Sie genießen rechtlichen Schutz vor Eingriffen in ihre körperliche und psychische Integrität durch Züchtigungen. Vom biblischen Gebot der Züchtigung hat sich die moderne Gesellschaft verabschiedet. Gewalt gegen Kinder anzuwenden ist verboten. Es muss heute bei sämtlichen Entscheidungen der Eltern das Wohl des Kindes berücksichtigt werden.

Zur rechtlichen Situation von Vorhautamputationen bei Knaben ist bereits viel geschrieben worden; hier nur soviel:  Die Menschenrechte der Knaben auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung stehen höher als die Elternrechte. Elternrechte sind immer nur treuhänderische Rechte, für Kinder im Sinne des Kindeswohls zu handeln. Sie legitimieren Eltern keinesfalls zur irreversiblen Entfernung eines gesunden und funktionsfähigen Körperteils ihres Sohnes. Eine Entscheidung hierüber dürfen nur die Betroffenen selbst treffen.

Zwar gibt in puncto Kinderrechte noch viel zu tun – ein Zurück jedoch darf es nicht geben, auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines „rechtspolitischen Notstandes“ (so Prof. Dr. Merkel im Deutschen Ethikrat): Die deutsche Geschichte, das Leiden der Kinder in Auschwitz und andernorts in Nazi-Deutschland, vermögen ein Zurück hinter erreichte Standards des Kinderschutzes in Deutschland nicht zu legitimieren. Mit dem Mord an den jüdischen Kindern die Einschränkung des Schutzes von Kindern zu legitimieren, das darf man den Kindern – sowohl den ermordeten als auch den heute lebenden - nicht antun. Jüdische und muslimische Knaben müssen denselben Grundrechtsschutz genießen wie alle anderen Knaben.

Ein letztes noch:  In der Ausgabe des Spiegel vom 10.09.2012 wird der ehemalige israelische Oberrabbiner Meir Lau, der als Junge das KZ Buchenwald überlebte, mit den Worten zitiert: „Es ist erstaunlich zu sehen, dass die Deutschen die Sensibilität gegenüber dem Weinen eines Babys entdecken. Ich habe diese Erfahrung in meiner Kindheit nicht gemacht.“  Eine Frage, Herr Oberrabbiner Meir Lau: Ist das, was Sie mit ihrer Äußerung zum Ausdruck bringen, denn keine gute Entwicklung in Deutschland?

Walter Otte
 

Anmerkungen:
* Zitate nach „Kinder im KZ – Tatsachenberichte“ von Charlotte Taraschewski.
** Sämtliche Hinweise und Zitate entstammen dem Buch: Judentum und Aufklärung - Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, herausgegeben von Dr. Arno Herzog u.a., Verlag Vandenhoeck und Ruprecht