Rezension

Was hält uns jung?

jung_alt.jpg

Nach mehrjähriger Pause haben Rainer Rosenzweig und Helmut Fink 2018 unter neuen Rahmenbedingungen wieder ein Symposium zur "Conditio humana" im Lichte der Neurowissenschaften veranstaltet – diesmal mit dem Schwerpunkt "Alter". Der vorliegende Band gewährt einen umfassenden Einblick in die dort gehaltenen Vorträge, die ein breites Spektrum zum Thema abdecken, von der Gehirnforschung über die Entwicklungspsychologie bis zur Philosophie.

Mit einem treffenden Bonmot von Hugo von Hofmannsthal beginnt gleich der erste Aufsatz: "Alt werden ist immer noch die einzige Möglichkeit lange zu leben." (S. 15) Die darin versteckte Haltung zwischen rationaler Einsicht in humorvoller Akzeptanz von und Suche nach Auswegen aus den verschiedensten menschlichen Fährnissen, die in diesem Zusammenhang auftreten (können), durchzieht den ganzen Band.

Der Biologe und Neurowissenschaftler Martin Korte präsentiert im Anschluss an obiges Zitat die neuesten Einsichten der Gehirnforschung zum Altern. Obwohl er mit der eher erschreckenden Aussicht auf die Zunahme der Alzheimererkrankung in Zukunft beginnt – geschuldet der höheren Lebenserwartung, stellt er im zweiten Teil seines Aufsatzes unter der Überschrift "Altern ist keine Krankheit" viele Möglichkeiten vor, wie man durch Aktivität in verschiedenen Bereichen diese Entwicklungsstufe gestalten kann und nicht nur erleiden muss.

Welche Voraussetzungen unser Gehirn hat, damit sportliche, musische oder soziale Aktivitäten zur Verlangsamung von Alterungsprozessen beitragen können, dazu stellt im nächsten Aufsatz Eva-Maria Albers Ergebnisse aus ihrem Fachgebiet vor. Sie erläutert, wie die Zellkommunikation im Gehirn abläuft und welche Zellbausteine elektrisch aktive Neuronen sozusagen als "Schutztruppe" aktivieren, um "ihre Zellstrukturen gesund und fit zu halten" (S. 31). Obwohl dies sicher der fachspezifischste Beitrag ist, kann man dem Gedankengang gut folgen – und auch er endet mit der Aufforderung: "Bleiben wir aktiv!" (S. 38)

Cover

Sabine Müller und Merlin Bittlinger sind beide in den Naturwissenschaften und der Philosophie zu Hause und untersuchen hier eine medizinethische Frage, nämlich ob die Neurochirurgie eine geeignete Behandlungsmethode von Alzheimer biete. Dabei legen sie ihren Focus auf die Tiefe Hirnstimulation, die zur Behandlung von Parkinson erfolgreich eingesetzt wird, bei verschiedenen psychiatrischen Befunden aber mit wechselnden Ergebnissen. Nun werde sie von einigen Instituten auch für die Behandlung von Alzheimer-Patienten favorisiert, obwohl es noch schwerwiegende wissenschaftliche Mängel dieser Methode für die neue Anwendung gebe, aus der sich dann ebenso schwerwiegende ethische Probleme ergeben.

Mit den positiven Auswirkungen einer der oben angesprochenen Aktivitäten befasst sich Eckart Altenmüller, nämlich mit denen von Musizieren beziehungsweise Musikunterricht im Alter. Ausgehend von der Beobachtung, dass viele ältere Menschen musikalisch aktiv sind, in Form von Singen, Tanzen oder Instrumentalmusik, beschreibt der Autor die vielfältige Wirkung von Musizieren im Gehirn. Dabei werden nahezu alle Hirnareale beansprucht und diese miteinander vernetzt, zum Beispiel sensomotorische, auditive und visuelle Zentren mit dem limbischen System. Der Autor stellt anschaulich dar, wie die Effekte des "Gehirntrainings" auch hirnphysiologisch denen des sportlichen Trainings ähneln und weist nach, dass diese Neuroplastizität auch für Ältere gilt. Sogar als Reha-Maßnahme nach Schlaganfällen ist musikalisches Training sehr erfolgreich und beliebt. Da die Erforschung dieses Ansatzes noch sehr jung ist, endet der Aufsatz mit dringend empfohlenen Forschungsaufträgen rund um dieses Thema.

Annette Baudisch stellt von ihrem Fachgebiet, der Demografie, einen eindrucksvollen Zusammenhang her mit evolutionären Verläufen und Veränderungen. Neben Überlegungen über die Vergleichbarkeit von Alterungsprozessen bei den verschiedenen Lebensformen stellt sie die Diskurse der letzten 50 Jahre vor, die alle in der Unvermeidbarkeit des "Alterns" gipfelten. Durch die zunehmende Diskrepanz der Sichtweisen von Gerontologen und Biologen, besonders Botanikern, zeichnet sich für sie eine ganz neue Fragestellung ab: Unter welchen Bedingungen entstehen alternde Lebensformen und welche Bedingungen führen zur Evolution von nichtalternden Lebensformen? Dazu macht sie weitergehende Forschungsvorschläge zu einer Typologie des Alterns, mit der Betonung des Unterschieds von Alterung und Langlebigkeit.

In ganz anderem Sinn geht auch Rolf Oerter in seinem Beitrag von der Bedeutung der Evolution als Faktor des Alterns aus. Für ihn verbindet sich "Evolution" mit den Komponenten "Kultur" und "Ontogenese" zu einem Entwicklungsdreieck von sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren. Ausgehend von einigen evolutionären Fakten im Zusammenhang mit "Altern" kommt der Autor auf das "Spiel", das sich weit zurück in der Phylogenese nachweisen lasse. Für den Menschen sei "Spiel" als solches eine wertvolle Beschäftigung und gleichzeitig das Bindeglied zur Kultur, deren Möglichkeiten in vielen Facetten aufgezeigt werden. Was der Einzelne in seiner Ontogenese zu einem Alter als produktiver und innovativer Lebensphase beitragen müsse, sei die Selbstgestaltung. Dann könne er die vielfältigen Angebote dazu nutzen, eventuell sogar verbunden mit Engagement zu größerer politischer Einflussnahme.

Unter dem Titel "Forever young?" setzt sich Martina Schmidhuber mit Vor- und Nachteilen des Alters aus philosophischer Sicht auseinander. Neben einer Auswahl von Statements bekannter Philosophen und Philosophinnen, wie Arthur Schopenhauer oder Simone de Beauvoir, zum Alter(n) bezieht sich die Autorin schwerpunktmäßig auf Erik H. Erikson, eigentlich Psychoanalytiker, um dessen Gedanken zum gelingenden Alter wie lebenslanges Lernen, Humor und die Entwicklung einer ars senescendi (S. 136) darzulegen und mit gesellschaftlichen Ausblicken zu erweitern.

Eine vielschichtige philosophisch-humanistische Auseinandersetzung mit dem Altern führt Harald Seubert in seinem Aufsatz "Neugier und das gute Leben" durch. Als Ausgangspunkt wählt er das Hesse-Gedicht "Stufen" mit der Schlusszeile "Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!" und untersucht gemäß diesem Motto Möglichkeiten, wie so ein Gesundungs- und Lebensprogramm im Einzelnen aussehen könnte. Zunächst erläutert er aus Cicero gewonnene Stichworte wie "Haltung" und "Aufgabe", die "humanes Menschsein" (S. 141) immer sei, um die Möglichkeiten, die Neugierigbleiben in der letzte Lebensphase bietet, genauer zu beleuchten. Diese Neugierde wird als Elixier empfohlen, wobei der Schwerpunkt auf dem "aufklärerischen Element" derselben liegt. Nach einigen Gedankenexperimenten zu möglichen Anwendungen im Leben endet mit einem Carpe diem als Empfehlung auch für den "sogenannten dritten Lebensabschnitt" (S. 152) dieser anregende Aufsatz und der ganze Band.

"Ein weiterer Beitrag zur überbordenden Ratgeberliteratur war … nicht beabsichtigt" (S. 7), so schreibt Helmut Fink im Vorwort. Diesen Anspruch hält das Buch ein. Es lassen sich sicherlich viele gute Ratschläge daraus gewinnen, wenn man willens und in der Lage dazu ist, aber das Augenmerk liegt auf der Vermittlung von Hintergrundinformationen oder der Zusammenschau von Einzeldisziplinen und deren Ergebnissen. Wohltuend realistisch wirken auch die von einigen Autoren vorgebrachten und untermauerten Forderungen, dass die materielle Basis im Alter gesichert sein (oder werden) muss, um mit Verve den "dritten Lebensabschnitt" gestalten zu können.

Helmut Fink / Rainer Rosenzweig (Hrsg.), Was hält uns jung? Neuronale Perspektiven für den Umgang mit Neuem, ISBN 978-3-948787-01-1, Kortizes Verlag Nürnberg 2020, 165 S., 19,80 EUR

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" (A&K) Die Rezension erscheint im Heft 3/2020 im Juli.

Unterstützen Sie uns bei Steady!