BERLIN. Das Statistische Bundesamt verheißt eine Lebenserwartung ohne Obergrenze.
Es wäre ja auch schrecklich, wenn Ämter das Ende bestimmten dürften. Älterwerden ist schön und geschieht automatisch. Darunter leiden müssen, fällt schwer und damit umzugehen, ist keineswegs einfach.
Das unwiderrufliche Lebensende bringt vorher häufig Angst vor Krankheit, Schmerzen und Leid, nimmt die Gesundheit und setzt Beschränkungen. Die Folge davon: Eine erhöhte Lebenserwartung führt zu einer enorm steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen.
Bundesweit gibt es heute etwa zwei Millionen Pflegefälle, in Berlin 90.000; überall ist der Trend zunehmend. Mit dieser Tatsache befindet sich Deutschland nicht allein, aber in einem besonderen Notstand, der die Frage der Pflegeversicherung erneut politisch aufwirft – 2 % mehr? Auch die Presse wie der Berliner Tagesspiegel schrieb nicht nur über einen "Fall für die Pflege".
In der Pflegeversicherung gilt der Grundsatz des „Vorrangs der häuslichen Pflege“. Die Möglichkeit jedoch, Pflegefälle in der Familie zu Hause zu betreuen sinkt aufgrund der Zersplitterung von Familien und wegen der Dominanz von Single-Haushalten (darunter viele altersbedingte) gravierend – Ergebnis auch der zunehmenden Mobilität einer modernen Gesellschaft. Die Jungen werden immer weniger und die Wenigen haben keine Zeit, kein Geld und keine Lust, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Im Gegenteil, „Pflege“ wird nahezu tabuisiert, Gespräche über Sterben und Tod sind weitaus häufiger.
Wohin also mit den Urgroßeltern, der Mutter, dem Vater, dem Onkel oder der Tante? Sind Pflegeheime die Alternative? Gibt es dort die wichtige wie richtige medizinische, psychosoziale und lebenspraktische Betreuung? Nicht allein und nicht nur dort. Neben nahezu 100.000 Pfleger/-innen aus Osteuropa, die in Deutschland legal, halb legal oder auch illegal arbeiten, sich bei zu pflegenden Alten regelrecht einmieten, gibt es zahlreiche Vereine und Verbände, die häusliche Krankenpflege und hauswirtschaftliche Versorgung, betreutes Wohnen, Pflegeseminare für Angehörige und Pflegeplätze anbieten. Denn auch ältere und gebrechliche Menschen haben ein Recht auf eigenes Wohnen statt Verwahrung bei fremden Leuten und auf ein selbst bestimmtes Leben, statt Dahinvegetierens.
Deutschland tut sich besonders schwer. Irgendwie hat sich die Kulturvorstellung in die Köpfe eingenistet: ab mit den Alten ins Heim. In den USA, in Neuseeland, Dänemark oder Schweden stehen Menschen und Einrichtungen dem Thema Pflege nicht so bestürzt oder gar hilflos gegenüber. Hier können bedürftige Menschen viel leichter selbständig in gesicherten Verhältnissen leben und wohnen. Ihr eigener Wille sowie ihre Integrität werden stärker respektiert als hierzulande – so wird berichtet. Für diesen Zweck stehen soziale Dienstleistungen, Tagesbetreuung oder auch besondere Wohnformen für Dienstleistung und Pflege in Servicehäusern oder Gruppenwohnungen, so genannte Community based living-Modelle, in den Gemeinden zur Verfügung.
Seit kurzer Zeit gibt es nun im Internet einen bundesweiten „Aufruf für ein Leben behinderter und älterer Menschen in der Gemeinde“, der von der Behindertenbeauftragten der SPD-Bundestagsfraktion, Silvia Schmidt, initiiert wurde. Unter dem Motto „Daheim statt Heim“ fordern die Initiatoren ein würdevolles Leben im gewohnten Umfeld.
Diese Initiative unterstützt auch der „Humanistische Verband Deutschlands (HVD)“. Sein Inhalt entspricht ganz und gar der z.B. im HVD Berlin seit acht Jahren propagierten Losung: „ambulant vor stationär“, so der Bundesverband in seiner gestrigen Presseerklärung.
„Der HVD kritisiert in diesem Zusammenhang besonders das Verwaltungshandeln gegen diese sozialkulturell wichtige und humanistische Zielstellung. In Kostenvergleichen zwischen beiden Angeboten entscheiden die Zuständigen oft zu Gunsten stationärer Einrichtungen (vor allem bei Schwerst-Mehrfach-Behinderten bzw. kranken Menschen).
Die Reform der Pflegeversicherung zielt ebenfalls auf eine Stärkung der häuslichen Betreuung durch Gleichstellung des häuslichen wie des institutionellen Pflegesatzes ab. Der HVD ist auch hier dafür, obwohl er darin zugleich demografische und arbeitsmarktpolitische Hintergründe erkennt, die er als Ethik leitende Motive nicht primär setzt.
Der HVD ist allerdings zugleich gegen eine grundsätzliche Verteufelung des Heimes. Er tritt hier ein für eine selbst bestimmte und bedürfnisgerechte Betreuungs-, Pflege- und Wohnform, passend für die verschiedenen Zielgruppen. Manchmal bietet ein Heimplatz als einziges Angebot genau diese, leider zurzeit noch oft die einzige bezahlbare Möglichkeit.
In ihrer Not und auf der Suche nach der geeigneten Betreuung für ihre schwerstkranken, oft dementen Angehörigen greifen Familien vermehrt auf ausländische Pflegekräfte zurück, die bei den betroffenen Menschen einwohnen und für 1.100.- € bei weitestgehender Aufgabe eigener Selbstbestimmung (7-Tage-Woche und unbezahltem Urlaub) für ein weitestgehend selbst bestimmtes Leben der Kranken sorgen. Der HVD setzt sich hier für eine beiderseits menschenwürdige Lösung und ortsübliche Bezahlung der Pflegekräfte ein.
Eine gute und bewährte Alternative ist die Betreuung und Pflege in ambulanten Wohngemeinschaften. Hier hat der HVD in seinen Praxisfeldern bereits seit vielen Jahren positive Erfahrungen sammeln können.
Der Anstoß von ,Daheim statt Heim’ – das persönliche Budget – ist ein guter Ansatz. Bei Demenzerkrankten, Komapatienten u.a. setzt es allerdings auch wieder entsprechende Betreuung durch verantwortliche, loyale, unabhängige Menschen voraus.“
Möglichkeiten der Umsetzung der Initiative sind bereits vorhanden – Besonders freie Träger, wie der HVD in Berlin, bieten eine Vielzahl von Gesundheits- und Sozialprojekten wie „Rund ums Alter – Koordinierungsstelle für ambulante Rehabilitation“, „Mobilitätshilfedienst“, „Seniorentelefon“, „Selbsthilfe Kontakt- und Beratungsstellen“ oder „V.I.S.I.T.E. Besuchs- und Hospizdienst“ ... Hier können sich Betroffene und Angehörige informieren und werden jederzeit gut beraten.
Informationsmöglichkeiten „Rund ums Alter“ bieten ebenfalls die Berliner Senatsverwaltung und das Bundesgesundheitsministerium.
Der HVD versteht seine Erklärung zu „Daheim statt Heim“ auch als Aufforderung nach innen, in den Verband hinein, und nach außen, Unterstützung suchend. Die öffentliche Hand entledigt sich immer mehr ihrer direkten öffentlichen Angebote. Sie werden privatisiert. Damit verringern sich zwar nicht die Hilfe-Angebote, doch wer bietet sich an, subsidiär diese Angebote zu übernehmen und zu „erfinden“? Es sind v.a. kirchliche oder – nach Gründung des „Koordinierungsrates“ realistischerweise demnächst zu erwarten – muslimische Betreuungsofferten. Religiöses dominiert in vielen Regionen. Wer das ändern möchte, muss schon selbst tätig werden ... bei den ganz Alten und den ganz Jungen (Stichwort Kinderkrippen). Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – das ist praktischer Humanismus.
GG