Flüchtlinge

Italien wirft privaten Seenotrettern vor, mit Schleppern zu kooperieren

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Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer
Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer

Italien will die Arbeit privater Helfer auf dem Mittelmeer strenger regulieren. Am Mittwoch haben die Behörden ein Schiff der deutschen Organisation "Jugend Rettet" beschlagnahmt. Die Regierung in Rom will, dass die Seenotretter einen Verhaltenskodex unterschreiben. Doch die Helfer weigern sich. Der Kodex kriminalisiere ihre Arbeit, sagen mehrere von ihnen.

Vor einem halben Jahr kippte die Stimmung, sagt Pauline Schmidt. Sie arbeitet für den Verein "Jugend Rettet", der vor der libyschen Küste ein Schiff unterhält und Flüchtlinge aus dem Meer fischt. Bisher wurde über diese Arbeit positiv berichtet, die jungen Retter wurden sogar für ihr Engagement ausgezeichnet.

Ende vergangenen Jahres veröffentlichte ein niederländischer Thinktank aber einen ziemlich kritischen Artikel über Seenotretter im Mittelmeer. Titel: "Auf frischer Tat ertappt". Inhalt: die vermeintlich kriminellen Machenschaften von Nichtregierungsorganisationen (NGO) auf hoher See. "Seither heißt es, wir würden mit Menschenschmugglern zusammenarbeiten", sagt Schmidt.

Über die Arbeit der privaten Seenotretter ist inzwischen eine Debatte entbrannt, in der sich auch die Angst vieler EU-Politiker vor einer neuen Flüchtlingswelle widerspiegelt. Zuletzt äußerte sich der deutsche Innenminister Thomas de Maizière. Sein italienischer Kollege Marco Minniti habe ihm gesagt, "dass die Schiffe in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand ihre Positionslichter einschalten, um den Rettungsschiffen schon mal ein Ziel vorzugeben". "Das löst kein Vertrauen aus", sagte de Maizière.

Was ist dran an diesen Vorwürfen? Und was soll ein Kodex regeln, den Initiativen wie "Jugend Rettet" nun unterzeichnen sollen?

Was ist bisher passiert?

Anfang diesen Jahres kritisierte der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, die Arbeit privater Hilfsorganisationen im Mittelmeer. Die Retter seien, so Leggeri, zumindest indirekt Schleppern behilflich. Im März stellte ein italienischer Blogger ein Video mit dem Titel "Die Wahrheit über Migranten" ins Internet, das bei Facebook 90.000 Mal geteilt wurde. Es soll zeigen, dass die privaten Rettungsschiffe die Flüchtlinge unmittelbar hinter der libyschen Küste abholen. Ähnlich deutlich wurde auch ein Staatsanwalt aus Catania. Schlepper und Helfer telefonierten miteinander, behauptete er, und leitete Ermittlungen ein.

Daraufhin mussten die NGOs vor dem italienischen Senat aussagen. Beweise für die Vorwürfe wurden bisher allerdings nicht vorgebracht. Trotzdem war die Debatte danach nicht zu Ende. Im Gegenteil.

Am Mittwoch beschlagnahmten die italienischen Behörden das Schiff von "Jugend Rettet", die "Iuventa". Diesmal ist es die Staatsanwaltschaft in Trapani, die die Vorwürfe gegen die privaten Seenotretter erhebt. Man habe die Kommunikation von "Jugend rettet" abgehört, heißt es, und der Verdacht einer Kooperation mit Schlepperbanden habe sich erhärtet. Das berichtet die italienische Zeitung La Repubblica. Dass die Ermittlungen damit zusammenhängen, dass "Jugend Rettet" den Verhaltenskodex bisher nicht unterschrieben hat, weisen die Behörden zurück. Die vorerst letzten Verhandlungen liefen am Montag ergebnislos zu Ende.

Seit vergangener Woche verhandelt die Regierung in Rom mit den NGOs über diesen Verhaltenskodex, der ihre Arbeit auf hoher See strenger regeln soll. Einige Initiativen haben bereits unterschrieben, andere, wie "Jugend Rettet", "Sea-Watch", "Ärzte ohne Grenzen" oder "Sea-Eye" verweigern bisher die Unterschrift. Und sie fragen sich, ob es Behauptungen wie die des niederländischen Thinktanks waren, die jetzt dazu führen, dass ihre Arbeit genau kontrolliert wird.  

Was wird den privaten Seenotrettern konkret vorgeworfen?

Im Netz kursieren zahlreiche Artikel dazu. Mal heißt es dort, die NGOs telefonieren mit Schleppern. Mal sollen sie ihnen Lichtzeichen geben, um zu signalisieren, wo die Rettungsschiffe genau stehen. Mal lautet der Vorwurf, dass sie das Ortungssignal (AIS) abschalten, damit niemand nachverfolgen könne, dass sie die Flüchtlinge direkt vor der libyschen Küste abholen.

Zwölf Seemeilen, 22 Kilometer vor der libyschen Küste verläuft die international anerkannte Grenze, die die Helfer nicht überschreiten dürfen. Genau das soll aber mehrfach passiert sein, so steht es jedenfalls in vielen Artikeln. Von "Taxifahrten" über das Mittelmeer für Geflüchtete ist die Rede.

Was ist an den Vorwürfen dran?

Es ist schwierig, das abschließend zu beurteilen, zumal nicht klar ist, welche Beweise der sizilianischen Staatsanwaltschaft konkret vorliegen. Willi Wittig ist assoziierter Professor an der Hochschule Bremen, Experte für Nautik und Seeverkehr – und Kapitän. Er hält zumindest einige dieser Vorwürfe nicht für glaubwürdig. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die NGO-Schiffe im großen Stil ihr AIS abschalten", sagt Wittig. Der Grund: Es lasse sich nachvollziehen, wann jemand das Signal abschalte, "so dumm ist niemand."

Mitte Juli veröffentlichte die ZEIT eine große Datenrecherche über private Seenotretter auf dem Mittelmeer. Zwei Wochen lang werteten die Journalisten die Positionsdaten der NGO-Schiffe aus. Mit dem Ergebnis: Die privaten Seenotretter halten sich an die Richtlinien.

Aber wie sieht es mit dem Vorwurf, den Schleppern Leuchtsignale zu geben, aus? Auch das mag Seefahrtsexperte Wittig nicht recht glauben. Vorausgesetzt, die NGO-Schiffe bleiben in internationalen Gewässer, also mindestens zwölf Meilen vor der libyschen Küste. "Die stärksten Scheinwerfer", sagt Wittig, "leuchten vielleicht zehn Meilen weit. Und selbst dort ist das Licht nur noch schwach zu erkennen."

Die NGOs verweisen zudem auf die internationalen Kollisionsverhütungsregeln, kurz KVR. Die besagen, dass Schiffe nachts und bei beschränkter Sicht durch Lichter sichtbar zu machen sind. Zur Seenotrettung wäre die Nutzung von Leuchten und Kommunikationsmitteln auch erlaubt. Rechtswidrig wäre es aber, wenn keine Seenotlage vorläge, und lediglich der Zusammenarbeit mit Schmugglern dienen würde. Zu diesem Fazit kommt ein entsprechendes Arbeitspapier des Bundestags. Und genau das wirft jetzt die sizilianische Staatsanwaltschaft den Retter vor.

Steigen mehr Geflüchtete in Boote, weil sie von den Rettungsschiffen im Mittelmeer wissen?

Forscher der Universität Oxford haben sich mit der Frage eingehend beschäftigt. Ihr Ergebnis: Mehr Seenotretter heißt nicht mehr Geflüchtete. Genau wie weniger Seenotretter nicht heißt, dass weniger Flüchtlinge die Überfahrt wagen. Es sterben dann lediglich mehr.

Vergleicht man die Orte, wo Geflüchtete im Mittelmeer aufgelesen wurden, dann rücken die Retter von Jahr zu Jahr näher an die libysche Küste, das ergab eine Datenauswertung der New York Times. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Um gegen Schleusernetzwerke vorzugehen, wurden die bisherigen Holzboote, die für die Überfahrten  genutzt wurden, verbrannt. Inzwischen schicken die Schlepper die Geflüchteten auf billigen Schlauchbooten nach Europa. Der Sprit reicht oft nur wenige Kilometer. Wir müssen deshalb näher ran an die Küste, sagen die Hilfsorganisationen. Aber gerade das würde den Schleppern die Arbeit erleichtern, sagen die Behörden.

Nachdem 2013 vor Lampedusa mehr als 360 Flüchtlinge ertrunken waren, rief Italien den Marineeinsatz "Mare Nostrum" ins Leben. 150.000 Flüchtlinge wurden in einem Jahr aus dem Meer gerettet. Bereits damals wurde darüber diskutiert, ob erst die Rettungsaktion mehr Flüchtlinge in die Boote locke. Mare Nostrum wurde eingestellt und durch die Frontex-Operation Triton und die EU-Militäroperation Sophia abgelöst. Beide haben aber eher das Ziel, Schleusern das Handwerk zu legen. Die EU hat damals ihre humanitäre Hilfe im Mittelmeer reduziert und damit erst die privaten Retter auf den Plan gerufen. Laut Frontex werden inzwischen 40 Prozent der Flüchtlinge von NGO-Schiffen gerettet.

Was steht genau im Kodex drin?

Der sechsseitige "Code of Conduct", den die privaten Retter jetzt unterzeichnen sollen, fordert unter anderem von den NGOs, nicht in libysche Gewässer zu fahren, nicht ihr AIS-Signal oder LRIT-Signal abzuschalten und nicht mit Schmugglern zu kommunizieren. Daran halten wir uns sowieso schon,  erklären zumindest die drei deutschen Organisationen "Sea-Eye", "Sea-Watch" und "Jugend Rettet" mit denen Correctiv gesprochen hat. Nur in Ausnahmefällen und auf Geheiß der Koordinierungsstelle für Seenotrettung in Rom, dem MRCC, fahre man in libysche Gewässer. Zudem sollen sich die NGOs einverstanden erklären, zumindest zeitweilig, italienische Polizisten an Bord zu lassen. Darüber hinaus sollen die Rettungsschiffe Geflüchtete, die sie an Bord gelassen haben, nicht mehr an andere Schiffe abgeben.

Warum ist der Kodex für die NGOs so problematisch?

Für die NGOs geht es um ihre Akzeptanz – und ihre Existenz. Denn sollten sie den Kodex in seiner derzeitigen Fassung unterzeichnen, könnte das das Aus für kleine Rettungsschiffe wie die "Iuventa" von "Jugend Rettet" bedeuten. Derzeit leisten die Vereinsmitglieder eine Erstversorgung. Mit Trinkwasser. Mit Rettungswesten. Mit einer ärztlichen Versorgung. Und warten dann auf größere Schiffe, die die Geflüchteten mit nach Italien nehmen. Sollte der Kodex kommen, wäre diese Übergabe der Flüchtlinge an andere Schiffe nicht mehr möglich.

Warum ist der Kodex für Italien so wichtig?

Das Land fühlt sich in der Flüchtlingsfrage allein gelassen, noch immer trägt es die Hauptlast und noch immer ist die Verteilung der Flüchtlinge in der EU ungeklärt. Seit Januar kamen 85.183 Flüchtlinge und Migranten über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien. Die Regierungspartei "Partito Democratico" steht unter Druck. Sie liegt in aktuellen Umfragen gleichauf mit der Fünf-Sterne-Bewegung des Ex-Komikers Beppe Grillo, die auf einen Anti-Europa- und Anti-Ausländer-Kurs setzt. Viele, auch die NGOs werten den Kodex, als Hilferuf. Auch das deutsche Innenministerium unterstützt den Kodex. Es gehe darum, transparente Regeln und Standards für die Hilfe auf dem Mittelmeer zu etablieren, wie eine Sprecherin auf Anfrage von Correctiv mitteilt.

Wir müssen retten, sagen die NGOs – stimmt das?

Ja. Unter anderem schreibt Artikel 98 des Internationalen Seerechtsübereinkommen vor, dass, wer in Not ist, gerettet werden muss. Es spielt dabei keine Rolle, ob die betreffende Person sich absichtlich oder nicht absichtlich in eine entsprechende Situation gebracht hat. Daran halten sich auch private Handelsschiffe, die Frontex-Operation Triton und die EU-Militärmission Sophia. Die deutschen Marineeinheiten, die an Sophia beteiligt sind, retteten dieses Jahr bisher 2.100 Geflüchtete auf dem Meer.

Wie geht es weiter? Kommt jetzt der "Türkei-Deal" mit Libyen?

Ja, aber so wie es im Moment aussieht nur zwischen Italien und Libyen. Dem hat am Mittwoch das italienische Parlament zugestimmt. Italien wird künftig Militärschiffe in libysche Gewässer schicken. Und Flüchtlinge von dort direkt wieder zurück an die libysche Küste bringen. 46 Millionen Euro hat die EU für die Operation zugesagt.

Offen bleibt, ob das gegen das Völkerrecht verstoßen könnte. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung (das sogenannte refoulement-Verbot) untersagt, jemanden in ein Land zurückzuschicken, in dem ihm Folter droht. Mit Blick auf Libyen spricht das Auswärtige Amt laut Tagesschau von "allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen" und "KZ-ähnlichen Verhältnisse(n)" in Flüchtlingslagern. Laut dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestags "wäre eine Rückführung Geretteter durch deutsche Staatsschiffe derzeit ausgeschlossen". 2011 rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits die Zustände in griechischen Auffanglagern. Letztlich könnte sich die Debatte also in Gerichtssälen entscheiden.


Update:

Laut dem italienischen Innenministerium wird wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt. Es seien Begegnungen und Verhalten auf dem Meer dokumentiert, das auf Kontakte mit Schleppern hindeute. Konkret gehe es vorerst um drei Vorfälle - am 10. September 2016, am 18. Juni 2017 und am 26. Juni 2017. Hier soll die Crew der Iuventa angeblich Flüchtlinge von Schleppern entgegengenommen haben, die sich nicht in Seenot befanden. Mögliche weitere Vorfälle schließt Staatsanwalt Ambrogio Cartosio derzeit nicht aus. Laut Cartosio konnten noch keine einzelnen Tatverdächtigen der Iuventa ermittelt werden, deshalb läuft das Verfahren im Moment gegen unbekannt. Hinweise auf koordinierte Absprachen mit Schleppern gebe es derzeit nicht. "Das", sagt Cartosio, "entspräche der reinen Phantasie." "Jugend Rettet" will während der laufenden Ermittlungen keine Stellungnahme dazu beziehen.

Laut dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestags ist der Begriff der Seenot weder völkervertraglich noch gewohnheitsrechtlich definiert. Generell wird jedoch von Seenot ausgegangen, wenn die begründete Annahme besteht, dass ein Schiff und die auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen.  Hierzu gehören etwa eine Manövrierunfähigkeit des Schiffes, ein Mangel an Bordrettungsmitteln, eine die Gesundheit der Passagiere oder die Sicherheit des Schiffes gefährdende Überbelegung oder eine mangelnde Versorgung der Passagiere mit Nahrung, Trinkwasser und notwendigen Medikamenten.